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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Die zukünftigen Piirteien

fruchtbares Nörgeln ist, die ans keinem Gebiete schöpferische Gedanken ent¬
wickeln und ideale Ziele -- seien diese auch nur für Utopien vorhanden --
vorstellen kann? Eine solche Partei ist das größere Übel, beider wird dies
noch viel zu wenig erkannt; man läßt sich durch Aushängeschilder täuschen,
auf denen schöne Worte prangen, während die letzten Ziele verborgen sind.
Nun kämpft aber doch jedermann lieber mit einem offenen Feinde, der eine
deutlich erkennbare Stellung einnimmt, als mit einem Gegner, der nirgends
z" fassen ist und sich in heimlicher Minirarbeit zu verbergen liebt. Die
Zahl der offenen Feinde ist ohne Zweifel weniger gefährlich, als die Zahl
der versteckten. Die Folgerungen aus diesen Sätzen kann sich jeder leicht
selbst ziehen.

Bekämpfung der Sozialdemokratie, des offenen Gegners -- in diesem
Zeichen werden sich alle wahren Freunde des Reiches zusammenfinden.

Aber wie ist diese Bekämpfung zu fassen? Nicht in der hergebrachten
Weise. Diese hat sich als stumpf erwiesen. Neue Waffen müssen angeschafft
werden, und eine neue Führung muß auf den Plan treten. , Wer wird sich
unter diese Führung begeben? Nehmen wir eine kurze Musterung vor. Aber
spitzen wir zunächst das Problem noch einmal zu.

Wenn der vierte Stand seine berechtigten Forderungen unter fortgesetzter
Gegenwehr aller andern Mächte der Gesellschaft durchführen muß, so wird
die soziale Frage nur durch eine Katastrophe gelöst werden können. Oder
vielmehr nicht gelöst. Denn Katastrophen Pflegen die Entwicklung zu zerreißen.
Ob bei diesem Riß, den die Arbeiterrevolution der Welt bringt, die Welt im
allgemeinen und die Arbeiter im besondern einen Gewinn erhalten werden,
ist mindestens zweifelhaft. Sicher ist, daß die Arbeiterrevolution unsre Kultur
an den Rand des Abgrundes bringen würde. Daher sind alle nur denkbaren
Anstrengungen zu machen, die soziale Frage auf friedlichem Wege zu lösen.
Die Hoffnung dazu ist vorhanden, nachdem sich das Kaisertum der Sache mit
dem tiefsten Ernst und dem größten Eiser angenommen hat. Eine friedliche
Lösung steht in Aussicht, wenn eine Art von aristokratischem Radikalismus die
Frage aufnimmt, d. h. wenn die konservative Stnatsleitnng bis zu einem ge¬
wissen Grade radikal wird und die Sozialisten uns ihrem eignen Gebiete
aufsucht.

Werden nun diesem Zuge die einzelne"? Parteien, Stände und Berufs-
klassen folgen? Die eigentliche Aristokratie wird kaum sozial-radikal werden.
Alle Versuche, die vielleicht von einzelnen hervorragenden Mitgliedern gemacht
werden, die Masse ihrer Standesgenossen mit fortzureißen, dürften sich als
aussichtslos erweise". Ähnlich steht es mit dem geistlichen Stande. Wie sich
die Aristokratie gegen den Sozialismus wenden wird im Hinblick auf die zeit¬
lichen Güter, so wird die Geistlichkeit für die höhern Gitter eintreten, die sie
vom Sozialismus gefährdet glaubt und ihn bekämpfen, solange nicht die Über-


Die zukünftigen Piirteien

fruchtbares Nörgeln ist, die ans keinem Gebiete schöpferische Gedanken ent¬
wickeln und ideale Ziele — seien diese auch nur für Utopien vorhanden —
vorstellen kann? Eine solche Partei ist das größere Übel, beider wird dies
noch viel zu wenig erkannt; man läßt sich durch Aushängeschilder täuschen,
auf denen schöne Worte prangen, während die letzten Ziele verborgen sind.
Nun kämpft aber doch jedermann lieber mit einem offenen Feinde, der eine
deutlich erkennbare Stellung einnimmt, als mit einem Gegner, der nirgends
z» fassen ist und sich in heimlicher Minirarbeit zu verbergen liebt. Die
Zahl der offenen Feinde ist ohne Zweifel weniger gefährlich, als die Zahl
der versteckten. Die Folgerungen aus diesen Sätzen kann sich jeder leicht
selbst ziehen.

Bekämpfung der Sozialdemokratie, des offenen Gegners — in diesem
Zeichen werden sich alle wahren Freunde des Reiches zusammenfinden.

Aber wie ist diese Bekämpfung zu fassen? Nicht in der hergebrachten
Weise. Diese hat sich als stumpf erwiesen. Neue Waffen müssen angeschafft
werden, und eine neue Führung muß auf den Plan treten. , Wer wird sich
unter diese Führung begeben? Nehmen wir eine kurze Musterung vor. Aber
spitzen wir zunächst das Problem noch einmal zu.

Wenn der vierte Stand seine berechtigten Forderungen unter fortgesetzter
Gegenwehr aller andern Mächte der Gesellschaft durchführen muß, so wird
die soziale Frage nur durch eine Katastrophe gelöst werden können. Oder
vielmehr nicht gelöst. Denn Katastrophen Pflegen die Entwicklung zu zerreißen.
Ob bei diesem Riß, den die Arbeiterrevolution der Welt bringt, die Welt im
allgemeinen und die Arbeiter im besondern einen Gewinn erhalten werden,
ist mindestens zweifelhaft. Sicher ist, daß die Arbeiterrevolution unsre Kultur
an den Rand des Abgrundes bringen würde. Daher sind alle nur denkbaren
Anstrengungen zu machen, die soziale Frage auf friedlichem Wege zu lösen.
Die Hoffnung dazu ist vorhanden, nachdem sich das Kaisertum der Sache mit
dem tiefsten Ernst und dem größten Eiser angenommen hat. Eine friedliche
Lösung steht in Aussicht, wenn eine Art von aristokratischem Radikalismus die
Frage aufnimmt, d. h. wenn die konservative Stnatsleitnng bis zu einem ge¬
wissen Grade radikal wird und die Sozialisten uns ihrem eignen Gebiete
aufsucht.

Werden nun diesem Zuge die einzelne»? Parteien, Stände und Berufs-
klassen folgen? Die eigentliche Aristokratie wird kaum sozial-radikal werden.
Alle Versuche, die vielleicht von einzelnen hervorragenden Mitgliedern gemacht
werden, die Masse ihrer Standesgenossen mit fortzureißen, dürften sich als
aussichtslos erweise«. Ähnlich steht es mit dem geistlichen Stande. Wie sich
die Aristokratie gegen den Sozialismus wenden wird im Hinblick auf die zeit¬
lichen Güter, so wird die Geistlichkeit für die höhern Gitter eintreten, die sie
vom Sozialismus gefährdet glaubt und ihn bekämpfen, solange nicht die Über-


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[0597] Die zukünftigen Piirteien fruchtbares Nörgeln ist, die ans keinem Gebiete schöpferische Gedanken ent¬ wickeln und ideale Ziele — seien diese auch nur für Utopien vorhanden — vorstellen kann? Eine solche Partei ist das größere Übel, beider wird dies noch viel zu wenig erkannt; man läßt sich durch Aushängeschilder täuschen, auf denen schöne Worte prangen, während die letzten Ziele verborgen sind. Nun kämpft aber doch jedermann lieber mit einem offenen Feinde, der eine deutlich erkennbare Stellung einnimmt, als mit einem Gegner, der nirgends z» fassen ist und sich in heimlicher Minirarbeit zu verbergen liebt. Die Zahl der offenen Feinde ist ohne Zweifel weniger gefährlich, als die Zahl der versteckten. Die Folgerungen aus diesen Sätzen kann sich jeder leicht selbst ziehen. Bekämpfung der Sozialdemokratie, des offenen Gegners — in diesem Zeichen werden sich alle wahren Freunde des Reiches zusammenfinden. Aber wie ist diese Bekämpfung zu fassen? Nicht in der hergebrachten Weise. Diese hat sich als stumpf erwiesen. Neue Waffen müssen angeschafft werden, und eine neue Führung muß auf den Plan treten. , Wer wird sich unter diese Führung begeben? Nehmen wir eine kurze Musterung vor. Aber spitzen wir zunächst das Problem noch einmal zu. Wenn der vierte Stand seine berechtigten Forderungen unter fortgesetzter Gegenwehr aller andern Mächte der Gesellschaft durchführen muß, so wird die soziale Frage nur durch eine Katastrophe gelöst werden können. Oder vielmehr nicht gelöst. Denn Katastrophen Pflegen die Entwicklung zu zerreißen. Ob bei diesem Riß, den die Arbeiterrevolution der Welt bringt, die Welt im allgemeinen und die Arbeiter im besondern einen Gewinn erhalten werden, ist mindestens zweifelhaft. Sicher ist, daß die Arbeiterrevolution unsre Kultur an den Rand des Abgrundes bringen würde. Daher sind alle nur denkbaren Anstrengungen zu machen, die soziale Frage auf friedlichem Wege zu lösen. Die Hoffnung dazu ist vorhanden, nachdem sich das Kaisertum der Sache mit dem tiefsten Ernst und dem größten Eiser angenommen hat. Eine friedliche Lösung steht in Aussicht, wenn eine Art von aristokratischem Radikalismus die Frage aufnimmt, d. h. wenn die konservative Stnatsleitnng bis zu einem ge¬ wissen Grade radikal wird und die Sozialisten uns ihrem eignen Gebiete aufsucht. Werden nun diesem Zuge die einzelne»? Parteien, Stände und Berufs- klassen folgen? Die eigentliche Aristokratie wird kaum sozial-radikal werden. Alle Versuche, die vielleicht von einzelnen hervorragenden Mitgliedern gemacht werden, die Masse ihrer Standesgenossen mit fortzureißen, dürften sich als aussichtslos erweise«. Ähnlich steht es mit dem geistlichen Stande. Wie sich die Aristokratie gegen den Sozialismus wenden wird im Hinblick auf die zeit¬ lichen Güter, so wird die Geistlichkeit für die höhern Gitter eintreten, die sie vom Sozialismus gefährdet glaubt und ihn bekämpfen, solange nicht die Über-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/597>, abgerufen am 25.08.2024.