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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Die zukünftigen Parteien

Verhältnisse erblickt. Allerdings ein weiter, fast unendlicher Ausblick in die
Zukunft. Denn so schnell, wie sichs der achtundvierziger Demokrat dachte, der
in einer Abendversammlung zu seinen Freunden sagte: "Nun kommen wir zum
letzten Gegenstand, zur sozialen Frage, und diese Frage müssen wir lösen, und
wenn wir bis morgen früh zusammen bleiben müßten!" so schnell wird sich
die Sache kaum erledigen lassen. Aber daran denkt im Ernst auch niemand.
Die Hauptsache ist und bleibt, daß in dein gegenwärtigen Zeitpunkte die Be¬
wegung in friedliche Bahnen geleitet werde, daß die Sozialdemokratie dahin
gedrängt werde, in ihrer Mitte die sozialdemagogischen von den sozialdemo¬
kratischen Elementen scharf zu scheiden.

Mit dieser Sonderung wäre schon viel gewonnen. Denn die sozial¬
demagogischen Elemente zu versöhnen dürfte ein vergebliches Bemühen sein,
da ihnen jedes sittliche Gefühl abhanden gekommen ist und sie nur von
der einen Idee beherrscht werden, bei dein tumultuarischen Umsturz der
jetzigen Verhältnisse sich gehörig auszutoben und schließlich gehörig zu ge¬
winnen. Je roher und ehnischer die Anhänger dieses Gedankens sind, um so
fanatischer verfolgen sie ihn. Ans solche demagogischen Elemente bezieht sich
wohl der neueste Ausspruch des Kaisers, daß er mit ihnen schon fertig werden,
daß er sie "zerschmettern" werde. Mit derartigen Elementen sich auf eine
sachliche Anseiiinndersetzung einzulassen, wäre nicht klüger, als Buchstaben ins
Wasser schreiben.

Aber ohne Zweifel giebt es in der Sozialdemokratie Elemente genng,
die für eine gemeinsame Arbeit auf dem Wege friedlicher Entwicklung zu ge¬
winnen sind. Deshalb sehen wir dein Anwachsen der Partei im Reichs¬
tage beinahe mit innerer Befriedigung zu. Denn jeder sozialdemokratische
Führer, der an der Gesetzgebung und der Lösung der sozialen Fragen
im Reichstage teilnimmt, verliert mit der steigenden Teilnahme an den
Geschicken des Reiches an Gefährlichkeit. Wird sich ihm doch auf Schritt und
Tritt das Grundgesetz der menschlichen Gesellschaft aufdrängen, daß eine fried¬
liche Lösung sozialer Fragen ohne die innere Durchdringung mit sittlichen
Forderungen ein Ding der Unmöglichkeit ist. Ohne Zweifel ist von den
Gründern und Führern der sozialen Bewegung die ethische Seite vernach¬
lässigt und dadurch die ganze Bewegung in eine durchaus einseitige und darum
falsche Richtung gedrängt worden. Man wollte eben nur die materielle Wohl¬
fahrt der arbeitenden Klassen zu möglichster Höhe heben, selbst unter Preis¬
gebung der idealen Gitter, ohne die doch die menschliche Gesellschaft, als
ethischer Organismus gedacht, überhaupt nicht bestehen kann. Diese Über¬
schätzung der materiellen und diese llnterschätzuug aller idealen Güter bildete
bisher das Gepräge der sozialdemokratischeii Richtung. Dieses Mißverhältnis
zu beseitigen muß der Anstrengung der höher denkenden Mitglieder der Partei
und der tiefer blickenden Freunde der sozialen Frage überlassen bleiben.


Die zukünftigen Parteien

Verhältnisse erblickt. Allerdings ein weiter, fast unendlicher Ausblick in die
Zukunft. Denn so schnell, wie sichs der achtundvierziger Demokrat dachte, der
in einer Abendversammlung zu seinen Freunden sagte: „Nun kommen wir zum
letzten Gegenstand, zur sozialen Frage, und diese Frage müssen wir lösen, und
wenn wir bis morgen früh zusammen bleiben müßten!" so schnell wird sich
die Sache kaum erledigen lassen. Aber daran denkt im Ernst auch niemand.
Die Hauptsache ist und bleibt, daß in dein gegenwärtigen Zeitpunkte die Be¬
wegung in friedliche Bahnen geleitet werde, daß die Sozialdemokratie dahin
gedrängt werde, in ihrer Mitte die sozialdemagogischen von den sozialdemo¬
kratischen Elementen scharf zu scheiden.

Mit dieser Sonderung wäre schon viel gewonnen. Denn die sozial¬
demagogischen Elemente zu versöhnen dürfte ein vergebliches Bemühen sein,
da ihnen jedes sittliche Gefühl abhanden gekommen ist und sie nur von
der einen Idee beherrscht werden, bei dein tumultuarischen Umsturz der
jetzigen Verhältnisse sich gehörig auszutoben und schließlich gehörig zu ge¬
winnen. Je roher und ehnischer die Anhänger dieses Gedankens sind, um so
fanatischer verfolgen sie ihn. Ans solche demagogischen Elemente bezieht sich
wohl der neueste Ausspruch des Kaisers, daß er mit ihnen schon fertig werden,
daß er sie „zerschmettern" werde. Mit derartigen Elementen sich auf eine
sachliche Anseiiinndersetzung einzulassen, wäre nicht klüger, als Buchstaben ins
Wasser schreiben.

Aber ohne Zweifel giebt es in der Sozialdemokratie Elemente genng,
die für eine gemeinsame Arbeit auf dem Wege friedlicher Entwicklung zu ge¬
winnen sind. Deshalb sehen wir dein Anwachsen der Partei im Reichs¬
tage beinahe mit innerer Befriedigung zu. Denn jeder sozialdemokratische
Führer, der an der Gesetzgebung und der Lösung der sozialen Fragen
im Reichstage teilnimmt, verliert mit der steigenden Teilnahme an den
Geschicken des Reiches an Gefährlichkeit. Wird sich ihm doch auf Schritt und
Tritt das Grundgesetz der menschlichen Gesellschaft aufdrängen, daß eine fried¬
liche Lösung sozialer Fragen ohne die innere Durchdringung mit sittlichen
Forderungen ein Ding der Unmöglichkeit ist. Ohne Zweifel ist von den
Gründern und Führern der sozialen Bewegung die ethische Seite vernach¬
lässigt und dadurch die ganze Bewegung in eine durchaus einseitige und darum
falsche Richtung gedrängt worden. Man wollte eben nur die materielle Wohl¬
fahrt der arbeitenden Klassen zu möglichster Höhe heben, selbst unter Preis¬
gebung der idealen Gitter, ohne die doch die menschliche Gesellschaft, als
ethischer Organismus gedacht, überhaupt nicht bestehen kann. Diese Über¬
schätzung der materiellen und diese llnterschätzuug aller idealen Güter bildete
bisher das Gepräge der sozialdemokratischeii Richtung. Dieses Mißverhältnis
zu beseitigen muß der Anstrengung der höher denkenden Mitglieder der Partei
und der tiefer blickenden Freunde der sozialen Frage überlassen bleiben.


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[0595] Die zukünftigen Parteien Verhältnisse erblickt. Allerdings ein weiter, fast unendlicher Ausblick in die Zukunft. Denn so schnell, wie sichs der achtundvierziger Demokrat dachte, der in einer Abendversammlung zu seinen Freunden sagte: „Nun kommen wir zum letzten Gegenstand, zur sozialen Frage, und diese Frage müssen wir lösen, und wenn wir bis morgen früh zusammen bleiben müßten!" so schnell wird sich die Sache kaum erledigen lassen. Aber daran denkt im Ernst auch niemand. Die Hauptsache ist und bleibt, daß in dein gegenwärtigen Zeitpunkte die Be¬ wegung in friedliche Bahnen geleitet werde, daß die Sozialdemokratie dahin gedrängt werde, in ihrer Mitte die sozialdemagogischen von den sozialdemo¬ kratischen Elementen scharf zu scheiden. Mit dieser Sonderung wäre schon viel gewonnen. Denn die sozial¬ demagogischen Elemente zu versöhnen dürfte ein vergebliches Bemühen sein, da ihnen jedes sittliche Gefühl abhanden gekommen ist und sie nur von der einen Idee beherrscht werden, bei dein tumultuarischen Umsturz der jetzigen Verhältnisse sich gehörig auszutoben und schließlich gehörig zu ge¬ winnen. Je roher und ehnischer die Anhänger dieses Gedankens sind, um so fanatischer verfolgen sie ihn. Ans solche demagogischen Elemente bezieht sich wohl der neueste Ausspruch des Kaisers, daß er mit ihnen schon fertig werden, daß er sie „zerschmettern" werde. Mit derartigen Elementen sich auf eine sachliche Anseiiinndersetzung einzulassen, wäre nicht klüger, als Buchstaben ins Wasser schreiben. Aber ohne Zweifel giebt es in der Sozialdemokratie Elemente genng, die für eine gemeinsame Arbeit auf dem Wege friedlicher Entwicklung zu ge¬ winnen sind. Deshalb sehen wir dein Anwachsen der Partei im Reichs¬ tage beinahe mit innerer Befriedigung zu. Denn jeder sozialdemokratische Führer, der an der Gesetzgebung und der Lösung der sozialen Fragen im Reichstage teilnimmt, verliert mit der steigenden Teilnahme an den Geschicken des Reiches an Gefährlichkeit. Wird sich ihm doch auf Schritt und Tritt das Grundgesetz der menschlichen Gesellschaft aufdrängen, daß eine fried¬ liche Lösung sozialer Fragen ohne die innere Durchdringung mit sittlichen Forderungen ein Ding der Unmöglichkeit ist. Ohne Zweifel ist von den Gründern und Führern der sozialen Bewegung die ethische Seite vernach¬ lässigt und dadurch die ganze Bewegung in eine durchaus einseitige und darum falsche Richtung gedrängt worden. Man wollte eben nur die materielle Wohl¬ fahrt der arbeitenden Klassen zu möglichster Höhe heben, selbst unter Preis¬ gebung der idealen Gitter, ohne die doch die menschliche Gesellschaft, als ethischer Organismus gedacht, überhaupt nicht bestehen kann. Diese Über¬ schätzung der materiellen und diese llnterschätzuug aller idealen Güter bildete bisher das Gepräge der sozialdemokratischeii Richtung. Dieses Mißverhältnis zu beseitigen muß der Anstrengung der höher denkenden Mitglieder der Partei und der tiefer blickenden Freunde der sozialen Frage überlassen bleiben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/595>, abgerufen am 25.08.2024.