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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Neue Romane

beginnt mit der Ausquartierung und Übersiedlung dreier Menschen, Der
Student Paul Warnefried Kohl, dessen Vater ein scholastischer Germanist war
und sich gar nicht aufs Erwerben verstand, muß nach dem Tode seiner Mutter
den gesamten Hausrat seiner Eltern versteigern lassen, um ihre Schulden zu
bezahlen. Warnefried ist sein Lebtag ein kleiner Taugenichts gewesen, in der
Schule hatte er seinen Platz immer ans der letzten Bank; aber sein Lebtag
war er auch ein Witzemacher, und dieser Humor ist sein einziges Kapital.
Man muß ihn trotz all seiner Nichtsnutzigkeit lieb haben. Nun steht er mutter¬
seelenallein, ohne einen Knopf in der Tasche da und weiß zunächst nicht, wo
er unterkriechen soll. Natürlich ist es zum Überfluß noch ein Regentag. Es
regnet überhaupt viel in der Geschichte. Da in der höchsten Not bringt ihm
der Briefträger einen Geldbrief mit vollen sechs Mark. Woher? Aus der
Redaktion der "Fliegenden Blätter" als Honorar für deu ältesten Meidinger
des Jahrhunderts und mit der ehrenden Einladung, weiter mitzuarbeiten. Ju
Ermangelung eines Trinkgeldes versetzt Kohl dem alten Briefträger einige
Küsse, und in der Begeisterung gönnt er sich mit einem ähnlichen Freunde,
dem bummligen Maler Vvgislaus Blech, ein ausgiebiges Abendessen, wofür
ihm dieser Unterkunft gewährt. Zu derselben Zeit haben auch zwei alte Freunde
Kohls die Wohnung gewechselt: der Kreisticrarzt a. D. Franz de Paula
Schnarrwergk und Fräulein Rosine Müller, Klavierlehrerin. Schnarrwergk
hat mit seinem wunderlichen Hausrat, in dem ein ausgestopfter Meuscheuahn,
ein Pithekus, ein Affe, als Lar und Hausgott die hervorragendste Rolle spielt,
bei dem strömenden Regen große Beschwerde. Kohl hilft ihm dabei. Zufällig
ziehen das Fräulein und der Tierarzt in dasselbe Haus und werden Nachbarn,
Thür an Thür. Daraus entwickelt sich um die kleine Geschichte, die natürlich
mit der Ehe Kohls und Nosinchens endigt. Schnarrwergk gehört in die Reihe
der Originale derbster Sorte: schnauzig, stachelig nach außen und seelengut von
innen. Mit Rosincheu knüpft er, nachdem er sie auf eine schwere Probe ge¬
stellt hat, die innigste Freundschaft an; die Probe besteht darin, daß er sie bei
niederträchtigen Regen auf einen Spaziergang auf das durch und durch er¬
weichte Land mitnimmt; sie hält aus, sie brummt nicht, bleibt heiter, durch¬
schaut den Grobian in seiner Gefühlsweichheit, und er belohnt sie dafür mit
seiner väterlichen Liebe. Der nichtsnutzige Humorist .Kohl macht schließlich
seinen Doktor, aber keine Staatsprüfung und wird -- Zeitungsschreiber,
Lokalreporter, Meister in der kunstvollen Darstellung der neuesten Selbst- und
Raubmordgeschichten. Mit köstlicher Satire hat Raabe bei dieser Gelegenheit
das Zeitungswesen beleuchtet. Der Maler Blech wird schließlich Photograph
und zwar eine "Spezialität in Leichenphvtographien."

Das Eigenartigste an dieser ganzen Oster-, Pfingsten-, Weihnachts- und
Neujahrsgeschichte ist die Darstellung. Ein reicher Geist offenbart sich auf
jeder Seite, innig empfunden sind alle Stimmungen, meisterhaft ist z. B. jener


Neue Romane

beginnt mit der Ausquartierung und Übersiedlung dreier Menschen, Der
Student Paul Warnefried Kohl, dessen Vater ein scholastischer Germanist war
und sich gar nicht aufs Erwerben verstand, muß nach dem Tode seiner Mutter
den gesamten Hausrat seiner Eltern versteigern lassen, um ihre Schulden zu
bezahlen. Warnefried ist sein Lebtag ein kleiner Taugenichts gewesen, in der
Schule hatte er seinen Platz immer ans der letzten Bank; aber sein Lebtag
war er auch ein Witzemacher, und dieser Humor ist sein einziges Kapital.
Man muß ihn trotz all seiner Nichtsnutzigkeit lieb haben. Nun steht er mutter¬
seelenallein, ohne einen Knopf in der Tasche da und weiß zunächst nicht, wo
er unterkriechen soll. Natürlich ist es zum Überfluß noch ein Regentag. Es
regnet überhaupt viel in der Geschichte. Da in der höchsten Not bringt ihm
der Briefträger einen Geldbrief mit vollen sechs Mark. Woher? Aus der
Redaktion der „Fliegenden Blätter" als Honorar für deu ältesten Meidinger
des Jahrhunderts und mit der ehrenden Einladung, weiter mitzuarbeiten. Ju
Ermangelung eines Trinkgeldes versetzt Kohl dem alten Briefträger einige
Küsse, und in der Begeisterung gönnt er sich mit einem ähnlichen Freunde,
dem bummligen Maler Vvgislaus Blech, ein ausgiebiges Abendessen, wofür
ihm dieser Unterkunft gewährt. Zu derselben Zeit haben auch zwei alte Freunde
Kohls die Wohnung gewechselt: der Kreisticrarzt a. D. Franz de Paula
Schnarrwergk und Fräulein Rosine Müller, Klavierlehrerin. Schnarrwergk
hat mit seinem wunderlichen Hausrat, in dem ein ausgestopfter Meuscheuahn,
ein Pithekus, ein Affe, als Lar und Hausgott die hervorragendste Rolle spielt,
bei dem strömenden Regen große Beschwerde. Kohl hilft ihm dabei. Zufällig
ziehen das Fräulein und der Tierarzt in dasselbe Haus und werden Nachbarn,
Thür an Thür. Daraus entwickelt sich um die kleine Geschichte, die natürlich
mit der Ehe Kohls und Nosinchens endigt. Schnarrwergk gehört in die Reihe
der Originale derbster Sorte: schnauzig, stachelig nach außen und seelengut von
innen. Mit Rosincheu knüpft er, nachdem er sie auf eine schwere Probe ge¬
stellt hat, die innigste Freundschaft an; die Probe besteht darin, daß er sie bei
niederträchtigen Regen auf einen Spaziergang auf das durch und durch er¬
weichte Land mitnimmt; sie hält aus, sie brummt nicht, bleibt heiter, durch¬
schaut den Grobian in seiner Gefühlsweichheit, und er belohnt sie dafür mit
seiner väterlichen Liebe. Der nichtsnutzige Humorist .Kohl macht schließlich
seinen Doktor, aber keine Staatsprüfung und wird — Zeitungsschreiber,
Lokalreporter, Meister in der kunstvollen Darstellung der neuesten Selbst- und
Raubmordgeschichten. Mit köstlicher Satire hat Raabe bei dieser Gelegenheit
das Zeitungswesen beleuchtet. Der Maler Blech wird schließlich Photograph
und zwar eine „Spezialität in Leichenphvtographien."

Das Eigenartigste an dieser ganzen Oster-, Pfingsten-, Weihnachts- und
Neujahrsgeschichte ist die Darstellung. Ein reicher Geist offenbart sich auf
jeder Seite, innig empfunden sind alle Stimmungen, meisterhaft ist z. B. jener


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[0566] Neue Romane beginnt mit der Ausquartierung und Übersiedlung dreier Menschen, Der Student Paul Warnefried Kohl, dessen Vater ein scholastischer Germanist war und sich gar nicht aufs Erwerben verstand, muß nach dem Tode seiner Mutter den gesamten Hausrat seiner Eltern versteigern lassen, um ihre Schulden zu bezahlen. Warnefried ist sein Lebtag ein kleiner Taugenichts gewesen, in der Schule hatte er seinen Platz immer ans der letzten Bank; aber sein Lebtag war er auch ein Witzemacher, und dieser Humor ist sein einziges Kapital. Man muß ihn trotz all seiner Nichtsnutzigkeit lieb haben. Nun steht er mutter¬ seelenallein, ohne einen Knopf in der Tasche da und weiß zunächst nicht, wo er unterkriechen soll. Natürlich ist es zum Überfluß noch ein Regentag. Es regnet überhaupt viel in der Geschichte. Da in der höchsten Not bringt ihm der Briefträger einen Geldbrief mit vollen sechs Mark. Woher? Aus der Redaktion der „Fliegenden Blätter" als Honorar für deu ältesten Meidinger des Jahrhunderts und mit der ehrenden Einladung, weiter mitzuarbeiten. Ju Ermangelung eines Trinkgeldes versetzt Kohl dem alten Briefträger einige Küsse, und in der Begeisterung gönnt er sich mit einem ähnlichen Freunde, dem bummligen Maler Vvgislaus Blech, ein ausgiebiges Abendessen, wofür ihm dieser Unterkunft gewährt. Zu derselben Zeit haben auch zwei alte Freunde Kohls die Wohnung gewechselt: der Kreisticrarzt a. D. Franz de Paula Schnarrwergk und Fräulein Rosine Müller, Klavierlehrerin. Schnarrwergk hat mit seinem wunderlichen Hausrat, in dem ein ausgestopfter Meuscheuahn, ein Pithekus, ein Affe, als Lar und Hausgott die hervorragendste Rolle spielt, bei dem strömenden Regen große Beschwerde. Kohl hilft ihm dabei. Zufällig ziehen das Fräulein und der Tierarzt in dasselbe Haus und werden Nachbarn, Thür an Thür. Daraus entwickelt sich um die kleine Geschichte, die natürlich mit der Ehe Kohls und Nosinchens endigt. Schnarrwergk gehört in die Reihe der Originale derbster Sorte: schnauzig, stachelig nach außen und seelengut von innen. Mit Rosincheu knüpft er, nachdem er sie auf eine schwere Probe ge¬ stellt hat, die innigste Freundschaft an; die Probe besteht darin, daß er sie bei niederträchtigen Regen auf einen Spaziergang auf das durch und durch er¬ weichte Land mitnimmt; sie hält aus, sie brummt nicht, bleibt heiter, durch¬ schaut den Grobian in seiner Gefühlsweichheit, und er belohnt sie dafür mit seiner väterlichen Liebe. Der nichtsnutzige Humorist .Kohl macht schließlich seinen Doktor, aber keine Staatsprüfung und wird — Zeitungsschreiber, Lokalreporter, Meister in der kunstvollen Darstellung der neuesten Selbst- und Raubmordgeschichten. Mit köstlicher Satire hat Raabe bei dieser Gelegenheit das Zeitungswesen beleuchtet. Der Maler Blech wird schließlich Photograph und zwar eine „Spezialität in Leichenphvtographien." Das Eigenartigste an dieser ganzen Oster-, Pfingsten-, Weihnachts- und Neujahrsgeschichte ist die Darstellung. Ein reicher Geist offenbart sich auf jeder Seite, innig empfunden sind alle Stimmungen, meisterhaft ist z. B. jener

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/566>, abgerufen am 23.07.2024.