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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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zählers bei dieser Vertraulichkeit uut dem Leser hervor, der in die Mache
der Erzählung Einblick gewinnen und jede Illusion verlieren soll: eine roman¬
tische Neigung, von der Raabe anch bis auf den heutigen Tag nicht hat lassen
können. Im ganzen ist aber sein übrigens sparsamer Humor in "Unsers
Herrgott? Kanzlei" noch immer objektiv, und kaum irgendwo dürfte sich Naabes
ursprüngliche, echt künstlerische Gestaltungskraft so mächtig offenbart haben,
wie in dieser geschichtlichen Erzählung.

Der andre Fehler, den sie zeigt und der auch nicht von ihm überwunden
worden ist, ist die Neigung, seine Gestalten ellenlange Reden halten zu lassen.
Wie diese langen Reden die Erzählung aufbauschen, die Geduld des Lesers
auf harte Proben stellen, haben wir zu unserm Schrecken in dem zweiten
Werke "Die Leute aus dem Walde" erfahren. Die Charakteristik poetischer
Figuren durch solche Reden gehört wohl zu den allerschwüchsten Kunstmitteln
eines Erzählers. Zur Not kann dieses Mittel, wenn es sparsam verwendet wird,
von Wirkung sein; einzelne Menschen haben ja in der That eine Leidenschaft
zu sprechen. Unser Dichter aber scheint der Meinung zu sein, daß es eine
Eigentümlichkeit aller Menschen sei, recht breit und mit mehr oder weniger
Witz sich zu expektoriren, und das will uns doch als eine sehr irrige Mei¬
nung erscheine". In Wahrheit kann auch der Erzähler sowie der Dramatiker
Menschen nur durch ihre Handlungen charakterisieren; soll ihre Rede poetischen
Wert haben, so muß sie naiv erscheinen, vom Dichter ihnen ohne ihr Wissen
abgelauscht. Daun macheu seine Gestalten den Eindruck der Lebendigkeit,
wirken poetisch und erscheinen als Naturen. Die Manier Naabes dagegen
droht die Erzählung in einen in verschiednen Masken gehaltenen Monolog
des Erzählers selbst umzuwandeln.

Freilich hängt dieser Fehler mit der eigentümlichsten Eigenschaft von
Naabes Dichternatur zusammen. Raabe hat das Bedürfnis, sich jede einzelne
Thatsache von allen möglichen Seiten zu beschauen, sie im Zufauuuenhaug mit
seiner gesamten Weltanschauung, mit all seinem geistigen Besitz zu betrachten.
Er ist der äußerste Gegensatz der Naivität, die er doch, wenn er ihr begegnet,
so innig liebt. Für Raabe gewinnen die Thatsachen nur dann Wert, wenn
er aus ihnen recht viel Gedanken saugen kann; denn nur das Denken ist diesem
tief in sich selbst vergrabenen Geiste, der seinem eignen sinnlichen Dasein fremd
zusieht,'") das wahre Dasein, der einzige Genuß, und von diesem Standpunkte



Höchst bezeichnend für Raabe ist darum das Anpreisen folgender Weisheit in den
"Leuten aus dem Walde": "Der Sternseher zog das Encheiridiou des Epiktet aus der Tasche,
blätterte drin und paraphrasirte dann dem Kranken das dreimldzwanzigste Stück-, "Bedenke
immer, das Leben sei dir gegeben, wie dem Schauspieler eine Rolle im Drama vom Dichter
gegeben wird. Spiele sie ab, wie sie der große Poet geschaffen hat -- kurz, wenn sie kurz,
lang, wenn sie lang ist. Wenn dir die Rolle eines Bettlers gegeben ist, so ngire sie, so
trefflich du irgend vermagst"" u. s. w.

zählers bei dieser Vertraulichkeit uut dem Leser hervor, der in die Mache
der Erzählung Einblick gewinnen und jede Illusion verlieren soll: eine roman¬
tische Neigung, von der Raabe anch bis auf den heutigen Tag nicht hat lassen
können. Im ganzen ist aber sein übrigens sparsamer Humor in „Unsers
Herrgott? Kanzlei" noch immer objektiv, und kaum irgendwo dürfte sich Naabes
ursprüngliche, echt künstlerische Gestaltungskraft so mächtig offenbart haben,
wie in dieser geschichtlichen Erzählung.

Der andre Fehler, den sie zeigt und der auch nicht von ihm überwunden
worden ist, ist die Neigung, seine Gestalten ellenlange Reden halten zu lassen.
Wie diese langen Reden die Erzählung aufbauschen, die Geduld des Lesers
auf harte Proben stellen, haben wir zu unserm Schrecken in dem zweiten
Werke „Die Leute aus dem Walde" erfahren. Die Charakteristik poetischer
Figuren durch solche Reden gehört wohl zu den allerschwüchsten Kunstmitteln
eines Erzählers. Zur Not kann dieses Mittel, wenn es sparsam verwendet wird,
von Wirkung sein; einzelne Menschen haben ja in der That eine Leidenschaft
zu sprechen. Unser Dichter aber scheint der Meinung zu sein, daß es eine
Eigentümlichkeit aller Menschen sei, recht breit und mit mehr oder weniger
Witz sich zu expektoriren, und das will uns doch als eine sehr irrige Mei¬
nung erscheine«. In Wahrheit kann auch der Erzähler sowie der Dramatiker
Menschen nur durch ihre Handlungen charakterisieren; soll ihre Rede poetischen
Wert haben, so muß sie naiv erscheinen, vom Dichter ihnen ohne ihr Wissen
abgelauscht. Daun macheu seine Gestalten den Eindruck der Lebendigkeit,
wirken poetisch und erscheinen als Naturen. Die Manier Naabes dagegen
droht die Erzählung in einen in verschiednen Masken gehaltenen Monolog
des Erzählers selbst umzuwandeln.

Freilich hängt dieser Fehler mit der eigentümlichsten Eigenschaft von
Naabes Dichternatur zusammen. Raabe hat das Bedürfnis, sich jede einzelne
Thatsache von allen möglichen Seiten zu beschauen, sie im Zufauuuenhaug mit
seiner gesamten Weltanschauung, mit all seinem geistigen Besitz zu betrachten.
Er ist der äußerste Gegensatz der Naivität, die er doch, wenn er ihr begegnet,
so innig liebt. Für Raabe gewinnen die Thatsachen nur dann Wert, wenn
er aus ihnen recht viel Gedanken saugen kann; denn nur das Denken ist diesem
tief in sich selbst vergrabenen Geiste, der seinem eignen sinnlichen Dasein fremd
zusieht,'") das wahre Dasein, der einzige Genuß, und von diesem Standpunkte



Höchst bezeichnend für Raabe ist darum das Anpreisen folgender Weisheit in den
„Leuten aus dem Walde": „Der Sternseher zog das Encheiridiou des Epiktet aus der Tasche,
blätterte drin und paraphrasirte dann dem Kranken das dreimldzwanzigste Stück-, »Bedenke
immer, das Leben sei dir gegeben, wie dem Schauspieler eine Rolle im Drama vom Dichter
gegeben wird. Spiele sie ab, wie sie der große Poet geschaffen hat — kurz, wenn sie kurz,
lang, wenn sie lang ist. Wenn dir die Rolle eines Bettlers gegeben ist, so ngire sie, so
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/563>, abgerufen am 23.07.2024.