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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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den Egoismus aus der Welt Schaffell könne, er hat ihn immer nur veredeln
und von seinen schädlichen Wirkungen befreien Molken. Veredelt Mird der
Egoismus durch die Vernunft, d. h. durch die Einsicht, daß er seine Rechnung
am besten findet, wenn er sich an die andern anschließt. Diese Ansicht bringt
freilich der Einzelne als solcher nicht mit, sondern sie wird ihm erst durch
die Erfahrung gelehrt, aus der der Staat handelt. Seine Rechnung würde
aber die starke Persönlichkeit im Anschluß an den Staat nicht finden, wenn
dieser ein Prokrustesbett für sie, wenn sie durch ihn in spanische Stiefel ein¬
geschnürt würde. Das letzte Ziel des Staates ist daher, wie gesagt, den
Starken und den Schwachen in den Stand zu setzen, sein Dasein nach seiner
verschiednen Kraft in Ruhe und Frieden geltend zu machen. Er wird zwar
den Schwachen vor Unterdrückung schützen, ihn aber gewiß nicht zur Herrschaft
berufen, sondern der Macht des Starken, gerade im Interesse der zahllosen
Schwachen, von jener Schutzgrenze ab unbedingten Spielraum gewähren.
(Unter Stärke und Schwäche verstehe ich natürlich die, die der Mensch un¬
mittelbar von der Natur, nicht die, die er von den zufälligen gesellschaftlichen
Zusammenhängen, dem Zufall der Geburt u. f. w. hat.) Wenn wir uns den
Staat vollendet denken, so werden alle Menschen an ihrem Platze in unend¬
licher Mannichfaltigkeit der Gesamtheit dienen, die Schwachen, die von Natur
die weit überwiegende Mehrheit bilden, den niedern, die Minderheit der starken
den höhern Interessen. Sie werden der Gesamtheit dienen und zugleich sich
selbst; die Starken werden in der Herrschaft, die Schwachen gerade durch diese
Herrschaft befriedigenden Spielraum für ihre Natur finden. Im vollendeten
Staate würde der Egoismus zu seiner segensreichen Entfaltung gelangt, nämlich
zum Egoismus der Vernunft geworden sein. Man könnte auch sagen, der
Egoismus (der tierische, unvernünftige) würde durch den Egoismus (deu sitt¬
lichen, vernünftigen) überwunden sein.

Bei dem Worte Sozialdemokratie kann man zunächst zu gar keinem voll-
ziehbaren Gedanken gelangen, wenn man es nicht trennt und den Sozialismus
und die Demokratie gesondert betrachtet.

Der vernünftige Sozialismus ist der Geguer des Egoismus, sofern dieser
roh, nicht gereinigt von der Vernunft erscheint, aber, wie wir gesehen haben,
durchaus nicht sein Gegensatz. Der Sozialismus in der Sozialdemokratie ist
nicht bloß Gegner, sondern Gegensatz. Eine Gesellschaft, bei der die allerersten
Errungenschaften der Kultur, persönliches Eigentum, festes Familiengesüge") wieder



Daß die Aufhebung des persönlichen Eigentums und der Familie keinen Fortschritt,
sondern einen Rückfall in den Naturzustand bedeuten würde, sieht der Gelehrte der Sozial¬
demokratie natürlich nicht ein. Eigentum ist, was an einem Dinge von unserm Willen ab¬
hängig ist. Das Eigentum des Löwen ist alles schwächere Getier der Wüste. Wenn das be¬
schränkte persönliche Eigentum aufgehoben wird, ist das unbeschränkte des Raubtiers wieder
dn. Die Leute sehen gar nicht, daß es sich gegenwärtig nicht um den Ruinen des Besitzers
Nach den Reichstagsmahle»

den Egoismus aus der Welt Schaffell könne, er hat ihn immer nur veredeln
und von seinen schädlichen Wirkungen befreien Molken. Veredelt Mird der
Egoismus durch die Vernunft, d. h. durch die Einsicht, daß er seine Rechnung
am besten findet, wenn er sich an die andern anschließt. Diese Ansicht bringt
freilich der Einzelne als solcher nicht mit, sondern sie wird ihm erst durch
die Erfahrung gelehrt, aus der der Staat handelt. Seine Rechnung würde
aber die starke Persönlichkeit im Anschluß an den Staat nicht finden, wenn
dieser ein Prokrustesbett für sie, wenn sie durch ihn in spanische Stiefel ein¬
geschnürt würde. Das letzte Ziel des Staates ist daher, wie gesagt, den
Starken und den Schwachen in den Stand zu setzen, sein Dasein nach seiner
verschiednen Kraft in Ruhe und Frieden geltend zu machen. Er wird zwar
den Schwachen vor Unterdrückung schützen, ihn aber gewiß nicht zur Herrschaft
berufen, sondern der Macht des Starken, gerade im Interesse der zahllosen
Schwachen, von jener Schutzgrenze ab unbedingten Spielraum gewähren.
(Unter Stärke und Schwäche verstehe ich natürlich die, die der Mensch un¬
mittelbar von der Natur, nicht die, die er von den zufälligen gesellschaftlichen
Zusammenhängen, dem Zufall der Geburt u. f. w. hat.) Wenn wir uns den
Staat vollendet denken, so werden alle Menschen an ihrem Platze in unend¬
licher Mannichfaltigkeit der Gesamtheit dienen, die Schwachen, die von Natur
die weit überwiegende Mehrheit bilden, den niedern, die Minderheit der starken
den höhern Interessen. Sie werden der Gesamtheit dienen und zugleich sich
selbst; die Starken werden in der Herrschaft, die Schwachen gerade durch diese
Herrschaft befriedigenden Spielraum für ihre Natur finden. Im vollendeten
Staate würde der Egoismus zu seiner segensreichen Entfaltung gelangt, nämlich
zum Egoismus der Vernunft geworden sein. Man könnte auch sagen, der
Egoismus (der tierische, unvernünftige) würde durch den Egoismus (deu sitt¬
lichen, vernünftigen) überwunden sein.

Bei dem Worte Sozialdemokratie kann man zunächst zu gar keinem voll-
ziehbaren Gedanken gelangen, wenn man es nicht trennt und den Sozialismus
und die Demokratie gesondert betrachtet.

Der vernünftige Sozialismus ist der Geguer des Egoismus, sofern dieser
roh, nicht gereinigt von der Vernunft erscheint, aber, wie wir gesehen haben,
durchaus nicht sein Gegensatz. Der Sozialismus in der Sozialdemokratie ist
nicht bloß Gegner, sondern Gegensatz. Eine Gesellschaft, bei der die allerersten
Errungenschaften der Kultur, persönliches Eigentum, festes Familiengesüge") wieder



Daß die Aufhebung des persönlichen Eigentums und der Familie keinen Fortschritt,
sondern einen Rückfall in den Naturzustand bedeuten würde, sieht der Gelehrte der Sozial¬
demokratie natürlich nicht ein. Eigentum ist, was an einem Dinge von unserm Willen ab¬
hängig ist. Das Eigentum des Löwen ist alles schwächere Getier der Wüste. Wenn das be¬
schränkte persönliche Eigentum aufgehoben wird, ist das unbeschränkte des Raubtiers wieder
dn. Die Leute sehen gar nicht, daß es sich gegenwärtig nicht um den Ruinen des Besitzers
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[0554] Nach den Reichstagsmahle» den Egoismus aus der Welt Schaffell könne, er hat ihn immer nur veredeln und von seinen schädlichen Wirkungen befreien Molken. Veredelt Mird der Egoismus durch die Vernunft, d. h. durch die Einsicht, daß er seine Rechnung am besten findet, wenn er sich an die andern anschließt. Diese Ansicht bringt freilich der Einzelne als solcher nicht mit, sondern sie wird ihm erst durch die Erfahrung gelehrt, aus der der Staat handelt. Seine Rechnung würde aber die starke Persönlichkeit im Anschluß an den Staat nicht finden, wenn dieser ein Prokrustesbett für sie, wenn sie durch ihn in spanische Stiefel ein¬ geschnürt würde. Das letzte Ziel des Staates ist daher, wie gesagt, den Starken und den Schwachen in den Stand zu setzen, sein Dasein nach seiner verschiednen Kraft in Ruhe und Frieden geltend zu machen. Er wird zwar den Schwachen vor Unterdrückung schützen, ihn aber gewiß nicht zur Herrschaft berufen, sondern der Macht des Starken, gerade im Interesse der zahllosen Schwachen, von jener Schutzgrenze ab unbedingten Spielraum gewähren. (Unter Stärke und Schwäche verstehe ich natürlich die, die der Mensch un¬ mittelbar von der Natur, nicht die, die er von den zufälligen gesellschaftlichen Zusammenhängen, dem Zufall der Geburt u. f. w. hat.) Wenn wir uns den Staat vollendet denken, so werden alle Menschen an ihrem Platze in unend¬ licher Mannichfaltigkeit der Gesamtheit dienen, die Schwachen, die von Natur die weit überwiegende Mehrheit bilden, den niedern, die Minderheit der starken den höhern Interessen. Sie werden der Gesamtheit dienen und zugleich sich selbst; die Starken werden in der Herrschaft, die Schwachen gerade durch diese Herrschaft befriedigenden Spielraum für ihre Natur finden. Im vollendeten Staate würde der Egoismus zu seiner segensreichen Entfaltung gelangt, nämlich zum Egoismus der Vernunft geworden sein. Man könnte auch sagen, der Egoismus (der tierische, unvernünftige) würde durch den Egoismus (deu sitt¬ lichen, vernünftigen) überwunden sein. Bei dem Worte Sozialdemokratie kann man zunächst zu gar keinem voll- ziehbaren Gedanken gelangen, wenn man es nicht trennt und den Sozialismus und die Demokratie gesondert betrachtet. Der vernünftige Sozialismus ist der Geguer des Egoismus, sofern dieser roh, nicht gereinigt von der Vernunft erscheint, aber, wie wir gesehen haben, durchaus nicht sein Gegensatz. Der Sozialismus in der Sozialdemokratie ist nicht bloß Gegner, sondern Gegensatz. Eine Gesellschaft, bei der die allerersten Errungenschaften der Kultur, persönliches Eigentum, festes Familiengesüge") wieder Daß die Aufhebung des persönlichen Eigentums und der Familie keinen Fortschritt, sondern einen Rückfall in den Naturzustand bedeuten würde, sieht der Gelehrte der Sozial¬ demokratie natürlich nicht ein. Eigentum ist, was an einem Dinge von unserm Willen ab¬ hängig ist. Das Eigentum des Löwen ist alles schwächere Getier der Wüste. Wenn das be¬ schränkte persönliche Eigentum aufgehoben wird, ist das unbeschränkte des Raubtiers wieder dn. Die Leute sehen gar nicht, daß es sich gegenwärtig nicht um den Ruinen des Besitzers

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/554>, abgerufen am 23.07.2024.