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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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ist er willenloser Teil des Staates (der Gesamtmacht), als Eigenschaft be¬
trachtet, ist er unabhängig vom Staate, kann er sich ihm anschließen oder von
ihm trennen.

Der Brennpunkt, worin Liebe, Haß, Begierde und Denken des einzelnen
Menschen zusammenstrahlen, ist sein Selbsterhaltungstrieb oder sein Egoismus.
Wenn der nicht wäre, würde es ja gar kein Einzelwesen geben können! Der
Egoismus stellt also die eigentliche Natur des Menschen dar. Dieser liebt
sich, sucht, so viel an ihm ist, sein Dnsein zu erhalten, haßt das, was diesem
Dasein entgegentritt, lind schließt sich also an andre an, oder trennt sich von
ihnen nur nach Maßgabe seines eignen Nutzens.

Der Staat ist für den einzelnen Menschen höchst nützlich, weil der Mensch
seine Macht allein bei weitem nicht in dem Grade wirksam machen kann, wie
im Anschluß an andre. Alle Menschen tragen zur Gesamtwirt'sanken bei, aber
jeder doch in ganz verschiednen, höherm oder niederm Grade. Also kann der
Einzelne auch nur in dem Grade Anteil an den Erfolgen des Ganzen haben
und in seinem Egoismus befriedigt sein, wie er sich darum verdient gemacht
hat, während er sich in dem Grade, wie sich Leistung und Gegenleistung zu
seinen Ungunsten nicht decken, in seiner Natur verletzt sehen muß und dem
Staate zu widerstreben suchen wird.

Wie kann er aber widerstreben, da er doch als überaus kleiner Teil der
Gesamtmacht des Staates in diesem Staate ohne Nest verschwindet? Weil
die Beschaffenheit der Macht eine ganz verschiedne Bedeutung und Wirksamkeit
hat. Ein andres ist die körperliche, ein andres die geistige Erscheinung von
Macht. Die körperliche Macht wird durch die geistige Macht bewegt und be¬
stimmt. Die körperliche ist allen Mensche" fast in gleichem Grade, die geistige
in ganz ungleichem Grade eigen; je höher der Grad von Denkkraft, desto
geringer ist die Zahl der Menschen, in denen er anzutreffen ist; der höchste
Grad erscheint sogar immer nur in langen Zwischenräumen, zuweilen von
tausend und mehr Jahren, in einzelnen, auserlesenen Menschen. Tausend
körperlich starke, aber geistig schwache Menschen können von einem einzigen
körperlich schwachen, aber geistig starken Menschen bewegt und bestimmt werden.
Nun erscheint die Macht des Staates nur in der körperlichen Macht seiner
Angehörigen, sie wird aber bewegt, bestimmt durch die geistige Macht einzelner
Menschen. Deshalb kann es geschehen, daß ein einzelner Mensch ganze Staaten
seinem Willen unterwirft.

Bei diesen wenigen Bemerkungen über die Bestimmungsgründe der Frage
kann ich es wohl für den denkwilligen Leser bewenden lassen. Kommen wir
u"n zu den Folgerungen.

Jeder wirkliche Staatsmann hat bis jetzt den Menschen als Stoff zu
seinen Geschäften genommen, wie er ihn von Gott geschaffen vorgefunden hat,
nämlich als Egoisten. Er ist niemals ans die Ungereimtheit verfallen, daß er


Grenzboten I 1890 69

ist er willenloser Teil des Staates (der Gesamtmacht), als Eigenschaft be¬
trachtet, ist er unabhängig vom Staate, kann er sich ihm anschließen oder von
ihm trennen.

Der Brennpunkt, worin Liebe, Haß, Begierde und Denken des einzelnen
Menschen zusammenstrahlen, ist sein Selbsterhaltungstrieb oder sein Egoismus.
Wenn der nicht wäre, würde es ja gar kein Einzelwesen geben können! Der
Egoismus stellt also die eigentliche Natur des Menschen dar. Dieser liebt
sich, sucht, so viel an ihm ist, sein Dnsein zu erhalten, haßt das, was diesem
Dasein entgegentritt, lind schließt sich also an andre an, oder trennt sich von
ihnen nur nach Maßgabe seines eignen Nutzens.

Der Staat ist für den einzelnen Menschen höchst nützlich, weil der Mensch
seine Macht allein bei weitem nicht in dem Grade wirksam machen kann, wie
im Anschluß an andre. Alle Menschen tragen zur Gesamtwirt'sanken bei, aber
jeder doch in ganz verschiednen, höherm oder niederm Grade. Also kann der
Einzelne auch nur in dem Grade Anteil an den Erfolgen des Ganzen haben
und in seinem Egoismus befriedigt sein, wie er sich darum verdient gemacht
hat, während er sich in dem Grade, wie sich Leistung und Gegenleistung zu
seinen Ungunsten nicht decken, in seiner Natur verletzt sehen muß und dem
Staate zu widerstreben suchen wird.

Wie kann er aber widerstreben, da er doch als überaus kleiner Teil der
Gesamtmacht des Staates in diesem Staate ohne Nest verschwindet? Weil
die Beschaffenheit der Macht eine ganz verschiedne Bedeutung und Wirksamkeit
hat. Ein andres ist die körperliche, ein andres die geistige Erscheinung von
Macht. Die körperliche Macht wird durch die geistige Macht bewegt und be¬
stimmt. Die körperliche ist allen Mensche» fast in gleichem Grade, die geistige
in ganz ungleichem Grade eigen; je höher der Grad von Denkkraft, desto
geringer ist die Zahl der Menschen, in denen er anzutreffen ist; der höchste
Grad erscheint sogar immer nur in langen Zwischenräumen, zuweilen von
tausend und mehr Jahren, in einzelnen, auserlesenen Menschen. Tausend
körperlich starke, aber geistig schwache Menschen können von einem einzigen
körperlich schwachen, aber geistig starken Menschen bewegt und bestimmt werden.
Nun erscheint die Macht des Staates nur in der körperlichen Macht seiner
Angehörigen, sie wird aber bewegt, bestimmt durch die geistige Macht einzelner
Menschen. Deshalb kann es geschehen, daß ein einzelner Mensch ganze Staaten
seinem Willen unterwirft.

Bei diesen wenigen Bemerkungen über die Bestimmungsgründe der Frage
kann ich es wohl für den denkwilligen Leser bewenden lassen. Kommen wir
u»n zu den Folgerungen.

Jeder wirkliche Staatsmann hat bis jetzt den Menschen als Stoff zu
seinen Geschäften genommen, wie er ihn von Gott geschaffen vorgefunden hat,
nämlich als Egoisten. Er ist niemals ans die Ungereimtheit verfallen, daß er


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[0553] ist er willenloser Teil des Staates (der Gesamtmacht), als Eigenschaft be¬ trachtet, ist er unabhängig vom Staate, kann er sich ihm anschließen oder von ihm trennen. Der Brennpunkt, worin Liebe, Haß, Begierde und Denken des einzelnen Menschen zusammenstrahlen, ist sein Selbsterhaltungstrieb oder sein Egoismus. Wenn der nicht wäre, würde es ja gar kein Einzelwesen geben können! Der Egoismus stellt also die eigentliche Natur des Menschen dar. Dieser liebt sich, sucht, so viel an ihm ist, sein Dnsein zu erhalten, haßt das, was diesem Dasein entgegentritt, lind schließt sich also an andre an, oder trennt sich von ihnen nur nach Maßgabe seines eignen Nutzens. Der Staat ist für den einzelnen Menschen höchst nützlich, weil der Mensch seine Macht allein bei weitem nicht in dem Grade wirksam machen kann, wie im Anschluß an andre. Alle Menschen tragen zur Gesamtwirt'sanken bei, aber jeder doch in ganz verschiednen, höherm oder niederm Grade. Also kann der Einzelne auch nur in dem Grade Anteil an den Erfolgen des Ganzen haben und in seinem Egoismus befriedigt sein, wie er sich darum verdient gemacht hat, während er sich in dem Grade, wie sich Leistung und Gegenleistung zu seinen Ungunsten nicht decken, in seiner Natur verletzt sehen muß und dem Staate zu widerstreben suchen wird. Wie kann er aber widerstreben, da er doch als überaus kleiner Teil der Gesamtmacht des Staates in diesem Staate ohne Nest verschwindet? Weil die Beschaffenheit der Macht eine ganz verschiedne Bedeutung und Wirksamkeit hat. Ein andres ist die körperliche, ein andres die geistige Erscheinung von Macht. Die körperliche Macht wird durch die geistige Macht bewegt und be¬ stimmt. Die körperliche ist allen Mensche» fast in gleichem Grade, die geistige in ganz ungleichem Grade eigen; je höher der Grad von Denkkraft, desto geringer ist die Zahl der Menschen, in denen er anzutreffen ist; der höchste Grad erscheint sogar immer nur in langen Zwischenräumen, zuweilen von tausend und mehr Jahren, in einzelnen, auserlesenen Menschen. Tausend körperlich starke, aber geistig schwache Menschen können von einem einzigen körperlich schwachen, aber geistig starken Menschen bewegt und bestimmt werden. Nun erscheint die Macht des Staates nur in der körperlichen Macht seiner Angehörigen, sie wird aber bewegt, bestimmt durch die geistige Macht einzelner Menschen. Deshalb kann es geschehen, daß ein einzelner Mensch ganze Staaten seinem Willen unterwirft. Bei diesen wenigen Bemerkungen über die Bestimmungsgründe der Frage kann ich es wohl für den denkwilligen Leser bewenden lassen. Kommen wir u»n zu den Folgerungen. Jeder wirkliche Staatsmann hat bis jetzt den Menschen als Stoff zu seinen Geschäften genommen, wie er ihn von Gott geschaffen vorgefunden hat, nämlich als Egoisten. Er ist niemals ans die Ungereimtheit verfallen, daß er Grenzboten I 1890 69

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/553>, abgerufen am 23.07.2024.