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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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ist niemals zuvor mit dem Worte Natttrwnhrheit gespielt, willkürlicher niemals
der Gegensatz einer versunkenen und einer neuen Welt gesetzt worden. Wir
reden dabei nicht von den gänzlich verlogenen und impotenten Gebilden, in
denen der neue Gesichtspunkt ungefähr auf die Art gewonnen ist, wie sich über¬
mütige Buben im Spiel, indem sie den Kopf zwischen die Veine stecken, einen
neuen Gesichtspunkt verschaffen. Wir denken nur an die Werke der streitenden
Litteratur, die überhaupt ernst genommen werden können, Werke, die sich rühmen,
in rücksichtsloser Wahrheitsliebe Welt und Wirklichkeit zu spiegeln, wie sie
sind, während eine fanatische Parteisophistik, eine brennende Sehnsucht nach
dem Neuen, Unerhörten, eine wilde Nichtachtung der noch atmenden, wirkenden,
in unübersehbarer, aber wahrlich sichtbarer Mannichfaltigkeit vorhandnen Wirk¬
lichkeit die Weltschilderungen der Schule diktirt.

Wir setzen die streitige Frage, ob alles, was dargestellt werden kann, auch
dargestellt werden soll und muß, völlig beiseite. Begreiflich genug ist es bei
dem Abscheu und Ekel, den gewisse neueste Schöpfungen erwecken, daß naive
Gemüter immer wieder auf den Reinlichkeitsprvtest verfallen. Wir halten uns
lediglich daran, daß, während man die gewaltige Wahrheit der Dinge zu er-
fassen und wiederzugeben behauptet, man immer tiefer in Unwahrheit, in die
Kvnveutioualität der sogenannten starken Wirkungen, in den Schein getreuer
Lebensbeobachtung und tiefer Seelenergründung, wo man doch mit über¬
nommenen Phrasen wirtschaftet, in den Schwindel, der eine angeblich neue
Weltanschauung verheißt, wo mau lediglich in unklaren Halbempfindungen und
Redensarten schwelgt, hineingerät.

Oder wäre es nicht Unwahrheit, wenn man vorgiebt, von der ganzen doch
noch Millionen betragenden Zahl deutscher Menschen, Familien, Lebenskreise
der Gegenwart, in denen persönliche Eigenart, warmer Lebenshauch, Arbeits¬
kraft und Pflichtgefühl, Streben und Bildung heimisch siud, in denen die
Männer durchschnittlich weder am Größenwahnsinn noch die Frauen an Nym¬
phomanie leiden, nichts zu sehen, sie schlechthin als armseligen Rest einer ver¬
sunkenen Welt und Kultur zu behandeln? Wäre es etwas andres als Kon-
ventionalität, und zwar der schlimmsten Sorte, wenn man bloß noch die unge¬
heuern Gegensätze millionenreicher Kommerzienräte (die selbstverständlich bis
ins innerste Mark verdorben sind) und pfennigloser, grimmerfüllter und dabei
genußgieriger Proletarier zur Verkörperung kommen läßt und die ganze
Breite, die ganze Mitte unsers Lebens, die dazwischen liegt, als nichtig be¬
handelt? Wäre es mehr als Schein, wenn die Schilderungen von Kneipen-
wüstheit, Kneipengeist und Kneipenplattheit, die einer dem andern nachschreibt,
wenn die Wiedergabe derselben Szenen ekelhafter Trunkenheit oder brutaler
Geilheit, die sich im großstädtischen Treiben anch dem Auge dessen aufdrängen,
der widerwillig an ihnen vorübereilt, sich als scharfsinnige Beobachtung und
psychologische Offenbarung preisen lassen? Wäre es mehr als Schwindel


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ist niemals zuvor mit dem Worte Natttrwnhrheit gespielt, willkürlicher niemals
der Gegensatz einer versunkenen und einer neuen Welt gesetzt worden. Wir
reden dabei nicht von den gänzlich verlogenen und impotenten Gebilden, in
denen der neue Gesichtspunkt ungefähr auf die Art gewonnen ist, wie sich über¬
mütige Buben im Spiel, indem sie den Kopf zwischen die Veine stecken, einen
neuen Gesichtspunkt verschaffen. Wir denken nur an die Werke der streitenden
Litteratur, die überhaupt ernst genommen werden können, Werke, die sich rühmen,
in rücksichtsloser Wahrheitsliebe Welt und Wirklichkeit zu spiegeln, wie sie
sind, während eine fanatische Parteisophistik, eine brennende Sehnsucht nach
dem Neuen, Unerhörten, eine wilde Nichtachtung der noch atmenden, wirkenden,
in unübersehbarer, aber wahrlich sichtbarer Mannichfaltigkeit vorhandnen Wirk¬
lichkeit die Weltschilderungen der Schule diktirt.

Wir setzen die streitige Frage, ob alles, was dargestellt werden kann, auch
dargestellt werden soll und muß, völlig beiseite. Begreiflich genug ist es bei
dem Abscheu und Ekel, den gewisse neueste Schöpfungen erwecken, daß naive
Gemüter immer wieder auf den Reinlichkeitsprvtest verfallen. Wir halten uns
lediglich daran, daß, während man die gewaltige Wahrheit der Dinge zu er-
fassen und wiederzugeben behauptet, man immer tiefer in Unwahrheit, in die
Kvnveutioualität der sogenannten starken Wirkungen, in den Schein getreuer
Lebensbeobachtung und tiefer Seelenergründung, wo man doch mit über¬
nommenen Phrasen wirtschaftet, in den Schwindel, der eine angeblich neue
Weltanschauung verheißt, wo mau lediglich in unklaren Halbempfindungen und
Redensarten schwelgt, hineingerät.

Oder wäre es nicht Unwahrheit, wenn man vorgiebt, von der ganzen doch
noch Millionen betragenden Zahl deutscher Menschen, Familien, Lebenskreise
der Gegenwart, in denen persönliche Eigenart, warmer Lebenshauch, Arbeits¬
kraft und Pflichtgefühl, Streben und Bildung heimisch siud, in denen die
Männer durchschnittlich weder am Größenwahnsinn noch die Frauen an Nym¬
phomanie leiden, nichts zu sehen, sie schlechthin als armseligen Rest einer ver¬
sunkenen Welt und Kultur zu behandeln? Wäre es etwas andres als Kon-
ventionalität, und zwar der schlimmsten Sorte, wenn man bloß noch die unge¬
heuern Gegensätze millionenreicher Kommerzienräte (die selbstverständlich bis
ins innerste Mark verdorben sind) und pfennigloser, grimmerfüllter und dabei
genußgieriger Proletarier zur Verkörperung kommen läßt und die ganze
Breite, die ganze Mitte unsers Lebens, die dazwischen liegt, als nichtig be¬
handelt? Wäre es mehr als Schein, wenn die Schilderungen von Kneipen-
wüstheit, Kneipengeist und Kneipenplattheit, die einer dem andern nachschreibt,
wenn die Wiedergabe derselben Szenen ekelhafter Trunkenheit oder brutaler
Geilheit, die sich im großstädtischen Treiben anch dem Auge dessen aufdrängen,
der widerwillig an ihnen vorübereilt, sich als scharfsinnige Beobachtung und
psychologische Offenbarung preisen lassen? Wäre es mehr als Schwindel


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/540>, abgerufen am 23.07.2024.