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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Vorhang und Drama

Vorhanges in Zwischenakten, für Lessing wegfiel. Beim Beginn des Aktes
hat er sich diesen Vorteil, wie in der Minna und 4) zu Nutze gemacht,
im Aktschluß jedoch ist er aus dem alten Standpunkte stehen geblieben.
In den Aufführungen seiner Stücke ist der Vorhang beim Aktschluß gefallen,
aber Lessing befand sich in den Fesseln einer Bühne, die diesen Fortschritt noch
nicht gemacht hatte.

Ich wende mich nun zu Goethe. In seinem Jugenddrama "Die Mit¬
schuldigen" ist er durchaus von den Franzosen abhängig. Stets sinden wir
bei ihm leere Bühne und mvtivirtes Abgehen der Personen. ?im Schluß des
zweiten Aktes stehen in der Fassung vom Jahre 1769 die Worte, die den Weg¬
gang des Aleest begründen sollen. "Er öder Dieners schläft, gleich Null ich
hin, mit Lärm ihn aufzuwecken. Wenn er der Thäter ist, verrät er sich im
Schrecken."

Es ist überaus bezeichnend, daß in der Ausgabe von 1787 diese Be¬
ziehung auf das Abgehen Alcests von der Bühne getilgt ist. Goethe hatte
inzwischen die Entdeckung gemacht, die Lessing entgangen war, daß mit dein
Fallen des Vorhanges im Zwischenakte die Möglichkeit gegeben war, am Akt¬
schluß Personen aus der Bühne zu lassen. Diese Möglichkeit mit all ihren
Vorteilen wurde ihm klar, als er sich von den Franzosen abwandte und sich
Shakespeare zum Muster erkor. Wegen der "Bindung der Szenen" brauchten
die Personen am Schluß des Dramas weder bei Shakespeare noch bei seinem
deutschen Nachahmer die Bühne zu verlassen, denn beide sehen wie über Zeit
und Ort, so auch über diese Regel der Franzosen hinweg, aber auf der deutschen
Bühne brauchte" sie sich auch nicht zu entfernen, um den Aktschluß anzuzeigen
und zu ermöglichen, denn dies geschah hier durch den Vorhang, der das
Publikum von der Bühne trennte. So war es nicht schwer, zu der Einsicht
gu kommen, die Goethe zuerst im Götz von Berlichingen (177Z) bethätigte.
Im vierten Akte des Götz bleiben die Personen -- zum erstenmale im
deutschen Drama -- am Schluß des Auszuges auf der Bühne, wenigstens ist
uicht angegeben, daß sie die Bühne verlassen, noch würde ihr Fortgehen
irgendwie begründet erscheinen. Auch sonst unterscheidet sich der Abschluß im
Götz wesentlich von dem Lessings. Es wird nichts Neues eingeleitet, keine
Rücksicht auf die Handlung im Zwischenakte und auf den Zusammenhang der
Szenen genommen. Jeder Akt weist einen neuen Ort auf, aber der allzu
häufige Wechsel des Ortes innerhalb des Auszuges raubt diesem die Einheit
und zerlegt ihn in eine Menge kleiner, selbständiger, fast zusammenhangsloser
Szenen. Hieraus erklärt sich das Schwanken Goethes in der Stelle des Akt¬
schlusses in den verschiednen Bearbeitungen des Götz. Es fehlt seinem Akt¬
schlüsse noch das innerlich Notwendige. Aber das ist wenigstens erreicht, daß
wirklicher Abschluß erzielt werden kann, da die Personen auf der Bühne
bleiben können, uicht um jeden Preis entfernt werden müssen.


Vorhang und Drama

Vorhanges in Zwischenakten, für Lessing wegfiel. Beim Beginn des Aktes
hat er sich diesen Vorteil, wie in der Minna und 4) zu Nutze gemacht,
im Aktschluß jedoch ist er aus dem alten Standpunkte stehen geblieben.
In den Aufführungen seiner Stücke ist der Vorhang beim Aktschluß gefallen,
aber Lessing befand sich in den Fesseln einer Bühne, die diesen Fortschritt noch
nicht gemacht hatte.

Ich wende mich nun zu Goethe. In seinem Jugenddrama „Die Mit¬
schuldigen" ist er durchaus von den Franzosen abhängig. Stets sinden wir
bei ihm leere Bühne und mvtivirtes Abgehen der Personen. ?im Schluß des
zweiten Aktes stehen in der Fassung vom Jahre 1769 die Worte, die den Weg¬
gang des Aleest begründen sollen. „Er öder Dieners schläft, gleich Null ich
hin, mit Lärm ihn aufzuwecken. Wenn er der Thäter ist, verrät er sich im
Schrecken."

Es ist überaus bezeichnend, daß in der Ausgabe von 1787 diese Be¬
ziehung auf das Abgehen Alcests von der Bühne getilgt ist. Goethe hatte
inzwischen die Entdeckung gemacht, die Lessing entgangen war, daß mit dein
Fallen des Vorhanges im Zwischenakte die Möglichkeit gegeben war, am Akt¬
schluß Personen aus der Bühne zu lassen. Diese Möglichkeit mit all ihren
Vorteilen wurde ihm klar, als er sich von den Franzosen abwandte und sich
Shakespeare zum Muster erkor. Wegen der „Bindung der Szenen" brauchten
die Personen am Schluß des Dramas weder bei Shakespeare noch bei seinem
deutschen Nachahmer die Bühne zu verlassen, denn beide sehen wie über Zeit
und Ort, so auch über diese Regel der Franzosen hinweg, aber auf der deutschen
Bühne brauchte« sie sich auch nicht zu entfernen, um den Aktschluß anzuzeigen
und zu ermöglichen, denn dies geschah hier durch den Vorhang, der das
Publikum von der Bühne trennte. So war es nicht schwer, zu der Einsicht
gu kommen, die Goethe zuerst im Götz von Berlichingen (177Z) bethätigte.
Im vierten Akte des Götz bleiben die Personen — zum erstenmale im
deutschen Drama — am Schluß des Auszuges auf der Bühne, wenigstens ist
uicht angegeben, daß sie die Bühne verlassen, noch würde ihr Fortgehen
irgendwie begründet erscheinen. Auch sonst unterscheidet sich der Abschluß im
Götz wesentlich von dem Lessings. Es wird nichts Neues eingeleitet, keine
Rücksicht auf die Handlung im Zwischenakte und auf den Zusammenhang der
Szenen genommen. Jeder Akt weist einen neuen Ort auf, aber der allzu
häufige Wechsel des Ortes innerhalb des Auszuges raubt diesem die Einheit
und zerlegt ihn in eine Menge kleiner, selbständiger, fast zusammenhangsloser
Szenen. Hieraus erklärt sich das Schwanken Goethes in der Stelle des Akt¬
schlusses in den verschiednen Bearbeitungen des Götz. Es fehlt seinem Akt¬
schlüsse noch das innerlich Notwendige. Aber das ist wenigstens erreicht, daß
wirklicher Abschluß erzielt werden kann, da die Personen auf der Bühne
bleiben können, uicht um jeden Preis entfernt werden müssen.


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[0531] Vorhang und Drama Vorhanges in Zwischenakten, für Lessing wegfiel. Beim Beginn des Aktes hat er sich diesen Vorteil, wie in der Minna und 4) zu Nutze gemacht, im Aktschluß jedoch ist er aus dem alten Standpunkte stehen geblieben. In den Aufführungen seiner Stücke ist der Vorhang beim Aktschluß gefallen, aber Lessing befand sich in den Fesseln einer Bühne, die diesen Fortschritt noch nicht gemacht hatte. Ich wende mich nun zu Goethe. In seinem Jugenddrama „Die Mit¬ schuldigen" ist er durchaus von den Franzosen abhängig. Stets sinden wir bei ihm leere Bühne und mvtivirtes Abgehen der Personen. ?im Schluß des zweiten Aktes stehen in der Fassung vom Jahre 1769 die Worte, die den Weg¬ gang des Aleest begründen sollen. „Er öder Dieners schläft, gleich Null ich hin, mit Lärm ihn aufzuwecken. Wenn er der Thäter ist, verrät er sich im Schrecken." Es ist überaus bezeichnend, daß in der Ausgabe von 1787 diese Be¬ ziehung auf das Abgehen Alcests von der Bühne getilgt ist. Goethe hatte inzwischen die Entdeckung gemacht, die Lessing entgangen war, daß mit dein Fallen des Vorhanges im Zwischenakte die Möglichkeit gegeben war, am Akt¬ schluß Personen aus der Bühne zu lassen. Diese Möglichkeit mit all ihren Vorteilen wurde ihm klar, als er sich von den Franzosen abwandte und sich Shakespeare zum Muster erkor. Wegen der „Bindung der Szenen" brauchten die Personen am Schluß des Dramas weder bei Shakespeare noch bei seinem deutschen Nachahmer die Bühne zu verlassen, denn beide sehen wie über Zeit und Ort, so auch über diese Regel der Franzosen hinweg, aber auf der deutschen Bühne brauchte« sie sich auch nicht zu entfernen, um den Aktschluß anzuzeigen und zu ermöglichen, denn dies geschah hier durch den Vorhang, der das Publikum von der Bühne trennte. So war es nicht schwer, zu der Einsicht gu kommen, die Goethe zuerst im Götz von Berlichingen (177Z) bethätigte. Im vierten Akte des Götz bleiben die Personen — zum erstenmale im deutschen Drama — am Schluß des Auszuges auf der Bühne, wenigstens ist uicht angegeben, daß sie die Bühne verlassen, noch würde ihr Fortgehen irgendwie begründet erscheinen. Auch sonst unterscheidet sich der Abschluß im Götz wesentlich von dem Lessings. Es wird nichts Neues eingeleitet, keine Rücksicht auf die Handlung im Zwischenakte und auf den Zusammenhang der Szenen genommen. Jeder Akt weist einen neuen Ort auf, aber der allzu häufige Wechsel des Ortes innerhalb des Auszuges raubt diesem die Einheit und zerlegt ihn in eine Menge kleiner, selbständiger, fast zusammenhangsloser Szenen. Hieraus erklärt sich das Schwanken Goethes in der Stelle des Akt¬ schlusses in den verschiednen Bearbeitungen des Götz. Es fehlt seinem Akt¬ schlüsse noch das innerlich Notwendige. Aber das ist wenigstens erreicht, daß wirklicher Abschluß erzielt werden kann, da die Personen auf der Bühne bleiben können, uicht um jeden Preis entfernt werden müssen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/531>, abgerufen am 23.07.2024.