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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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um das Führeramt in einer Stadt, die er gar nicht kennt, zu übernehmen.
Die Marwood entfernt sich, um sich umzukleiden. Sara geht fort, um Melle-
fvnt uicht im Lefen eines Briefes zu stören. Noch unorganischer ist es, wenn
der Akt, wie es wiederholt geschieht, mit einer Episode schließt; so bringt Just
den Werner durch Geberden und die Worte "du sollst dein blaues Wunder
hören," in einer für den Zuschauer ganz unverständlichen Begründung von
der Bühne.

2. Auch das Auftreten der Personen zu Beginn des neuen Aktes wird
meist begründet und die Verbindung dadurch festgehalten, daß erzählt wird,
was im Zwischenakte vorgefallen ist.

So in der Minna im dritten Akte das Auftreten Justs und Franziskas;
was im Zwischenakte geschehen ist, wird in der dritten Szene erzählt. Zwischen
dem vierten und fünften Akte suchen sich Tellheim und Werner, wie der An¬
fang des fünften Aktes lehrt. In der Emilia ist zwischen dem ersten und
zweiten Akte die Unterredung des Prinzen und der Emilia zu denken; davon
berichtet Emilia bei ihrem Auftreten im zweiten Akte. Zwischen den nächsten
Akten liegt der Überfall des Grafen. Auch die folgenden Aufzüge beginnen
mit dem Berichte des im Zwischenakte geschehenen und begründen das
Auftreten der Personen. Aber während Lessing beim Aktschluß die Bühne nie
ohne Begründung leer werden läßt, treten beim Beginn des neuen Aktes in
der Minna (2 und 4), Emilia (3) und Sara (4) die Personen auf, ohne ihre
Anwesenheit zu motiviren.

3. Ortsveränderung hat Lessing bei Beginn eines neuen Aktes sehr häufig,
am seltensten in der Emilia. In der Sara und im Nathan findet sich die
von ihm in der Hamburgischen Dramaturgie verworfene Ortsveränderung (die
zum Teil durch den mittlern Vorhang bewerkstelligt wird) innerhalb des
Aufzuges.

In der Theorie wie in der Praxis also ist Lessing der Nachahmer der
Franzosen. Sein Aktschluß folgt nicht notwendig aus dem Bau des Ganzen;
es ist nicht ein wirklicher Schluß, der ein in sich abgeschlossenes Ganze krönt,
er wird vielmehr so viel als möglich abgeschwächt und so wenig als möglich
fühlbar gemacht. Derselbe Mann, der mit so viel Geist die kümmerlichen
Gesetze der Einheit der Zeit und des Ortes in ihrer Hohlheit bloßlegte, hält
sich ängstlich an das nicht weniger äußerliche Gesetz der Franzosen von der
Leere der Bühne am Schluß des Aktes und der Forderung eines wenn auch
nur äußerlich hergestellten Zusammenhanges der Szenen und Akte. Hier wirkt
auch bei ihm die so scharf von ihm selbst bekämpfte Regel von der Einheit
der Zeit und jener äußerlichen Einheit der Handlung, die mit Hineinziehen des
Zwischenaktes eine vom Beginn bis zum Schluß des Dramas ununterbrochene
Kette von einzelnen Handlungen fordert. Diese merkwürdige Thatsache ist um
so auffallender, als der Grund, der die Franzosen bestimmte, das Fehlen des


um das Führeramt in einer Stadt, die er gar nicht kennt, zu übernehmen.
Die Marwood entfernt sich, um sich umzukleiden. Sara geht fort, um Melle-
fvnt uicht im Lefen eines Briefes zu stören. Noch unorganischer ist es, wenn
der Akt, wie es wiederholt geschieht, mit einer Episode schließt; so bringt Just
den Werner durch Geberden und die Worte „du sollst dein blaues Wunder
hören," in einer für den Zuschauer ganz unverständlichen Begründung von
der Bühne.

2. Auch das Auftreten der Personen zu Beginn des neuen Aktes wird
meist begründet und die Verbindung dadurch festgehalten, daß erzählt wird,
was im Zwischenakte vorgefallen ist.

So in der Minna im dritten Akte das Auftreten Justs und Franziskas;
was im Zwischenakte geschehen ist, wird in der dritten Szene erzählt. Zwischen
dem vierten und fünften Akte suchen sich Tellheim und Werner, wie der An¬
fang des fünften Aktes lehrt. In der Emilia ist zwischen dem ersten und
zweiten Akte die Unterredung des Prinzen und der Emilia zu denken; davon
berichtet Emilia bei ihrem Auftreten im zweiten Akte. Zwischen den nächsten
Akten liegt der Überfall des Grafen. Auch die folgenden Aufzüge beginnen
mit dem Berichte des im Zwischenakte geschehenen und begründen das
Auftreten der Personen. Aber während Lessing beim Aktschluß die Bühne nie
ohne Begründung leer werden läßt, treten beim Beginn des neuen Aktes in
der Minna (2 und 4), Emilia (3) und Sara (4) die Personen auf, ohne ihre
Anwesenheit zu motiviren.

3. Ortsveränderung hat Lessing bei Beginn eines neuen Aktes sehr häufig,
am seltensten in der Emilia. In der Sara und im Nathan findet sich die
von ihm in der Hamburgischen Dramaturgie verworfene Ortsveränderung (die
zum Teil durch den mittlern Vorhang bewerkstelligt wird) innerhalb des
Aufzuges.

In der Theorie wie in der Praxis also ist Lessing der Nachahmer der
Franzosen. Sein Aktschluß folgt nicht notwendig aus dem Bau des Ganzen;
es ist nicht ein wirklicher Schluß, der ein in sich abgeschlossenes Ganze krönt,
er wird vielmehr so viel als möglich abgeschwächt und so wenig als möglich
fühlbar gemacht. Derselbe Mann, der mit so viel Geist die kümmerlichen
Gesetze der Einheit der Zeit und des Ortes in ihrer Hohlheit bloßlegte, hält
sich ängstlich an das nicht weniger äußerliche Gesetz der Franzosen von der
Leere der Bühne am Schluß des Aktes und der Forderung eines wenn auch
nur äußerlich hergestellten Zusammenhanges der Szenen und Akte. Hier wirkt
auch bei ihm die so scharf von ihm selbst bekämpfte Regel von der Einheit
der Zeit und jener äußerlichen Einheit der Handlung, die mit Hineinziehen des
Zwischenaktes eine vom Beginn bis zum Schluß des Dramas ununterbrochene
Kette von einzelnen Handlungen fordert. Diese merkwürdige Thatsache ist um
so auffallender, als der Grund, der die Franzosen bestimmte, das Fehlen des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/530>, abgerufen am 23.07.2024.