Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.Vorhang und Drama In unserm heutigen Schriftdeutsch liegt der Kanzleistil oft unmittelbar (Fortsetzung folgt) Vorhang und Drama von Heinemann (Schluß) chon die erste hierher gehörige Stelle in der Hamburgischen Sein Spott richtet sich also nicht etwa dagegen, daß Frau Gottsched stets am Schluß
des Aktes die Bühne leer werden läßt, sondern gegen die ungeschickte Art, wie sie das thut, und die äußerliche Begründung. Zur Probe dieser Motivirung verweise ich auf ihr Lustspiel "Das Testament." In, ersten Aktschluß dieses Dramas wird die Leere der Bühne dadurch erreicht, daß Frau von Tiefenborn sich entschließt in einem andern Zimmer mit dem Arzt die Schokolade einzunehmen, am Schluß des zweiten Aktes begiebt sie sich mit ihren Gästen zum Mittagessen, und am Schluß des dritten Aufzuges ist es gerade Zeit zum Kaffeetrinken, eine Gelegenheit, die sich Frau von Tiefenborn nicht entgehen liiszt, den Herrn Landrat zu einer Tasse ^- natürlich in einem andern Zimmer -- einzuladen. Vorhang und Drama In unserm heutigen Schriftdeutsch liegt der Kanzleistil oft unmittelbar (Fortsetzung folgt) Vorhang und Drama von Heinemann (Schluß) chon die erste hierher gehörige Stelle in der Hamburgischen Sein Spott richtet sich also nicht etwa dagegen, daß Frau Gottsched stets am Schluß
des Aktes die Bühne leer werden läßt, sondern gegen die ungeschickte Art, wie sie das thut, und die äußerliche Begründung. Zur Probe dieser Motivirung verweise ich auf ihr Lustspiel „Das Testament." In, ersten Aktschluß dieses Dramas wird die Leere der Bühne dadurch erreicht, daß Frau von Tiefenborn sich entschließt in einem andern Zimmer mit dem Arzt die Schokolade einzunehmen, am Schluß des zweiten Aktes begiebt sie sich mit ihren Gästen zum Mittagessen, und am Schluß des dritten Aufzuges ist es gerade Zeit zum Kaffeetrinken, eine Gelegenheit, die sich Frau von Tiefenborn nicht entgehen liiszt, den Herrn Landrat zu einer Tasse ^- natürlich in einem andern Zimmer — einzuladen. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0528" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207173"/> <fw type="header" place="top"> Vorhang und Drama</fw><lb/> <p xml:id="ID_1492"> In unserm heutigen Schriftdeutsch liegt der Kanzleistil oft unmittelbar<lb/> neben dem Telegrammenstil. Auf der einen Seite ein Streben nach Kürze, bei<lb/> der alle organische Verbindung aufgehoben wird, die Wörter nicht einmal mehr<lb/> „agglutinirt" (zusammengeleimt), sondern nur noch neben einander gesetzt<lb/> werden, wie ein Kind bunte Steinchen auf dem Tische an einander reiht; und<lb/> dicht daneben und mitten drin eine schwülstige Breite, die fünf Silben braucht<lb/> (wei— eher letz —te —re), wo drei Buchstaben (d — e — r) genügen!</p><lb/> <p xml:id="ID_1493"> (Fortsetzung folgt)</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Vorhang und Drama<lb/><note type="byline"> von Heinemann</note> (Schluß)</head><lb/> <p xml:id="ID_1494" next="#ID_1495"> chon die erste hierher gehörige Stelle in der Hamburgischen<lb/> Dramaturgie (l.'Z. Stück) hat etwas Auffallendes: Es handelt<lb/> sich um die Übersetzung des „Poetische» Dorfjunkers" von<lb/> Destouches, in der die Übersetzerin, Frau Gottsched, aus drei<lb/> Akten des Originals fünf Akte gemacht hatte. „Was kostet das<lb/> auch für Mühe? — sagt Lessing — man läßt in einem andern Zimmer einmal<lb/> Kaffee trinken, man schlägt einen Spaziergang im Garten vor; und wenn Not<lb/> an den Mann geht, so kann ja auch der Lichtputzer herauskommen und sagen:<lb/> Meine Damen und Herren, treten sie ein wenig ab; die Zwischenakte sind des<lb/> Putzens wegen erfunden, und was hilft ihr Spielen, wenn das Parterre nicht<lb/> sehen kaun?" Der Witz Lessings erscheint uns zuerst nicht recht verstündlich.<lb/> Wie kann ein Dichter auf diese Weise einen Akt schließen wollen? Erst wenn<lb/> wir annehmen, daß auch sür Lessing die Entfernung aller Personen von<lb/> der Bühne am Schlüsse des Aktes Erfordernis war, verstehen mir seinen<lb/> Hohn/") Diese Annahme bestätigen seine Worte im 45. Stücke; er verlangt</p><lb/> <note xml:id="FID_34" place="foot"> Sein Spott richtet sich also nicht etwa dagegen, daß Frau Gottsched stets am Schluß<lb/> des Aktes die Bühne leer werden läßt, sondern gegen die ungeschickte Art, wie sie das thut,<lb/> und die äußerliche Begründung. Zur Probe dieser Motivirung verweise ich auf ihr Lustspiel<lb/> „Das Testament." In, ersten Aktschluß dieses Dramas wird die Leere der Bühne dadurch<lb/> erreicht, daß Frau von Tiefenborn sich entschließt in einem andern Zimmer mit dem Arzt<lb/> die Schokolade einzunehmen, am Schluß des zweiten Aktes begiebt sie sich mit ihren Gästen<lb/> zum Mittagessen, und am Schluß des dritten Aufzuges ist es gerade Zeit zum Kaffeetrinken,<lb/> eine Gelegenheit, die sich Frau von Tiefenborn nicht entgehen liiszt, den Herrn Landrat zu<lb/> einer Tasse ^- natürlich in einem andern Zimmer — einzuladen.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0528]
Vorhang und Drama
In unserm heutigen Schriftdeutsch liegt der Kanzleistil oft unmittelbar
neben dem Telegrammenstil. Auf der einen Seite ein Streben nach Kürze, bei
der alle organische Verbindung aufgehoben wird, die Wörter nicht einmal mehr
„agglutinirt" (zusammengeleimt), sondern nur noch neben einander gesetzt
werden, wie ein Kind bunte Steinchen auf dem Tische an einander reiht; und
dicht daneben und mitten drin eine schwülstige Breite, die fünf Silben braucht
(wei— eher letz —te —re), wo drei Buchstaben (d — e — r) genügen!
(Fortsetzung folgt)
Vorhang und Drama
von Heinemann (Schluß)
chon die erste hierher gehörige Stelle in der Hamburgischen
Dramaturgie (l.'Z. Stück) hat etwas Auffallendes: Es handelt
sich um die Übersetzung des „Poetische» Dorfjunkers" von
Destouches, in der die Übersetzerin, Frau Gottsched, aus drei
Akten des Originals fünf Akte gemacht hatte. „Was kostet das
auch für Mühe? — sagt Lessing — man läßt in einem andern Zimmer einmal
Kaffee trinken, man schlägt einen Spaziergang im Garten vor; und wenn Not
an den Mann geht, so kann ja auch der Lichtputzer herauskommen und sagen:
Meine Damen und Herren, treten sie ein wenig ab; die Zwischenakte sind des
Putzens wegen erfunden, und was hilft ihr Spielen, wenn das Parterre nicht
sehen kaun?" Der Witz Lessings erscheint uns zuerst nicht recht verstündlich.
Wie kann ein Dichter auf diese Weise einen Akt schließen wollen? Erst wenn
wir annehmen, daß auch sür Lessing die Entfernung aller Personen von
der Bühne am Schlüsse des Aktes Erfordernis war, verstehen mir seinen
Hohn/") Diese Annahme bestätigen seine Worte im 45. Stücke; er verlangt
Sein Spott richtet sich also nicht etwa dagegen, daß Frau Gottsched stets am Schluß
des Aktes die Bühne leer werden läßt, sondern gegen die ungeschickte Art, wie sie das thut,
und die äußerliche Begründung. Zur Probe dieser Motivirung verweise ich auf ihr Lustspiel
„Das Testament." In, ersten Aktschluß dieses Dramas wird die Leere der Bühne dadurch
erreicht, daß Frau von Tiefenborn sich entschließt in einem andern Zimmer mit dem Arzt
die Schokolade einzunehmen, am Schluß des zweiten Aktes begiebt sie sich mit ihren Gästen
zum Mittagessen, und am Schluß des dritten Aufzuges ist es gerade Zeit zum Kaffeetrinken,
eine Gelegenheit, die sich Frau von Tiefenborn nicht entgehen liiszt, den Herrn Landrat zu
einer Tasse ^- natürlich in einem andern Zimmer — einzuladen.
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