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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Sache leuchtet ganz deutlich cui bei Betrachtung des menschlichen Organismus,
der ja auch einen Gesamtarbeitsprvzeß darstellt. Wir reden wohl vom Auge,
von Ohr, vom Magen, von, Herzen u, s, w,, als ob mir ganz genau wüßten,
wo alle diese Organe anfingen und wo sie aufhörten. Wollen wir sie aber wirklich
vereinzeln, so können wir es nur mit dem Sezirmesser versuchen, d. h. nur so,
daß wir den Organismus, deu Arbeitsprozeß, der durch einen Menschen dar¬
gestellt ist, töten. Dann aber haben wir nicht mehr Organe, sondern nur noch
Stückchen Fleisch in unsern Hände", als Organe bestehen sie nur uoch in
unsrer Einbildungskraft.

Dies ist die eine Thatsache. Nun wendet man aber ein: Obschon das
Aröeitserzengnis und der Anteil des einzelnen Menschen daran sich nicht genau
erkennen und rein von einander trennen lassen, so verhalte es sich doch mit
dem Menschen durchaus uicht so. Wenn nicht durch andres, unterscheide sich
der Mensch doch von den übrigen Dingen durch sein Selbstbewußtsein und
seinen freien Willen, kraft deren er sich an andre anschließen und von ihnen
trennen, mithin innerhalb des Arbeitsprozesses ganz nach Belieben das eine
thun und das andre lassen könne. Deshalb kommt meine zweite That¬
sache: der Mensch ist, mindestens auf wirtschaftlichem Gebiete, mit richten
frei. Ohne Hilfe des Staates sind nur Menschen nicht die Herren, sondern
die Sklaven der gesellschaftlichen Znsanuuenhänge und innern wirtschaftlichen
Gesetze. Statt mit spitzfindigen theoretischen Erörterungen, will ich auch das
gleich durch Beispiele deutlich machen. Wenn ein Handwerker, der seine Sache
fleißig und gewissenhaft erlernt hat, eines Tages findet, daß sein Artikel von
der Fabrik billiger verkauft wird, als er ihn sich selbst erzeugen kann, wenn
er infolgedessen sich ans die Straße gesetzt sieht, ist er da wirtschaftlich frei?
Als der Bauer vor Erlaß der Getreidezölle sein Getreide nicht zu seinen
Produktionskosten, sondern mir zu den Schundpreiseu in den Seestädten ver¬
kaufen konnte, infolgedessen in Schulden und zuletzt in Bankrott geriet, war
er da wirtschaftlich frei? Wenn ein Fabrikant sich genötigt sieht, einen un¬
solider Artikel herzustellen oder seine Fabrik zu schließen, seine Arbeiter zu
entlassen, kurz ruinirt zu sein, weil sein Konkurrent mit dein unsolider
Artikel den Markt beherrscht, ist er da wirtschaftlich frei?

Deutlicher noch wird die Sache bei Betrachtung des Arbeitsvertrages.
Dieser ist durchaus keine Frage der Freiheit, sondern der Macht, wenn er
zwischen Besitzenden und Nichtbesitzendeu geschlossen wird. Denn der Reiche
kann mit dem, was er zu verkaufen hat, in der schlimmen Zeit die gute ab¬
warten, aber der Arme, der nichts als seiue Arbeitskraft zu verkaufen hat,
kann auf die bessere Zeit uicht warten, weil er essen muß. Daher hängt die
Lohnarbeit, die körperliche wie die geistige, in ihrem Preise nur von dem Zufall
des Angebotes und der Nachfrage ub, und die Frage dabei ist durchaus nicht:
Was nützt der Fabrikarbeiter, der Ackerknecht, der vermögenslose Richter, Lehrer,


Sache leuchtet ganz deutlich cui bei Betrachtung des menschlichen Organismus,
der ja auch einen Gesamtarbeitsprvzeß darstellt. Wir reden wohl vom Auge,
von Ohr, vom Magen, von, Herzen u, s, w,, als ob mir ganz genau wüßten,
wo alle diese Organe anfingen und wo sie aufhörten. Wollen wir sie aber wirklich
vereinzeln, so können wir es nur mit dem Sezirmesser versuchen, d. h. nur so,
daß wir den Organismus, deu Arbeitsprozeß, der durch einen Menschen dar¬
gestellt ist, töten. Dann aber haben wir nicht mehr Organe, sondern nur noch
Stückchen Fleisch in unsern Hände», als Organe bestehen sie nur uoch in
unsrer Einbildungskraft.

Dies ist die eine Thatsache. Nun wendet man aber ein: Obschon das
Aröeitserzengnis und der Anteil des einzelnen Menschen daran sich nicht genau
erkennen und rein von einander trennen lassen, so verhalte es sich doch mit
dem Menschen durchaus uicht so. Wenn nicht durch andres, unterscheide sich
der Mensch doch von den übrigen Dingen durch sein Selbstbewußtsein und
seinen freien Willen, kraft deren er sich an andre anschließen und von ihnen
trennen, mithin innerhalb des Arbeitsprozesses ganz nach Belieben das eine
thun und das andre lassen könne. Deshalb kommt meine zweite That¬
sache: der Mensch ist, mindestens auf wirtschaftlichem Gebiete, mit richten
frei. Ohne Hilfe des Staates sind nur Menschen nicht die Herren, sondern
die Sklaven der gesellschaftlichen Znsanuuenhänge und innern wirtschaftlichen
Gesetze. Statt mit spitzfindigen theoretischen Erörterungen, will ich auch das
gleich durch Beispiele deutlich machen. Wenn ein Handwerker, der seine Sache
fleißig und gewissenhaft erlernt hat, eines Tages findet, daß sein Artikel von
der Fabrik billiger verkauft wird, als er ihn sich selbst erzeugen kann, wenn
er infolgedessen sich ans die Straße gesetzt sieht, ist er da wirtschaftlich frei?
Als der Bauer vor Erlaß der Getreidezölle sein Getreide nicht zu seinen
Produktionskosten, sondern mir zu den Schundpreiseu in den Seestädten ver¬
kaufen konnte, infolgedessen in Schulden und zuletzt in Bankrott geriet, war
er da wirtschaftlich frei? Wenn ein Fabrikant sich genötigt sieht, einen un¬
solider Artikel herzustellen oder seine Fabrik zu schließen, seine Arbeiter zu
entlassen, kurz ruinirt zu sein, weil sein Konkurrent mit dein unsolider
Artikel den Markt beherrscht, ist er da wirtschaftlich frei?

Deutlicher noch wird die Sache bei Betrachtung des Arbeitsvertrages.
Dieser ist durchaus keine Frage der Freiheit, sondern der Macht, wenn er
zwischen Besitzenden und Nichtbesitzendeu geschlossen wird. Denn der Reiche
kann mit dem, was er zu verkaufen hat, in der schlimmen Zeit die gute ab¬
warten, aber der Arme, der nichts als seiue Arbeitskraft zu verkaufen hat,
kann auf die bessere Zeit uicht warten, weil er essen muß. Daher hängt die
Lohnarbeit, die körperliche wie die geistige, in ihrem Preise nur von dem Zufall
des Angebotes und der Nachfrage ub, und die Frage dabei ist durchaus nicht:
Was nützt der Fabrikarbeiter, der Ackerknecht, der vermögenslose Richter, Lehrer,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/503>, abgerufen am 23.07.2024.