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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Nach den Reichstagswahlen

deinen Nächsten wie dich selbst" heute noch genau wie zu Jesu Zeit mit
Füßen getreten wird, daß die Moral in unserm Gewerbe sich lediglich mit dem
Strafgesetzbuche deckt, und mir das zur Not unterbleibt, was das Strafgesetz¬
buch verbietet.

Es bleibt also nur die Gewalt, das Mittel des Staates übrig. Ja es
lassen sich sogar Kirche und Schule oder irgend eine andre Erscheinung der
.Kultur erst von der Zeit an denken, wo die Organisation des Staates, die
Entwicklung der staatlichen Gewalt über den Einzelnen schon weite Fortschritte
gemacht hatte. Erst als der durch den Staat geleistete Schutz des Lebens,
des Eigentums, der Familie in altersgrauer Vorzeit so weit gediehen war, daß
der einzelne Mensch nicht mehr nur wie das Tier seine ganze Kraft und Zeit
zur Verteidigung seines Lebens und zu seiner Ernühruug nötig hatte, erst da
konnte er Zeit und Kraft gewinnen, denken und sprechen zu lernen und sich
zu kultiviren. Wenn man sich einen Menschen im Naturzustande vorstellt,
ungekämmt und ungewaschen, nackt oder in Felle gehüllt, mit unentwickelter
Sprache, und dagegen einen Menschen auf der Höhe unsrer heutigen Kultur,
etwa einen Denker, Dichter oder .Künstler, so hat man in diesem ungeheuern
Unterschiede die Wirkung des Staates bis heute ausgedrückt. Die Geschichte
der Zivilisation ist nichts andres, als die Geschichte des siegreichen Kampfes
der Staatsgewalt wider die Sorte von persönlicher Freiheit, von der ich oben
ausgegangen bin.

Das Wesen des Staates besteht also darin, daß er mit der von ihm aus¬
gedrückten Gcsamtgewalt seiner einzelnen Angehörigen die rohe, natürliche, an
sich schrankenlose Macht der Einzelnen für den Gesamtzweck ordnet und orga-
nisirt, iudeiu er hier deu Starken einschränkt, dort den'Schwachen stützt, daß
er den angebornen, an sich schrankenlosen Egoismus der einzelnen Menschen
und Klassen den Bedingungen der allgemeinen Interessen unterwirft, und sein
letztes Ziel ist, jeden seiner Angehörigen in den Stand zu setzen, sich seines
Daseins nach Maßgabe der ihm von Gott verliehenen größern oder kleinern
Kräfte neben dem andern in Ruhe und Frieden zu erfreuen.

Nun hat es aber mit deu endlichen Dingen die Bewandtnis, daß sie in
einem Werden oder vielmehr einen,. Entstehen und Vergehen erscheinen (nicht
wirklich sind!), daß z. B. ein Eichbaum zu seinem Wachstum hundert Jahre
und länger braucht, Rom nicht in einem Tage erbaut wurde u. s. w. Das
endliche Ding Staat ist in uralter, vorgeschichtlicher Zeit entstanden und wird
erst mit deu Menschen selbst wieder verschwinden. Sehen wir uns ans einen
Augenblick seinen Entwicklungsprozeß in der geschichtlichen Zeit an.

Wir Sachsen haben im vergangenen Jahre ein schönes Fest gefeiert, das
^Wjährige Jubiläum unsers angestammten Herrscherhauses. Wie sah es in
Sachsen, in Deutschland aus, als wir mit deu Wettinern ansingen, und wie
sieht es heute aus? Damals gab es undurchdringliche Wälder und Sümpfe,


Nach den Reichstagswahlen

deinen Nächsten wie dich selbst" heute noch genau wie zu Jesu Zeit mit
Füßen getreten wird, daß die Moral in unserm Gewerbe sich lediglich mit dem
Strafgesetzbuche deckt, und mir das zur Not unterbleibt, was das Strafgesetz¬
buch verbietet.

Es bleibt also nur die Gewalt, das Mittel des Staates übrig. Ja es
lassen sich sogar Kirche und Schule oder irgend eine andre Erscheinung der
.Kultur erst von der Zeit an denken, wo die Organisation des Staates, die
Entwicklung der staatlichen Gewalt über den Einzelnen schon weite Fortschritte
gemacht hatte. Erst als der durch den Staat geleistete Schutz des Lebens,
des Eigentums, der Familie in altersgrauer Vorzeit so weit gediehen war, daß
der einzelne Mensch nicht mehr nur wie das Tier seine ganze Kraft und Zeit
zur Verteidigung seines Lebens und zu seiner Ernühruug nötig hatte, erst da
konnte er Zeit und Kraft gewinnen, denken und sprechen zu lernen und sich
zu kultiviren. Wenn man sich einen Menschen im Naturzustande vorstellt,
ungekämmt und ungewaschen, nackt oder in Felle gehüllt, mit unentwickelter
Sprache, und dagegen einen Menschen auf der Höhe unsrer heutigen Kultur,
etwa einen Denker, Dichter oder .Künstler, so hat man in diesem ungeheuern
Unterschiede die Wirkung des Staates bis heute ausgedrückt. Die Geschichte
der Zivilisation ist nichts andres, als die Geschichte des siegreichen Kampfes
der Staatsgewalt wider die Sorte von persönlicher Freiheit, von der ich oben
ausgegangen bin.

Das Wesen des Staates besteht also darin, daß er mit der von ihm aus¬
gedrückten Gcsamtgewalt seiner einzelnen Angehörigen die rohe, natürliche, an
sich schrankenlose Macht der Einzelnen für den Gesamtzweck ordnet und orga-
nisirt, iudeiu er hier deu Starken einschränkt, dort den'Schwachen stützt, daß
er den angebornen, an sich schrankenlosen Egoismus der einzelnen Menschen
und Klassen den Bedingungen der allgemeinen Interessen unterwirft, und sein
letztes Ziel ist, jeden seiner Angehörigen in den Stand zu setzen, sich seines
Daseins nach Maßgabe der ihm von Gott verliehenen größern oder kleinern
Kräfte neben dem andern in Ruhe und Frieden zu erfreuen.

Nun hat es aber mit deu endlichen Dingen die Bewandtnis, daß sie in
einem Werden oder vielmehr einen,. Entstehen und Vergehen erscheinen (nicht
wirklich sind!), daß z. B. ein Eichbaum zu seinem Wachstum hundert Jahre
und länger braucht, Rom nicht in einem Tage erbaut wurde u. s. w. Das
endliche Ding Staat ist in uralter, vorgeschichtlicher Zeit entstanden und wird
erst mit deu Menschen selbst wieder verschwinden. Sehen wir uns ans einen
Augenblick seinen Entwicklungsprozeß in der geschichtlichen Zeit an.

Wir Sachsen haben im vergangenen Jahre ein schönes Fest gefeiert, das
^Wjährige Jubiläum unsers angestammten Herrscherhauses. Wie sah es in
Sachsen, in Deutschland aus, als wir mit deu Wettinern ansingen, und wie
sieht es heute aus? Damals gab es undurchdringliche Wälder und Sümpfe,


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[0499] Nach den Reichstagswahlen deinen Nächsten wie dich selbst" heute noch genau wie zu Jesu Zeit mit Füßen getreten wird, daß die Moral in unserm Gewerbe sich lediglich mit dem Strafgesetzbuche deckt, und mir das zur Not unterbleibt, was das Strafgesetz¬ buch verbietet. Es bleibt also nur die Gewalt, das Mittel des Staates übrig. Ja es lassen sich sogar Kirche und Schule oder irgend eine andre Erscheinung der .Kultur erst von der Zeit an denken, wo die Organisation des Staates, die Entwicklung der staatlichen Gewalt über den Einzelnen schon weite Fortschritte gemacht hatte. Erst als der durch den Staat geleistete Schutz des Lebens, des Eigentums, der Familie in altersgrauer Vorzeit so weit gediehen war, daß der einzelne Mensch nicht mehr nur wie das Tier seine ganze Kraft und Zeit zur Verteidigung seines Lebens und zu seiner Ernühruug nötig hatte, erst da konnte er Zeit und Kraft gewinnen, denken und sprechen zu lernen und sich zu kultiviren. Wenn man sich einen Menschen im Naturzustande vorstellt, ungekämmt und ungewaschen, nackt oder in Felle gehüllt, mit unentwickelter Sprache, und dagegen einen Menschen auf der Höhe unsrer heutigen Kultur, etwa einen Denker, Dichter oder .Künstler, so hat man in diesem ungeheuern Unterschiede die Wirkung des Staates bis heute ausgedrückt. Die Geschichte der Zivilisation ist nichts andres, als die Geschichte des siegreichen Kampfes der Staatsgewalt wider die Sorte von persönlicher Freiheit, von der ich oben ausgegangen bin. Das Wesen des Staates besteht also darin, daß er mit der von ihm aus¬ gedrückten Gcsamtgewalt seiner einzelnen Angehörigen die rohe, natürliche, an sich schrankenlose Macht der Einzelnen für den Gesamtzweck ordnet und orga- nisirt, iudeiu er hier deu Starken einschränkt, dort den'Schwachen stützt, daß er den angebornen, an sich schrankenlosen Egoismus der einzelnen Menschen und Klassen den Bedingungen der allgemeinen Interessen unterwirft, und sein letztes Ziel ist, jeden seiner Angehörigen in den Stand zu setzen, sich seines Daseins nach Maßgabe der ihm von Gott verliehenen größern oder kleinern Kräfte neben dem andern in Ruhe und Frieden zu erfreuen. Nun hat es aber mit deu endlichen Dingen die Bewandtnis, daß sie in einem Werden oder vielmehr einen,. Entstehen und Vergehen erscheinen (nicht wirklich sind!), daß z. B. ein Eichbaum zu seinem Wachstum hundert Jahre und länger braucht, Rom nicht in einem Tage erbaut wurde u. s. w. Das endliche Ding Staat ist in uralter, vorgeschichtlicher Zeit entstanden und wird erst mit deu Menschen selbst wieder verschwinden. Sehen wir uns ans einen Augenblick seinen Entwicklungsprozeß in der geschichtlichen Zeit an. Wir Sachsen haben im vergangenen Jahre ein schönes Fest gefeiert, das ^Wjährige Jubiläum unsers angestammten Herrscherhauses. Wie sah es in Sachsen, in Deutschland aus, als wir mit deu Wettinern ansingen, und wie sieht es heute aus? Damals gab es undurchdringliche Wälder und Sümpfe,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/499>, abgerufen am 23.07.2024.