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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Vorhang und Drama

ein geistloser Pedant von geringer Urteilskraft, aber eine aufmerksame Beob¬
achtung der von den Dichtern seiner Zeit geübten Praxis zeigt doch, daß sie
sich von der Theorie Hedelins nicht sehr unterscheidet.

Das Charakteristische aller Molwreschen Aktschlüsse ist, daß sie bei leerer
Bühne eintreten und so wenig als möglich fühlbar gemacht werden. Es geschieht
dies dadurch, daß die Personen um Schlüsse mit der Begründung, an einem
andern Orte etwas thun zu müssen, die Bühne verlassen und beim Wieder-
auftreten im nächsten Akt auf das im Zwischenakt vollbrachte hinweisen,
sodaß die Verbindung der Szenen auch hier gewahrt wird. Sehr selten -- nach
Hunderts, des bekannten Molierekenners, freundlicher Auskunft nur im
zweiten Akte des Dvxit arncmronx und des Don .Iran -- treten neue
Personen auf ohne Begründung ihres Auftretens; beim Dvpit, g,incmrsux
wird erst in der dritten Szene an den ersten Akt angeschlossen. Daß die
Motivirung mitunter ganz äußerlich und gemacht erscheint, beweist gerade
das Bestreben des Dichters, den Zusammenhang des ganzen Stückes und
die Verbindung der Szenen und Akte um jeden Preis herzustellen. Sehr
häufig werden die Zwischenakte durch Zwischenspiele ausgefüllt. Auch hier
leiten die Schlußworte des Aktes zum Zwischenspiel über, wie z. B. im Ein¬
gebildeten Kranken, wo am Schluß des zweiten Aktes Bernlde zu Argau sagt,
daß der Tanz einer gerade anniesenden Zigeunerbande ihm mehr helfen würde
als das Rezept des Doktors Purgon; hierauf beginnt das Spiel der Zigeuner;
ebenso um Schlüsse des ersten Aktes, wo die Begründung noch äußerlicher ist.
Dasselbe Gesetz gilt für die großen Tragödie" der französischen Bühne. Ein¬
heit der Zeit und des Ortes, Einheit der Handlung in dem Sinne, daß die
Szenen unmittelbar an einander anschließen, und ebenso die Aufzüge, mir daß
zwischen ihnen etwas an einem andern Orte geschieht, werden streng eingehalten.
Wo der Dichter gezwungen ist, die Zia"<>" ac" "poro" aufzugeben, wie Corneille
im Cinnn und im Brutus, entschuldigt er sich und erklärt die Notwendigkeit. In
der Semiramis nimmt Voltaire eine Dekorationsveränderung vor, ohne daß die
Personen entfernt werden, und sucht so über die Schwierigkeit hinweg zu kommen.

Der Einfluß Shakespeares auf das französische Drama und wohl anch
die Erkenntnis der dein Dichter unnötigerweise auferlegten Schranken ver¬
anlaßte, daß das Gesetz von der Einheit von Zeit und Ort allmählich weniger
streng eingehalten wurde. La Molech Auftreten gegen die drei Einheiten war
Wohl zuerst ohne Erfolg, aber man verstand sich doch schon zu Zugeständnissen.
Die Tageszeit wurde auf dreißig Stunden ausgedehnt und Ortsveränderung
bei Beginn des Aktes sparsam gestattet. Die Schauspieler deuteten derartige
Veränderungen in Worten oder Stellungen an. Für etwaige Veränderung
während des Aktes diente ein besonderer Hinterer Vorhang, der einen Teil der
Bühne abschloß. Marmontel in seiner 1'ex;die>n0 dran^iso (l763) hält sogar die
Berändernug des Ortes bei Beginn eines neuen Aktes für eine erlaubte Frei-


Grenzbvten 1 1890 SS
Vorhang und Drama

ein geistloser Pedant von geringer Urteilskraft, aber eine aufmerksame Beob¬
achtung der von den Dichtern seiner Zeit geübten Praxis zeigt doch, daß sie
sich von der Theorie Hedelins nicht sehr unterscheidet.

Das Charakteristische aller Molwreschen Aktschlüsse ist, daß sie bei leerer
Bühne eintreten und so wenig als möglich fühlbar gemacht werden. Es geschieht
dies dadurch, daß die Personen um Schlüsse mit der Begründung, an einem
andern Orte etwas thun zu müssen, die Bühne verlassen und beim Wieder-
auftreten im nächsten Akt auf das im Zwischenakt vollbrachte hinweisen,
sodaß die Verbindung der Szenen auch hier gewahrt wird. Sehr selten — nach
Hunderts, des bekannten Molierekenners, freundlicher Auskunft nur im
zweiten Akte des Dvxit arncmronx und des Don .Iran — treten neue
Personen auf ohne Begründung ihres Auftretens; beim Dvpit, g,incmrsux
wird erst in der dritten Szene an den ersten Akt angeschlossen. Daß die
Motivirung mitunter ganz äußerlich und gemacht erscheint, beweist gerade
das Bestreben des Dichters, den Zusammenhang des ganzen Stückes und
die Verbindung der Szenen und Akte um jeden Preis herzustellen. Sehr
häufig werden die Zwischenakte durch Zwischenspiele ausgefüllt. Auch hier
leiten die Schlußworte des Aktes zum Zwischenspiel über, wie z. B. im Ein¬
gebildeten Kranken, wo am Schluß des zweiten Aktes Bernlde zu Argau sagt,
daß der Tanz einer gerade anniesenden Zigeunerbande ihm mehr helfen würde
als das Rezept des Doktors Purgon; hierauf beginnt das Spiel der Zigeuner;
ebenso um Schlüsse des ersten Aktes, wo die Begründung noch äußerlicher ist.
Dasselbe Gesetz gilt für die großen Tragödie» der französischen Bühne. Ein¬
heit der Zeit und des Ortes, Einheit der Handlung in dem Sinne, daß die
Szenen unmittelbar an einander anschließen, und ebenso die Aufzüge, mir daß
zwischen ihnen etwas an einem andern Orte geschieht, werden streng eingehalten.
Wo der Dichter gezwungen ist, die Zia«<>» ac» «poro« aufzugeben, wie Corneille
im Cinnn und im Brutus, entschuldigt er sich und erklärt die Notwendigkeit. In
der Semiramis nimmt Voltaire eine Dekorationsveränderung vor, ohne daß die
Personen entfernt werden, und sucht so über die Schwierigkeit hinweg zu kommen.

Der Einfluß Shakespeares auf das französische Drama und wohl anch
die Erkenntnis der dein Dichter unnötigerweise auferlegten Schranken ver¬
anlaßte, daß das Gesetz von der Einheit von Zeit und Ort allmählich weniger
streng eingehalten wurde. La Molech Auftreten gegen die drei Einheiten war
Wohl zuerst ohne Erfolg, aber man verstand sich doch schon zu Zugeständnissen.
Die Tageszeit wurde auf dreißig Stunden ausgedehnt und Ortsveränderung
bei Beginn des Aktes sparsam gestattet. Die Schauspieler deuteten derartige
Veränderungen in Worten oder Stellungen an. Für etwaige Veränderung
während des Aktes diente ein besonderer Hinterer Vorhang, der einen Teil der
Bühne abschloß. Marmontel in seiner 1'ex;die>n0 dran^iso (l763) hält sogar die
Berändernug des Ortes bei Beginn eines neuen Aktes für eine erlaubte Frei-


Grenzbvten 1 1890 SS
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[0473] Vorhang und Drama ein geistloser Pedant von geringer Urteilskraft, aber eine aufmerksame Beob¬ achtung der von den Dichtern seiner Zeit geübten Praxis zeigt doch, daß sie sich von der Theorie Hedelins nicht sehr unterscheidet. Das Charakteristische aller Molwreschen Aktschlüsse ist, daß sie bei leerer Bühne eintreten und so wenig als möglich fühlbar gemacht werden. Es geschieht dies dadurch, daß die Personen um Schlüsse mit der Begründung, an einem andern Orte etwas thun zu müssen, die Bühne verlassen und beim Wieder- auftreten im nächsten Akt auf das im Zwischenakt vollbrachte hinweisen, sodaß die Verbindung der Szenen auch hier gewahrt wird. Sehr selten — nach Hunderts, des bekannten Molierekenners, freundlicher Auskunft nur im zweiten Akte des Dvxit arncmronx und des Don .Iran — treten neue Personen auf ohne Begründung ihres Auftretens; beim Dvpit, g,incmrsux wird erst in der dritten Szene an den ersten Akt angeschlossen. Daß die Motivirung mitunter ganz äußerlich und gemacht erscheint, beweist gerade das Bestreben des Dichters, den Zusammenhang des ganzen Stückes und die Verbindung der Szenen und Akte um jeden Preis herzustellen. Sehr häufig werden die Zwischenakte durch Zwischenspiele ausgefüllt. Auch hier leiten die Schlußworte des Aktes zum Zwischenspiel über, wie z. B. im Ein¬ gebildeten Kranken, wo am Schluß des zweiten Aktes Bernlde zu Argau sagt, daß der Tanz einer gerade anniesenden Zigeunerbande ihm mehr helfen würde als das Rezept des Doktors Purgon; hierauf beginnt das Spiel der Zigeuner; ebenso um Schlüsse des ersten Aktes, wo die Begründung noch äußerlicher ist. Dasselbe Gesetz gilt für die großen Tragödie» der französischen Bühne. Ein¬ heit der Zeit und des Ortes, Einheit der Handlung in dem Sinne, daß die Szenen unmittelbar an einander anschließen, und ebenso die Aufzüge, mir daß zwischen ihnen etwas an einem andern Orte geschieht, werden streng eingehalten. Wo der Dichter gezwungen ist, die Zia«<>» ac» «poro« aufzugeben, wie Corneille im Cinnn und im Brutus, entschuldigt er sich und erklärt die Notwendigkeit. In der Semiramis nimmt Voltaire eine Dekorationsveränderung vor, ohne daß die Personen entfernt werden, und sucht so über die Schwierigkeit hinweg zu kommen. Der Einfluß Shakespeares auf das französische Drama und wohl anch die Erkenntnis der dein Dichter unnötigerweise auferlegten Schranken ver¬ anlaßte, daß das Gesetz von der Einheit von Zeit und Ort allmählich weniger streng eingehalten wurde. La Molech Auftreten gegen die drei Einheiten war Wohl zuerst ohne Erfolg, aber man verstand sich doch schon zu Zugeständnissen. Die Tageszeit wurde auf dreißig Stunden ausgedehnt und Ortsveränderung bei Beginn des Aktes sparsam gestattet. Die Schauspieler deuteten derartige Veränderungen in Worten oder Stellungen an. Für etwaige Veränderung während des Aktes diente ein besonderer Hinterer Vorhang, der einen Teil der Bühne abschloß. Marmontel in seiner 1'ex;die>n0 dran^iso (l763) hält sogar die Berändernug des Ortes bei Beginn eines neuen Aktes für eine erlaubte Frei- Grenzbvten 1 1890 SS

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/473>, abgerufen am 23.07.2024.