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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen

überzusiedeln. Als Kind ihrer Zeit weiß Frau Aja von unsrer heutigen Liebe
zum Vaterlande, zum großen Deutschland wenig. Oft macht sie aus ihrer
Vorliebe für das Französische oder wenigstens einige Eigenschaften der Fran¬
zosen keinen Hehl; kann sie doch sogar ausrufen: "Meinetwegen mag das rechte
und liucke Rheinufer zugehören wem es will." Aber um Frankfurts Schicksal
ist die Schultheißeustochter sehr bekümmert. Als am Ende 1796 der Krieg
nach vielen Leiden beendet schien, schreibt sie an den Sohn: "Gott sei ewig
danck, daß unsre Verfassung geblieben ist, davor war mir am bangsten." Der
Schmerz über den Verlust der Neichsunmittelbnrkeit tritt gewiß nur
deshalb nicht so stark hervor, weil der "neue Herr" Frankfurts ihr und ihrem
Sohne längst bekannt und ihnen Freund und Gönner war.

Im Goethearchiv hat man Blätter durch die Bezeichnung von Goethes Hand
"Aristeia der Mutter" vereinigt gefunden. Wer mit einem empfänglichen Ge¬
müte die vorliegenden Briefe des treuen Mutterherzens gelesen hat, der wird
der herrlichen Gabe aus Weimar gern dieselbe Aufschrift geben.




Tagebuchblätter eines ^onntagsphilosophen
^5. <Lin Wunschzettel an den Zeitgeist

Zwölf-Reichen 18L!)/!,0

ämmernng. Es klopft -- herein! Knecht Ruprecht? Was willst
denn du bei einem alten Knaben, wie ich bin? Auch ist deine
Umgangszeit doch eigentlich vorbei.
"Ich bin nicht Knecht Ruprecht, und dn bist mir gegenüber
jung genng. Ich habe meine Freude dran, daß du bei so weißem
Barte noch so Kind im Herzen bist."

Ich lehne das Lob nicht ab, es entspricht meinen Wünschen. Aber was
bist du in der Maske des Knecht Ruprecht, der die Leute sostill beobachten
kann?

"Ich bin der Zeitgeist, und diese Maske war mir recht, weil in ihr unser¬
eins in dieser Zeit am besten durchkommen kann, allenfalls mich vor eurer
Polizei, die das alte Recht eurer Götter, in dieser Zeit unter den Menschen
umzugehen und nach dem Rechten zu sehen, noch heute achtet."

So --0? Ein seltsamer, unerhört hoher Besuch. Nun setz dich vorerst.

"Du siehst wohl, daß mein Gehen und Stehen mehr ein Schweben ist, wie
chrs im Traume auch schon könnt, das macht sich aber im Sitzen gar nicht gut."

Gut denn. Aber was führt dich zu mir?


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen

überzusiedeln. Als Kind ihrer Zeit weiß Frau Aja von unsrer heutigen Liebe
zum Vaterlande, zum großen Deutschland wenig. Oft macht sie aus ihrer
Vorliebe für das Französische oder wenigstens einige Eigenschaften der Fran¬
zosen keinen Hehl; kann sie doch sogar ausrufen: „Meinetwegen mag das rechte
und liucke Rheinufer zugehören wem es will." Aber um Frankfurts Schicksal
ist die Schultheißeustochter sehr bekümmert. Als am Ende 1796 der Krieg
nach vielen Leiden beendet schien, schreibt sie an den Sohn: „Gott sei ewig
danck, daß unsre Verfassung geblieben ist, davor war mir am bangsten." Der
Schmerz über den Verlust der Neichsunmittelbnrkeit tritt gewiß nur
deshalb nicht so stark hervor, weil der „neue Herr" Frankfurts ihr und ihrem
Sohne längst bekannt und ihnen Freund und Gönner war.

Im Goethearchiv hat man Blätter durch die Bezeichnung von Goethes Hand
„Aristeia der Mutter" vereinigt gefunden. Wer mit einem empfänglichen Ge¬
müte die vorliegenden Briefe des treuen Mutterherzens gelesen hat, der wird
der herrlichen Gabe aus Weimar gern dieselbe Aufschrift geben.




Tagebuchblätter eines ^onntagsphilosophen
^5. <Lin Wunschzettel an den Zeitgeist

Zwölf-Reichen 18L!)/!,0

ämmernng. Es klopft — herein! Knecht Ruprecht? Was willst
denn du bei einem alten Knaben, wie ich bin? Auch ist deine
Umgangszeit doch eigentlich vorbei.
„Ich bin nicht Knecht Ruprecht, und dn bist mir gegenüber
jung genng. Ich habe meine Freude dran, daß du bei so weißem
Barte noch so Kind im Herzen bist."

Ich lehne das Lob nicht ab, es entspricht meinen Wünschen. Aber was
bist du in der Maske des Knecht Ruprecht, der die Leute sostill beobachten
kann?

„Ich bin der Zeitgeist, und diese Maske war mir recht, weil in ihr unser¬
eins in dieser Zeit am besten durchkommen kann, allenfalls mich vor eurer
Polizei, die das alte Recht eurer Götter, in dieser Zeit unter den Menschen
umzugehen und nach dem Rechten zu sehen, noch heute achtet."

So —0? Ein seltsamer, unerhört hoher Besuch. Nun setz dich vorerst.

„Du siehst wohl, daß mein Gehen und Stehen mehr ein Schweben ist, wie
chrs im Traume auch schon könnt, das macht sich aber im Sitzen gar nicht gut."

Gut denn. Aber was führt dich zu mir?


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[0047] Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen überzusiedeln. Als Kind ihrer Zeit weiß Frau Aja von unsrer heutigen Liebe zum Vaterlande, zum großen Deutschland wenig. Oft macht sie aus ihrer Vorliebe für das Französische oder wenigstens einige Eigenschaften der Fran¬ zosen keinen Hehl; kann sie doch sogar ausrufen: „Meinetwegen mag das rechte und liucke Rheinufer zugehören wem es will." Aber um Frankfurts Schicksal ist die Schultheißeustochter sehr bekümmert. Als am Ende 1796 der Krieg nach vielen Leiden beendet schien, schreibt sie an den Sohn: „Gott sei ewig danck, daß unsre Verfassung geblieben ist, davor war mir am bangsten." Der Schmerz über den Verlust der Neichsunmittelbnrkeit tritt gewiß nur deshalb nicht so stark hervor, weil der „neue Herr" Frankfurts ihr und ihrem Sohne längst bekannt und ihnen Freund und Gönner war. Im Goethearchiv hat man Blätter durch die Bezeichnung von Goethes Hand „Aristeia der Mutter" vereinigt gefunden. Wer mit einem empfänglichen Ge¬ müte die vorliegenden Briefe des treuen Mutterherzens gelesen hat, der wird der herrlichen Gabe aus Weimar gern dieselbe Aufschrift geben. Tagebuchblätter eines ^onntagsphilosophen ^5. <Lin Wunschzettel an den Zeitgeist Zwölf-Reichen 18L!)/!,0 ämmernng. Es klopft — herein! Knecht Ruprecht? Was willst denn du bei einem alten Knaben, wie ich bin? Auch ist deine Umgangszeit doch eigentlich vorbei. „Ich bin nicht Knecht Ruprecht, und dn bist mir gegenüber jung genng. Ich habe meine Freude dran, daß du bei so weißem Barte noch so Kind im Herzen bist." Ich lehne das Lob nicht ab, es entspricht meinen Wünschen. Aber was bist du in der Maske des Knecht Ruprecht, der die Leute sostill beobachten kann? „Ich bin der Zeitgeist, und diese Maske war mir recht, weil in ihr unser¬ eins in dieser Zeit am besten durchkommen kann, allenfalls mich vor eurer Polizei, die das alte Recht eurer Götter, in dieser Zeit unter den Menschen umzugehen und nach dem Rechten zu sehen, noch heute achtet." So —0? Ein seltsamer, unerhört hoher Besuch. Nun setz dich vorerst. „Du siehst wohl, daß mein Gehen und Stehen mehr ein Schweben ist, wie chrs im Traume auch schon könnt, das macht sich aber im Sitzen gar nicht gut." Gut denn. Aber was führt dich zu mir?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/47>, abgerufen am 23.07.2024.