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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Vorhang und Drama

Es läßt sich wohl kaum el" größerer Gegensatz denken, als die streng ge¬
schlossene Einheit der Handlung, der Zeit und des Ortes und die Einfachheit
des Aufbaus der griechischen Tragödie, und die abwechslungsreiche, von den
Schranken des Ortes und der Zeit sich lossagende, nicht eine Handlung, sondern
gewaltige Ereignisse der Geschichte, Menschenmassen auf die Bühne führende
Technik Shakespeares. Wenn dort eine auch äußerlich hervortretende Scheidung
des Stoffes entbehrlich war, hier bei dem vielfachen Wechsel des Ortes, bei
dem reichen dramatischen Leben erscheint uns ein Abschließen der Bühne, bevor
das neue Bild den Zuschauer vorgeführt wurde, notwendig. Und doch steht
Shakespeare mit seinen Aktschlüssen auf demselben Standpunkte wie Donat.
Die Erklärung hierfür liegt einmal darin, daß das ganze Stück bei offner
Bühne gespielt wurde, der Vorhang also noch nicht den Aktschluß bezeichnete,
und ferner in dem Ma>?gel der damaligen Bühne an allen technischen Hülfs¬
mitteln: "die Armut der Bühne wurde dem Genius Shakespeares der größte
Reichtum." Er hatte es leicht, mit Ort und Zeit umzuspringen, wie er wollte;
denn ein Bühnenraum, der gar keine Dekorationen und keine Kulissen kannte,
stellte alles das dar, was der Dichter wollte. Je nach dem Wunsche und nach
kleinen Andeutungen des Dichters hielten seine genügsamen Zuschauer den Vorder¬
raum der Bühne bald für eine Straße, bald für ein Zimmer oder einen Garten,
wie es uns in der Apologie der Dichtkunst von Philipp situes 158!! geschildert
wird. "In den meisten Stücken hat man Asien auf der einen Seite und Afrika
auf der andern, und dazu so viele andre Nebenreiche, daß der Spieler, wenn
er auftritt, immer damit beginnen muß, zu sagen, wo er ist. ES kommen drei
Frauen und sammeln Blumen, dann müssen wir die Bühne für einen Garten
halten; sogleich hören wir von einem Schiffbruch auf demselben Platze, und
wir sind also zu tadeln, wenn wir ihn nichr für einen Felsen nehmen. Es
erscheint auf ihm ein furchtbares Ungeheuer mit Dampf und Feuer, dann sind
die armen Zuschauer genötigt, ihn für eine Hölle zu achten; inzwischen fliegen
zwei Armeen herein, dargestellt durch vier Schwerter und Schilde, und welches
Herz wollte dann so hart sein, den Platz nicht für ein Schlachtfeld zu halten!"
Darum war auch bei Shakespeare ein Fallen des Vorhangs im Zwischenakt
nicht nötig. Eine Art von Vorhang, der die Bühne vom Publikum vor und
nach der Aufführung trennte, besaß Shakespeare "einen Vorhang -- wie Lessing
sagt -- von schlechtem, grobem Zeug." In Cibber" lüvo" ot' Anz ?ost" et'
^rs^t IZritMi g.na Iröllrnd (2, S. 78.) ist zu lesen: "Unter der Regierung
Karls I. gab es weiter nichts als einen Vorhang von sehr grobem Stoff, bei
dessen Anfgnng die Bühne entweder mit kahlen Seitenwänden, die nur not¬
dürftig mit Matten bedeckt waren, oder mit Teppichen behängt erschien, sodaß
für den ursprünglichen Ort der Handlung und alle folgenden Veränderungen,
bei deren Anwendung die Dichter jener Zeit sich frei gehen lassen konnten,
nichts dem Verständnis des Dichters zu Hilfe kam, nichts auch die Darstellung


Vorhang und Drama

Es läßt sich wohl kaum el» größerer Gegensatz denken, als die streng ge¬
schlossene Einheit der Handlung, der Zeit und des Ortes und die Einfachheit
des Aufbaus der griechischen Tragödie, und die abwechslungsreiche, von den
Schranken des Ortes und der Zeit sich lossagende, nicht eine Handlung, sondern
gewaltige Ereignisse der Geschichte, Menschenmassen auf die Bühne führende
Technik Shakespeares. Wenn dort eine auch äußerlich hervortretende Scheidung
des Stoffes entbehrlich war, hier bei dem vielfachen Wechsel des Ortes, bei
dem reichen dramatischen Leben erscheint uns ein Abschließen der Bühne, bevor
das neue Bild den Zuschauer vorgeführt wurde, notwendig. Und doch steht
Shakespeare mit seinen Aktschlüssen auf demselben Standpunkte wie Donat.
Die Erklärung hierfür liegt einmal darin, daß das ganze Stück bei offner
Bühne gespielt wurde, der Vorhang also noch nicht den Aktschluß bezeichnete,
und ferner in dem Ma>?gel der damaligen Bühne an allen technischen Hülfs¬
mitteln: „die Armut der Bühne wurde dem Genius Shakespeares der größte
Reichtum." Er hatte es leicht, mit Ort und Zeit umzuspringen, wie er wollte;
denn ein Bühnenraum, der gar keine Dekorationen und keine Kulissen kannte,
stellte alles das dar, was der Dichter wollte. Je nach dem Wunsche und nach
kleinen Andeutungen des Dichters hielten seine genügsamen Zuschauer den Vorder¬
raum der Bühne bald für eine Straße, bald für ein Zimmer oder einen Garten,
wie es uns in der Apologie der Dichtkunst von Philipp situes 158!! geschildert
wird. „In den meisten Stücken hat man Asien auf der einen Seite und Afrika
auf der andern, und dazu so viele andre Nebenreiche, daß der Spieler, wenn
er auftritt, immer damit beginnen muß, zu sagen, wo er ist. ES kommen drei
Frauen und sammeln Blumen, dann müssen wir die Bühne für einen Garten
halten; sogleich hören wir von einem Schiffbruch auf demselben Platze, und
wir sind also zu tadeln, wenn wir ihn nichr für einen Felsen nehmen. Es
erscheint auf ihm ein furchtbares Ungeheuer mit Dampf und Feuer, dann sind
die armen Zuschauer genötigt, ihn für eine Hölle zu achten; inzwischen fliegen
zwei Armeen herein, dargestellt durch vier Schwerter und Schilde, und welches
Herz wollte dann so hart sein, den Platz nicht für ein Schlachtfeld zu halten!"
Darum war auch bei Shakespeare ein Fallen des Vorhangs im Zwischenakt
nicht nötig. Eine Art von Vorhang, der die Bühne vom Publikum vor und
nach der Aufführung trennte, besaß Shakespeare „einen Vorhang — wie Lessing
sagt — von schlechtem, grobem Zeug." In Cibber« lüvo« ot' Anz ?ost« et'
^rs^t IZritMi g.na Iröllrnd (2, S. 78.) ist zu lesen: „Unter der Regierung
Karls I. gab es weiter nichts als einen Vorhang von sehr grobem Stoff, bei
dessen Anfgnng die Bühne entweder mit kahlen Seitenwänden, die nur not¬
dürftig mit Matten bedeckt waren, oder mit Teppichen behängt erschien, sodaß
für den ursprünglichen Ort der Handlung und alle folgenden Veränderungen,
bei deren Anwendung die Dichter jener Zeit sich frei gehen lassen konnten,
nichts dem Verständnis des Dichters zu Hilfe kam, nichts auch die Darstellung


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[0469] Vorhang und Drama Es läßt sich wohl kaum el» größerer Gegensatz denken, als die streng ge¬ schlossene Einheit der Handlung, der Zeit und des Ortes und die Einfachheit des Aufbaus der griechischen Tragödie, und die abwechslungsreiche, von den Schranken des Ortes und der Zeit sich lossagende, nicht eine Handlung, sondern gewaltige Ereignisse der Geschichte, Menschenmassen auf die Bühne führende Technik Shakespeares. Wenn dort eine auch äußerlich hervortretende Scheidung des Stoffes entbehrlich war, hier bei dem vielfachen Wechsel des Ortes, bei dem reichen dramatischen Leben erscheint uns ein Abschließen der Bühne, bevor das neue Bild den Zuschauer vorgeführt wurde, notwendig. Und doch steht Shakespeare mit seinen Aktschlüssen auf demselben Standpunkte wie Donat. Die Erklärung hierfür liegt einmal darin, daß das ganze Stück bei offner Bühne gespielt wurde, der Vorhang also noch nicht den Aktschluß bezeichnete, und ferner in dem Ma>?gel der damaligen Bühne an allen technischen Hülfs¬ mitteln: „die Armut der Bühne wurde dem Genius Shakespeares der größte Reichtum." Er hatte es leicht, mit Ort und Zeit umzuspringen, wie er wollte; denn ein Bühnenraum, der gar keine Dekorationen und keine Kulissen kannte, stellte alles das dar, was der Dichter wollte. Je nach dem Wunsche und nach kleinen Andeutungen des Dichters hielten seine genügsamen Zuschauer den Vorder¬ raum der Bühne bald für eine Straße, bald für ein Zimmer oder einen Garten, wie es uns in der Apologie der Dichtkunst von Philipp situes 158!! geschildert wird. „In den meisten Stücken hat man Asien auf der einen Seite und Afrika auf der andern, und dazu so viele andre Nebenreiche, daß der Spieler, wenn er auftritt, immer damit beginnen muß, zu sagen, wo er ist. ES kommen drei Frauen und sammeln Blumen, dann müssen wir die Bühne für einen Garten halten; sogleich hören wir von einem Schiffbruch auf demselben Platze, und wir sind also zu tadeln, wenn wir ihn nichr für einen Felsen nehmen. Es erscheint auf ihm ein furchtbares Ungeheuer mit Dampf und Feuer, dann sind die armen Zuschauer genötigt, ihn für eine Hölle zu achten; inzwischen fliegen zwei Armeen herein, dargestellt durch vier Schwerter und Schilde, und welches Herz wollte dann so hart sein, den Platz nicht für ein Schlachtfeld zu halten!" Darum war auch bei Shakespeare ein Fallen des Vorhangs im Zwischenakt nicht nötig. Eine Art von Vorhang, der die Bühne vom Publikum vor und nach der Aufführung trennte, besaß Shakespeare „einen Vorhang — wie Lessing sagt — von schlechtem, grobem Zeug." In Cibber« lüvo« ot' Anz ?ost« et' ^rs^t IZritMi g.na Iröllrnd (2, S. 78.) ist zu lesen: „Unter der Regierung Karls I. gab es weiter nichts als einen Vorhang von sehr grobem Stoff, bei dessen Anfgnng die Bühne entweder mit kahlen Seitenwänden, die nur not¬ dürftig mit Matten bedeckt waren, oder mit Teppichen behängt erschien, sodaß für den ursprünglichen Ort der Handlung und alle folgenden Veränderungen, bei deren Anwendung die Dichter jener Zeit sich frei gehen lassen konnten, nichts dem Verständnis des Dichters zu Hilfe kam, nichts auch die Darstellung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/469>, abgerufen am 23.07.2024.