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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Die Aennzeichenlohre Giovanni Morellis

dabei auch das Studium der umgebenden Natur keinen Tag vernachlässigen
darf; will er die Werke der Kunst verstehen, so muß er doch selbst Künstler
sein, d. h. er muß lernen, die Menschen und Dinge um sich herum mit dem
Auge des Künstlers anzusehen." (Es verdient hier bemerkt zu werden, daß
Hermann Grimm, der bei Morelli, wie ich glaube, nicht in sonderlichen Ansehn
steht, schon vor länger als zwanzig Jahren mit Nachdruck auf den Nutzen
hinwies, deu die tägliche Beschäftigung mit Photographien nach Kunstwerken
und ihr vergleichendes Studium deu Schillern bringen können.) Dem künftigen
Knnstgeschichtsschreiber müsse, so schließt Morelli diesen propädeutischen Teil
seiner Lehre, "die Grundzüge seiner Geschichte in der Pinakothek und nicht
etwa in der Bibliothek aufgehen; um Kunsthistoriker zu werden, muß man vor
allem .Kunstkenner sein." Der Weg zur wahren Knnsterieuutuis geht ihm nur
durch "ein eindringliches, unausgesetztes Studium der Form und der Technik.
Der angeborene Kunstsinn, der durch Nbung zur Intuition wird, reicht nicht
aus für die Kunstwissenschaft, wenn er nicht durch langwieriges Studium der
Kunstwerke selbst verfeinert und ausgebildet wird."

Man hat der Lehre Mvrellis unter andern Vorwürfen auch den gemacht,
daß die Beurteilung von Gemälden u. s. w. nach rein äußerliche" Merkmalen
am Eude zu einer rein mechanischen Klassifiziruug der Kunstwerke führen müsse.
Daß es damit keine Gefahr hat, kann man fast auf jeder Seite des Moralischen
Buches sehen. Er zieht den schönsten und reinsten Gewinn, den uns ein
wirkliches Kunstwerk bieten kann, die Begeistrung und Erhebung ebenso gut
wie die, die ihr Urteil zunächst durch deu sogenannten "Totaleindruck" bestimmen
lassen, und es scheint am Ende, als ob der ganze Zwist zwischen Morelli und
seineu Gegnern auf die alte philosophische Streitfrage hinaufliefe, welche Methode
des Denkens der wahren Erkenntnis der Dinge näher bringe, die empirische
"der die aphoristische. In demjenigen Punkt, um deu sich der wissenschaftliche
Streit der Bilderforscher gegenwärtig am lebhaftesten dreht, in der Bestimmung
der Bilder und ihrer Schöpfer, giebt Morelli selbst zu, daß es, wenn man
die Sache vom höchsten Standpunkte ans ansehe, in der Tat ganz gleichgültig
si-'i' "ob ein Kunstwerk uuter diesem oder unter jenem Namen Genuß und Be¬
lehrung gewährt; die Hauptsache bleibt ja doch immer, daß es mir überhaupt
Freude bringt, d. h. daß es meinen Geist auf angenehme Art berührt, daß es, ivie
die Deutschen sagen, die zartesten Saiten oder Fäden meiner Seele erzittern macht.
Und zum Glück der Menschheit geschieht dies täglich in allen Bildergalerien
Europas, allen Mängeln zum Trotz, welche pedantische Kunstkritiker in den
Katalogen aufzufinden sich abplagen. Ein Gemälde, sagt ja ein alter Professor
der Ästhetik, ist gleich einer Blume des Feldes: zarte, reine Seelen freuen sich
derselben, unbekümmert darum, ob gelehrte Botaniker sie zu deu Nvsaeeen oder
den Malvaceen zu klassifiziren sich gefallen."




Die Aennzeichenlohre Giovanni Morellis

dabei auch das Studium der umgebenden Natur keinen Tag vernachlässigen
darf; will er die Werke der Kunst verstehen, so muß er doch selbst Künstler
sein, d. h. er muß lernen, die Menschen und Dinge um sich herum mit dem
Auge des Künstlers anzusehen." (Es verdient hier bemerkt zu werden, daß
Hermann Grimm, der bei Morelli, wie ich glaube, nicht in sonderlichen Ansehn
steht, schon vor länger als zwanzig Jahren mit Nachdruck auf den Nutzen
hinwies, deu die tägliche Beschäftigung mit Photographien nach Kunstwerken
und ihr vergleichendes Studium deu Schillern bringen können.) Dem künftigen
Knnstgeschichtsschreiber müsse, so schließt Morelli diesen propädeutischen Teil
seiner Lehre, „die Grundzüge seiner Geschichte in der Pinakothek und nicht
etwa in der Bibliothek aufgehen; um Kunsthistoriker zu werden, muß man vor
allem .Kunstkenner sein." Der Weg zur wahren Knnsterieuutuis geht ihm nur
durch „ein eindringliches, unausgesetztes Studium der Form und der Technik.
Der angeborene Kunstsinn, der durch Nbung zur Intuition wird, reicht nicht
aus für die Kunstwissenschaft, wenn er nicht durch langwieriges Studium der
Kunstwerke selbst verfeinert und ausgebildet wird."

Man hat der Lehre Mvrellis unter andern Vorwürfen auch den gemacht,
daß die Beurteilung von Gemälden u. s. w. nach rein äußerliche« Merkmalen
am Eude zu einer rein mechanischen Klassifiziruug der Kunstwerke führen müsse.
Daß es damit keine Gefahr hat, kann man fast auf jeder Seite des Moralischen
Buches sehen. Er zieht den schönsten und reinsten Gewinn, den uns ein
wirkliches Kunstwerk bieten kann, die Begeistrung und Erhebung ebenso gut
wie die, die ihr Urteil zunächst durch deu sogenannten „Totaleindruck" bestimmen
lassen, und es scheint am Ende, als ob der ganze Zwist zwischen Morelli und
seineu Gegnern auf die alte philosophische Streitfrage hinaufliefe, welche Methode
des Denkens der wahren Erkenntnis der Dinge näher bringe, die empirische
»der die aphoristische. In demjenigen Punkt, um deu sich der wissenschaftliche
Streit der Bilderforscher gegenwärtig am lebhaftesten dreht, in der Bestimmung
der Bilder und ihrer Schöpfer, giebt Morelli selbst zu, daß es, wenn man
die Sache vom höchsten Standpunkte ans ansehe, in der Tat ganz gleichgültig
si-'i' „ob ein Kunstwerk uuter diesem oder unter jenem Namen Genuß und Be¬
lehrung gewährt; die Hauptsache bleibt ja doch immer, daß es mir überhaupt
Freude bringt, d. h. daß es meinen Geist auf angenehme Art berührt, daß es, ivie
die Deutschen sagen, die zartesten Saiten oder Fäden meiner Seele erzittern macht.
Und zum Glück der Menschheit geschieht dies täglich in allen Bildergalerien
Europas, allen Mängeln zum Trotz, welche pedantische Kunstkritiker in den
Katalogen aufzufinden sich abplagen. Ein Gemälde, sagt ja ein alter Professor
der Ästhetik, ist gleich einer Blume des Feldes: zarte, reine Seelen freuen sich
derselben, unbekümmert darum, ob gelehrte Botaniker sie zu deu Nvsaeeen oder
den Malvaceen zu klassifiziren sich gefallen."




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[0447] Die Aennzeichenlohre Giovanni Morellis dabei auch das Studium der umgebenden Natur keinen Tag vernachlässigen darf; will er die Werke der Kunst verstehen, so muß er doch selbst Künstler sein, d. h. er muß lernen, die Menschen und Dinge um sich herum mit dem Auge des Künstlers anzusehen." (Es verdient hier bemerkt zu werden, daß Hermann Grimm, der bei Morelli, wie ich glaube, nicht in sonderlichen Ansehn steht, schon vor länger als zwanzig Jahren mit Nachdruck auf den Nutzen hinwies, deu die tägliche Beschäftigung mit Photographien nach Kunstwerken und ihr vergleichendes Studium deu Schillern bringen können.) Dem künftigen Knnstgeschichtsschreiber müsse, so schließt Morelli diesen propädeutischen Teil seiner Lehre, „die Grundzüge seiner Geschichte in der Pinakothek und nicht etwa in der Bibliothek aufgehen; um Kunsthistoriker zu werden, muß man vor allem .Kunstkenner sein." Der Weg zur wahren Knnsterieuutuis geht ihm nur durch „ein eindringliches, unausgesetztes Studium der Form und der Technik. Der angeborene Kunstsinn, der durch Nbung zur Intuition wird, reicht nicht aus für die Kunstwissenschaft, wenn er nicht durch langwieriges Studium der Kunstwerke selbst verfeinert und ausgebildet wird." Man hat der Lehre Mvrellis unter andern Vorwürfen auch den gemacht, daß die Beurteilung von Gemälden u. s. w. nach rein äußerliche« Merkmalen am Eude zu einer rein mechanischen Klassifiziruug der Kunstwerke führen müsse. Daß es damit keine Gefahr hat, kann man fast auf jeder Seite des Moralischen Buches sehen. Er zieht den schönsten und reinsten Gewinn, den uns ein wirkliches Kunstwerk bieten kann, die Begeistrung und Erhebung ebenso gut wie die, die ihr Urteil zunächst durch deu sogenannten „Totaleindruck" bestimmen lassen, und es scheint am Ende, als ob der ganze Zwist zwischen Morelli und seineu Gegnern auf die alte philosophische Streitfrage hinaufliefe, welche Methode des Denkens der wahren Erkenntnis der Dinge näher bringe, die empirische »der die aphoristische. In demjenigen Punkt, um deu sich der wissenschaftliche Streit der Bilderforscher gegenwärtig am lebhaftesten dreht, in der Bestimmung der Bilder und ihrer Schöpfer, giebt Morelli selbst zu, daß es, wenn man die Sache vom höchsten Standpunkte ans ansehe, in der Tat ganz gleichgültig si-'i' „ob ein Kunstwerk uuter diesem oder unter jenem Namen Genuß und Be¬ lehrung gewährt; die Hauptsache bleibt ja doch immer, daß es mir überhaupt Freude bringt, d. h. daß es meinen Geist auf angenehme Art berührt, daß es, ivie die Deutschen sagen, die zartesten Saiten oder Fäden meiner Seele erzittern macht. Und zum Glück der Menschheit geschieht dies täglich in allen Bildergalerien Europas, allen Mängeln zum Trotz, welche pedantische Kunstkritiker in den Katalogen aufzufinden sich abplagen. Ein Gemälde, sagt ja ein alter Professor der Ästhetik, ist gleich einer Blume des Feldes: zarte, reine Seelen freuen sich derselben, unbekümmert darum, ob gelehrte Botaniker sie zu deu Nvsaeeen oder den Malvaceen zu klassifiziren sich gefallen."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/447>, abgerufen am 23.07.2024.