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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Die Reimzeichvnlehre Giovanni lNorellis

goldnen Verzierungen am Kleide und die Behandlung des Pelzwerkes, zu
Gunsten Raffaels gellend geinncht hat, wie Morelli für Sebastiano. Der
"Cicerone" nennt die ivirkliche Fornarina in der Galerie Barberini, die fast
nackte Halbfigur einer sitzenden Frau mit dem Namen Raffaels auf dem Arm¬
bande, "daS eigenhändige Exemplar, unbegreiflicher Weise in neuester Zeit
angezweifelt," während Morelli in diesem Bilde nicht die Hand Raffaels, sondern
die seines Schülers Giulio Romano erkennen will. Das schöne, unter dem
Namen Damm völatg, sdie Dame mit dein Schleier) bekannte Frauenbild im
Palazzo Pitti wird im "Cicerone" als eine bvlvgnesische Kopie nach Nnsfael
bezeichnet, Wegegen Morelli dieses "Prachtbildnis" für eine eigenhändige Arbeit
des Meisters hält, aus der "Raffaels göttlicher Geist" ganz besonders deutlich
spreche.

Doch genug der Meinungsverschiedenheiten nud der Polemik, zumal da
bei so schroffen Widersprüchen die Hoffnung ausgeschlossen erscheint, daß zwischen
den streitenden Parteien jemals eine Einigung zu erzielen sein werde. Wenn
die empirische Methode Morellis wieder nicht die richtige ist, die zur Erkenntnis
der Wahrheit führt, so wird man sich eben in Geduld fassen müssen, bis man
die richtige gefunden hat. Noch ist aber die völlige Verkehrtheit der Morellischeu
Kennzeichenlehre ebensowenig dargethan, wie die "Becinflnssnngstheorie" wieder
ihr altes Ansehn gewonnen hat, und deshalb sei es gestattet, noch einige der
anziehendsten Stellen aus dem Buch des Jtalieners hervorzuheben, der übrigens
vorurteilsfrei genug ist, sich gelegentlich mich selbst zu verspotten. Bittet er doch
einmal in einem der erdichteten Zwiegespräche, in die er seine Beweisführung,
um sie lebendiger und eindringlicher zu machen, einzukleiden liebt, seinen Führer
in den Ufsizien, er möge in seiner Anführung von Beispielen innehalten, "denn
sonst möchte in meinem Kopf eine solche Konfusion entstehen, daß ich vor lauter
Ohren und Händen und Nägeln nicht mehr imstande sein dürfte, die Bilder
selbst zu sehen."

In Wahrheit ist es ihm bittrer Ernst mit seiner Theorie. Sie ist ihm
die erste Grundlage für die Schulung des Auges und mithin der gesamten
Kunsterkenntnis, und er spricht mit Beziehung darauf manches goldne Wort,
das auch von den entschiedensten Gegnern der Kennzeichenlehre beherzigt zu
werden verdiente. "Der Schüler sollte vor allem lernen, das Kunstwerk so
vernünftig und liebevoll zu befragen, bis das Bild oder die Statue, durch seine
einsichtsvolle Liebe erwärmt, ihm Autwort giebt, und so muß doch die Grund¬
lage alles Kunststndinms die Form nud die Technik bleiben. Wie der Botaniker
unter seinen Pflanzen, frischen und getrockneten, der Mineralog und Geolog
unter seinen Steinen und Fossilien lebt und webt, so soll der Kunstkenner
zwischen seinen Photographien, und ist er wohlhabend, womöglich auch unter
Gemälden und Statuen leben. Das ist seine Welt, worin er das Auge täglich
zu üben und zu verfeinern hat. Es versteht sich von selbst, daß der Kunstfreund


Die Reimzeichvnlehre Giovanni lNorellis

goldnen Verzierungen am Kleide und die Behandlung des Pelzwerkes, zu
Gunsten Raffaels gellend geinncht hat, wie Morelli für Sebastiano. Der
„Cicerone" nennt die ivirkliche Fornarina in der Galerie Barberini, die fast
nackte Halbfigur einer sitzenden Frau mit dem Namen Raffaels auf dem Arm¬
bande, „daS eigenhändige Exemplar, unbegreiflicher Weise in neuester Zeit
angezweifelt," während Morelli in diesem Bilde nicht die Hand Raffaels, sondern
die seines Schülers Giulio Romano erkennen will. Das schöne, unter dem
Namen Damm völatg, sdie Dame mit dein Schleier) bekannte Frauenbild im
Palazzo Pitti wird im „Cicerone" als eine bvlvgnesische Kopie nach Nnsfael
bezeichnet, Wegegen Morelli dieses „Prachtbildnis" für eine eigenhändige Arbeit
des Meisters hält, aus der „Raffaels göttlicher Geist" ganz besonders deutlich
spreche.

Doch genug der Meinungsverschiedenheiten nud der Polemik, zumal da
bei so schroffen Widersprüchen die Hoffnung ausgeschlossen erscheint, daß zwischen
den streitenden Parteien jemals eine Einigung zu erzielen sein werde. Wenn
die empirische Methode Morellis wieder nicht die richtige ist, die zur Erkenntnis
der Wahrheit führt, so wird man sich eben in Geduld fassen müssen, bis man
die richtige gefunden hat. Noch ist aber die völlige Verkehrtheit der Morellischeu
Kennzeichenlehre ebensowenig dargethan, wie die „Becinflnssnngstheorie" wieder
ihr altes Ansehn gewonnen hat, und deshalb sei es gestattet, noch einige der
anziehendsten Stellen aus dem Buch des Jtalieners hervorzuheben, der übrigens
vorurteilsfrei genug ist, sich gelegentlich mich selbst zu verspotten. Bittet er doch
einmal in einem der erdichteten Zwiegespräche, in die er seine Beweisführung,
um sie lebendiger und eindringlicher zu machen, einzukleiden liebt, seinen Führer
in den Ufsizien, er möge in seiner Anführung von Beispielen innehalten, „denn
sonst möchte in meinem Kopf eine solche Konfusion entstehen, daß ich vor lauter
Ohren und Händen und Nägeln nicht mehr imstande sein dürfte, die Bilder
selbst zu sehen."

In Wahrheit ist es ihm bittrer Ernst mit seiner Theorie. Sie ist ihm
die erste Grundlage für die Schulung des Auges und mithin der gesamten
Kunsterkenntnis, und er spricht mit Beziehung darauf manches goldne Wort,
das auch von den entschiedensten Gegnern der Kennzeichenlehre beherzigt zu
werden verdiente. „Der Schüler sollte vor allem lernen, das Kunstwerk so
vernünftig und liebevoll zu befragen, bis das Bild oder die Statue, durch seine
einsichtsvolle Liebe erwärmt, ihm Autwort giebt, und so muß doch die Grund¬
lage alles Kunststndinms die Form nud die Technik bleiben. Wie der Botaniker
unter seinen Pflanzen, frischen und getrockneten, der Mineralog und Geolog
unter seinen Steinen und Fossilien lebt und webt, so soll der Kunstkenner
zwischen seinen Photographien, und ist er wohlhabend, womöglich auch unter
Gemälden und Statuen leben. Das ist seine Welt, worin er das Auge täglich
zu üben und zu verfeinern hat. Es versteht sich von selbst, daß der Kunstfreund


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[0446] Die Reimzeichvnlehre Giovanni lNorellis goldnen Verzierungen am Kleide und die Behandlung des Pelzwerkes, zu Gunsten Raffaels gellend geinncht hat, wie Morelli für Sebastiano. Der „Cicerone" nennt die ivirkliche Fornarina in der Galerie Barberini, die fast nackte Halbfigur einer sitzenden Frau mit dem Namen Raffaels auf dem Arm¬ bande, „daS eigenhändige Exemplar, unbegreiflicher Weise in neuester Zeit angezweifelt," während Morelli in diesem Bilde nicht die Hand Raffaels, sondern die seines Schülers Giulio Romano erkennen will. Das schöne, unter dem Namen Damm völatg, sdie Dame mit dein Schleier) bekannte Frauenbild im Palazzo Pitti wird im „Cicerone" als eine bvlvgnesische Kopie nach Nnsfael bezeichnet, Wegegen Morelli dieses „Prachtbildnis" für eine eigenhändige Arbeit des Meisters hält, aus der „Raffaels göttlicher Geist" ganz besonders deutlich spreche. Doch genug der Meinungsverschiedenheiten nud der Polemik, zumal da bei so schroffen Widersprüchen die Hoffnung ausgeschlossen erscheint, daß zwischen den streitenden Parteien jemals eine Einigung zu erzielen sein werde. Wenn die empirische Methode Morellis wieder nicht die richtige ist, die zur Erkenntnis der Wahrheit führt, so wird man sich eben in Geduld fassen müssen, bis man die richtige gefunden hat. Noch ist aber die völlige Verkehrtheit der Morellischeu Kennzeichenlehre ebensowenig dargethan, wie die „Becinflnssnngstheorie" wieder ihr altes Ansehn gewonnen hat, und deshalb sei es gestattet, noch einige der anziehendsten Stellen aus dem Buch des Jtalieners hervorzuheben, der übrigens vorurteilsfrei genug ist, sich gelegentlich mich selbst zu verspotten. Bittet er doch einmal in einem der erdichteten Zwiegespräche, in die er seine Beweisführung, um sie lebendiger und eindringlicher zu machen, einzukleiden liebt, seinen Führer in den Ufsizien, er möge in seiner Anführung von Beispielen innehalten, „denn sonst möchte in meinem Kopf eine solche Konfusion entstehen, daß ich vor lauter Ohren und Händen und Nägeln nicht mehr imstande sein dürfte, die Bilder selbst zu sehen." In Wahrheit ist es ihm bittrer Ernst mit seiner Theorie. Sie ist ihm die erste Grundlage für die Schulung des Auges und mithin der gesamten Kunsterkenntnis, und er spricht mit Beziehung darauf manches goldne Wort, das auch von den entschiedensten Gegnern der Kennzeichenlehre beherzigt zu werden verdiente. „Der Schüler sollte vor allem lernen, das Kunstwerk so vernünftig und liebevoll zu befragen, bis das Bild oder die Statue, durch seine einsichtsvolle Liebe erwärmt, ihm Autwort giebt, und so muß doch die Grund¬ lage alles Kunststndinms die Form nud die Technik bleiben. Wie der Botaniker unter seinen Pflanzen, frischen und getrockneten, der Mineralog und Geolog unter seinen Steinen und Fossilien lebt und webt, so soll der Kunstkenner zwischen seinen Photographien, und ist er wohlhabend, womöglich auch unter Gemälden und Statuen leben. Das ist seine Welt, worin er das Auge täglich zu üben und zu verfeinern hat. Es versteht sich von selbst, daß der Kunstfreund

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/446>, abgerufen am 23.07.2024.