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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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T>le Aennzeichenlehre Giovanni Morellis

gelangt wie der italienische Kritiker. So hat er z. B. zuerst die Echtheit der
berühmten kleinen Magdalenn des Correggio in Dresden, die in Wahrheit im
günstigsten Falle eine Kopie des siebzehnten Jahrhunderts nach einem verloren
gegangenen Originale Correggios ist, in Zweifel gezogen, hat auch zuerst die
Ansicht öffentlich ausgesprochen, daß der nicht minder geschätzte Violinspieler
im Palazzo Sciarra in Rom nicht ein Werk Raffaels, sondern wahrscheinlich
eine Arbeit des in allen Sätteln der Nachahmung und Aneignung gerechten
Sebastians del Pioinbv sei, der sich aus Giorgione, Palma it Veechio, Naffnel
und Michelangelo eine ungemein bewegliche künstlerische Physiognomie zurecht
gemacht hatte, die sehr oft für das wahre Antlitz eines der vier genannten
Meister gehalten worden ist.

In den weiteren Kreisen der Kunstfreunde und der aufstrebenden Jünger
der Kunstwissenschaft rief Morellis Buch durch die mit Geist und Laune ge¬
würzte Methode der Beweisführung, die etwas Sokratisches an sich hat, eine
noch stärkere Bewegung, eine noch lebhaftere Begeisterung hervor, und es
tauchten so viele auf, denen es vorgekommen war, als sei ihnen plötzlich "eine
Binde von den Augen gefallen", daß einer der erfahrensten Kunstkenner Europas,
der zwanzig Jahre dem Studium aller gemalten und plastischen Kunstwerke
seit dem Beginn des Mittelalters gewidmet hat, soweit sie noch im öffentlichen
und im privaten Besitz sowie im Kunsthandel Europas anzutreffen sind, es für
notwendig hielt, vor der seiner Meinung nach verderblichen Theorie Morellis
zu warnen und zur Umkehr zu mahnen, wenn auch nicht zu völliger Umkehr
zu dem alten Autoritätsglauben der Galeriekatalvge und Fremdenführer, so
doch zur Abwendung von den verlockenden Pfeiferknuststücken des italienischem
Nihilisten. Es ist Direktor Dr. Wilhelm Bode in Berlin, ein Mann, dem die
Kttnstwissenschaft so zahlreiche wichtige Entdeckungen, Nachweise, Sammelwerke
und kritische Untersuchungen verdankt, daß Mvrelli es auf die Dauer nicht um¬
gehen konnte, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Morelli ist einer von den
italienischen Achtundvierzigern, einer von denen, in denen die Kampflust nur
mit dem Tode erlischt, und mit der Leidenschaftlichkeit eines Jünglings hat er
sich aus den "vornehmsten seiner Gegner" gestürzt, um mit ihm in einem
neuen Buche, das kürzlich unter dein Titel "Kunstkritische Studien über italienische
Malerei: Die Galerien Borghese und Dorin Panfili in Rom von Ivan
Lermolieff" (Leipzig F. A. Brockhaus; mit 62 Abbildungen) erschienen ist,
Hauptabrechnnng zu halten, soweit die italiemsche Malerei in Betracht kommt.
Deu Kern dieses neuen Buches bilden die vor fünfzehn Jahren in der "Zeit¬
schrift für bildende Kunst" veröffentlichten, oben erwähnten Aufsätze, die jedoch
wesentlich umgearbeitet und erweitert worden sind.

Trotz der anscheinend so großen Sicherheit seiner Theorie wird Morelli
doch bisweilen in die Notwendigkeit versetzt, einen Irrtum einzugestehen oder
wenigstens stillschweigend wieder gut zu macheu. So hat er, um nur ein


T>le Aennzeichenlehre Giovanni Morellis

gelangt wie der italienische Kritiker. So hat er z. B. zuerst die Echtheit der
berühmten kleinen Magdalenn des Correggio in Dresden, die in Wahrheit im
günstigsten Falle eine Kopie des siebzehnten Jahrhunderts nach einem verloren
gegangenen Originale Correggios ist, in Zweifel gezogen, hat auch zuerst die
Ansicht öffentlich ausgesprochen, daß der nicht minder geschätzte Violinspieler
im Palazzo Sciarra in Rom nicht ein Werk Raffaels, sondern wahrscheinlich
eine Arbeit des in allen Sätteln der Nachahmung und Aneignung gerechten
Sebastians del Pioinbv sei, der sich aus Giorgione, Palma it Veechio, Naffnel
und Michelangelo eine ungemein bewegliche künstlerische Physiognomie zurecht
gemacht hatte, die sehr oft für das wahre Antlitz eines der vier genannten
Meister gehalten worden ist.

In den weiteren Kreisen der Kunstfreunde und der aufstrebenden Jünger
der Kunstwissenschaft rief Morellis Buch durch die mit Geist und Laune ge¬
würzte Methode der Beweisführung, die etwas Sokratisches an sich hat, eine
noch stärkere Bewegung, eine noch lebhaftere Begeisterung hervor, und es
tauchten so viele auf, denen es vorgekommen war, als sei ihnen plötzlich „eine
Binde von den Augen gefallen", daß einer der erfahrensten Kunstkenner Europas,
der zwanzig Jahre dem Studium aller gemalten und plastischen Kunstwerke
seit dem Beginn des Mittelalters gewidmet hat, soweit sie noch im öffentlichen
und im privaten Besitz sowie im Kunsthandel Europas anzutreffen sind, es für
notwendig hielt, vor der seiner Meinung nach verderblichen Theorie Morellis
zu warnen und zur Umkehr zu mahnen, wenn auch nicht zu völliger Umkehr
zu dem alten Autoritätsglauben der Galeriekatalvge und Fremdenführer, so
doch zur Abwendung von den verlockenden Pfeiferknuststücken des italienischem
Nihilisten. Es ist Direktor Dr. Wilhelm Bode in Berlin, ein Mann, dem die
Kttnstwissenschaft so zahlreiche wichtige Entdeckungen, Nachweise, Sammelwerke
und kritische Untersuchungen verdankt, daß Mvrelli es auf die Dauer nicht um¬
gehen konnte, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Morelli ist einer von den
italienischen Achtundvierzigern, einer von denen, in denen die Kampflust nur
mit dem Tode erlischt, und mit der Leidenschaftlichkeit eines Jünglings hat er
sich aus den „vornehmsten seiner Gegner" gestürzt, um mit ihm in einem
neuen Buche, das kürzlich unter dein Titel „Kunstkritische Studien über italienische
Malerei: Die Galerien Borghese und Dorin Panfili in Rom von Ivan
Lermolieff" (Leipzig F. A. Brockhaus; mit 62 Abbildungen) erschienen ist,
Hauptabrechnnng zu halten, soweit die italiemsche Malerei in Betracht kommt.
Deu Kern dieses neuen Buches bilden die vor fünfzehn Jahren in der „Zeit¬
schrift für bildende Kunst" veröffentlichten, oben erwähnten Aufsätze, die jedoch
wesentlich umgearbeitet und erweitert worden sind.

Trotz der anscheinend so großen Sicherheit seiner Theorie wird Morelli
doch bisweilen in die Notwendigkeit versetzt, einen Irrtum einzugestehen oder
wenigstens stillschweigend wieder gut zu macheu. So hat er, um nur ein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/443>, abgerufen am 23.07.2024.