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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Die Aennzeichenlehre Giovanni Morellis

sichten in Zweifel zu ziehen oder gar zu widerlegen. Auf Treu und Glauben wur¬
den ihre Bildertaufen und ihre Meinungen von dem gegenseitigen Verhältnis der
Hauptmeister und dem Zusammenhange der verschieden Malerschulen hin-
genommen, und ihre sichre, die man am kürzesten und zugleich treffendsten
"Beeinflnssungsthevrie" genannt hat, fand gläubige Anhänger in großer Zahl.

Aber schon um die Mitte der siebziger Jahre trat ein rätselhafter Russe
aus Kasan Namens Ivan Lermolieff auf, der in einer Reihe von Aufsätzen
in der "Zeitschrift für bildende Kunst," die um die römischen Gemäldegalerien
Borghese und Doria-Panfili anknüpften, das Wagnis unternahm, die Urteile
der Herren Crowe und Calvacaselle nicht mehr mit bedingungsloser Anerkennung
zu betrachten, sondern sie einer Nachprüfung zu unterziehen und auf Grund
derselben, wenn auch noch mit schonungsvoller Achtung, ihre Irrigkeit darzutun.
In diesen Aufsätzen stellte er zugleich der "Beeinflnssnngstheorie" eine neue
Methode kunstkritischer Prüfung gegenüber, die sich im Wesentlichen auf gewisse
äußere Merkmale, wie die Formen der Hände, Füße. Ohren u. s. w. stützte, indem
der Russe nachwies oder doch nachgewiesen zu haben glaubte, daß die Werke aller
großen, bahnbrechenden und eigenartigen Künstler an solchen für sie charakter¬
istischen Merkmalen zu erkennen seien, weil die Gewöhnung des Auges und der
Hand ihnen gewisse Formbildnngen geläufig gemacht hätten. "Wie die meisten
Menschen, sowohl die redenden als die schreibenden, beliebte Wörter und Phrasen,
altgewohnte Redensarten haben, die sie, ohne sich dessen zu versehen, oft an¬
bringen und nicht selten da, wo sie gar nicht hingehören, so hat auch fast jeder
Maler solche altgewohnte Manieren, die ihm entschlüpfen, ohne daß er ihrer ge¬
wahr wird. Ja es geschieht selbst, das; der Künstler manche seiner physischen
Gebrechen und Unarten in sein Werk überträgt. Wer nun die Absicht hat,
einen Meister näher zu studiren, besser kennen zu lernen, der muß auch auf
dergleichen materielle Kleinigkeiten sein Auge richten und sie aufzufinden wissen;
wozu natürlich die Beschauung eiues einzelnen oder mir einiger seiner Werke
nicht genügt, sondern stets eine größere Zahl erforderlich sind, und zwar ans
allen Perioden seines künstlerischen Wirkens und Schaffens."

Die Richtigkeit dieser Beobachtung des russischen Kunstforschers leuchtete
um so mehr ein, als jedem Kenner der ältern und neuern Kunstgeschichte genug
Belege dafür bekannt sind. Man weiß z. B., daß Genelli bei seinen Figuren
seine eignen Gliedmaßen zu Rate zog, weil er keine Modelle bezahlen konnte
oder wollte, und da er von der Natur mit ungewöhnlich starkem Hand- und
Fußgelenken begabt war, so sind diese Eigentümlichkeiten auch auf die Gestatte"
seiner Kunst übergegangen. Die Hände und Füße auf Bildern von Rubens
zeigen schon frühzeitig eine bestimmte, durch die Stellung des Daumens und
der großen Zehe scharf gekennzeichnete Bildung, von der der Meister selten
oder nie abwich, und die Art, wie er die Fingernagel von dem umgebenden
Fleische abhob und die Tiefe" zwischen den Finger" und Zehen durch leichtes


Die Aennzeichenlehre Giovanni Morellis

sichten in Zweifel zu ziehen oder gar zu widerlegen. Auf Treu und Glauben wur¬
den ihre Bildertaufen und ihre Meinungen von dem gegenseitigen Verhältnis der
Hauptmeister und dem Zusammenhange der verschieden Malerschulen hin-
genommen, und ihre sichre, die man am kürzesten und zugleich treffendsten
„Beeinflnssungsthevrie" genannt hat, fand gläubige Anhänger in großer Zahl.

Aber schon um die Mitte der siebziger Jahre trat ein rätselhafter Russe
aus Kasan Namens Ivan Lermolieff auf, der in einer Reihe von Aufsätzen
in der „Zeitschrift für bildende Kunst," die um die römischen Gemäldegalerien
Borghese und Doria-Panfili anknüpften, das Wagnis unternahm, die Urteile
der Herren Crowe und Calvacaselle nicht mehr mit bedingungsloser Anerkennung
zu betrachten, sondern sie einer Nachprüfung zu unterziehen und auf Grund
derselben, wenn auch noch mit schonungsvoller Achtung, ihre Irrigkeit darzutun.
In diesen Aufsätzen stellte er zugleich der „Beeinflnssnngstheorie" eine neue
Methode kunstkritischer Prüfung gegenüber, die sich im Wesentlichen auf gewisse
äußere Merkmale, wie die Formen der Hände, Füße. Ohren u. s. w. stützte, indem
der Russe nachwies oder doch nachgewiesen zu haben glaubte, daß die Werke aller
großen, bahnbrechenden und eigenartigen Künstler an solchen für sie charakter¬
istischen Merkmalen zu erkennen seien, weil die Gewöhnung des Auges und der
Hand ihnen gewisse Formbildnngen geläufig gemacht hätten. „Wie die meisten
Menschen, sowohl die redenden als die schreibenden, beliebte Wörter und Phrasen,
altgewohnte Redensarten haben, die sie, ohne sich dessen zu versehen, oft an¬
bringen und nicht selten da, wo sie gar nicht hingehören, so hat auch fast jeder
Maler solche altgewohnte Manieren, die ihm entschlüpfen, ohne daß er ihrer ge¬
wahr wird. Ja es geschieht selbst, das; der Künstler manche seiner physischen
Gebrechen und Unarten in sein Werk überträgt. Wer nun die Absicht hat,
einen Meister näher zu studiren, besser kennen zu lernen, der muß auch auf
dergleichen materielle Kleinigkeiten sein Auge richten und sie aufzufinden wissen;
wozu natürlich die Beschauung eiues einzelnen oder mir einiger seiner Werke
nicht genügt, sondern stets eine größere Zahl erforderlich sind, und zwar ans
allen Perioden seines künstlerischen Wirkens und Schaffens."

Die Richtigkeit dieser Beobachtung des russischen Kunstforschers leuchtete
um so mehr ein, als jedem Kenner der ältern und neuern Kunstgeschichte genug
Belege dafür bekannt sind. Man weiß z. B., daß Genelli bei seinen Figuren
seine eignen Gliedmaßen zu Rate zog, weil er keine Modelle bezahlen konnte
oder wollte, und da er von der Natur mit ungewöhnlich starkem Hand- und
Fußgelenken begabt war, so sind diese Eigentümlichkeiten auch auf die Gestatte»
seiner Kunst übergegangen. Die Hände und Füße auf Bildern von Rubens
zeigen schon frühzeitig eine bestimmte, durch die Stellung des Daumens und
der großen Zehe scharf gekennzeichnete Bildung, von der der Meister selten
oder nie abwich, und die Art, wie er die Fingernagel von dem umgebenden
Fleische abhob und die Tiefe» zwischen den Finger» und Zehen durch leichtes


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[0440] Die Aennzeichenlehre Giovanni Morellis sichten in Zweifel zu ziehen oder gar zu widerlegen. Auf Treu und Glauben wur¬ den ihre Bildertaufen und ihre Meinungen von dem gegenseitigen Verhältnis der Hauptmeister und dem Zusammenhange der verschieden Malerschulen hin- genommen, und ihre sichre, die man am kürzesten und zugleich treffendsten „Beeinflnssungsthevrie" genannt hat, fand gläubige Anhänger in großer Zahl. Aber schon um die Mitte der siebziger Jahre trat ein rätselhafter Russe aus Kasan Namens Ivan Lermolieff auf, der in einer Reihe von Aufsätzen in der „Zeitschrift für bildende Kunst," die um die römischen Gemäldegalerien Borghese und Doria-Panfili anknüpften, das Wagnis unternahm, die Urteile der Herren Crowe und Calvacaselle nicht mehr mit bedingungsloser Anerkennung zu betrachten, sondern sie einer Nachprüfung zu unterziehen und auf Grund derselben, wenn auch noch mit schonungsvoller Achtung, ihre Irrigkeit darzutun. In diesen Aufsätzen stellte er zugleich der „Beeinflnssnngstheorie" eine neue Methode kunstkritischer Prüfung gegenüber, die sich im Wesentlichen auf gewisse äußere Merkmale, wie die Formen der Hände, Füße. Ohren u. s. w. stützte, indem der Russe nachwies oder doch nachgewiesen zu haben glaubte, daß die Werke aller großen, bahnbrechenden und eigenartigen Künstler an solchen für sie charakter¬ istischen Merkmalen zu erkennen seien, weil die Gewöhnung des Auges und der Hand ihnen gewisse Formbildnngen geläufig gemacht hätten. „Wie die meisten Menschen, sowohl die redenden als die schreibenden, beliebte Wörter und Phrasen, altgewohnte Redensarten haben, die sie, ohne sich dessen zu versehen, oft an¬ bringen und nicht selten da, wo sie gar nicht hingehören, so hat auch fast jeder Maler solche altgewohnte Manieren, die ihm entschlüpfen, ohne daß er ihrer ge¬ wahr wird. Ja es geschieht selbst, das; der Künstler manche seiner physischen Gebrechen und Unarten in sein Werk überträgt. Wer nun die Absicht hat, einen Meister näher zu studiren, besser kennen zu lernen, der muß auch auf dergleichen materielle Kleinigkeiten sein Auge richten und sie aufzufinden wissen; wozu natürlich die Beschauung eiues einzelnen oder mir einiger seiner Werke nicht genügt, sondern stets eine größere Zahl erforderlich sind, und zwar ans allen Perioden seines künstlerischen Wirkens und Schaffens." Die Richtigkeit dieser Beobachtung des russischen Kunstforschers leuchtete um so mehr ein, als jedem Kenner der ältern und neuern Kunstgeschichte genug Belege dafür bekannt sind. Man weiß z. B., daß Genelli bei seinen Figuren seine eignen Gliedmaßen zu Rate zog, weil er keine Modelle bezahlen konnte oder wollte, und da er von der Natur mit ungewöhnlich starkem Hand- und Fußgelenken begabt war, so sind diese Eigentümlichkeiten auch auf die Gestatte» seiner Kunst übergegangen. Die Hände und Füße auf Bildern von Rubens zeigen schon frühzeitig eine bestimmte, durch die Stellung des Daumens und der großen Zehe scharf gekennzeichnete Bildung, von der der Meister selten oder nie abwich, und die Art, wie er die Fingernagel von dem umgebenden Fleische abhob und die Tiefe» zwischen den Finger» und Zehen durch leichtes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/440>, abgerufen am 25.08.2024.