Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Menge von Kenntnissen und Fertigkeiten im einzelnen sollen nach der Prüfungs¬
ordnung von den Bewerberinnen gefordert werden! Wir greifen das deutsche
Fach heraus; da heißt es 1. Korrektheit und Gewandheit in zusammenhängender
mündlicher Darstellung; 2. Korrektheit und Gewandheit in schriftlicher Dar¬
stellung; 3. Übersichtliche Bekanntschaft mit der Litteraturgeschichte; 4. Ein¬
gehendere Kenntnis einiger Hauptwerke der Dichtung; 5. Übersichtliche Bekannt¬
schaft mit der Jugendlitteratur; ti. Kenntnis der verschiednen Redeformen, der
Dichtungsarten und der bekanntesten Versweisen; 7. Vertrautheit mit den
Hauptregeln der Grammatik; 8. Vertrautheit mit einer Leselehrc und mit der
Methodik des Sprachunterrichts. Man denke sich diese einzelnen Gebiete
folgerichtig und lehrplanmäßig ausgeführt, d. h. man betreibe sie so, wie es der
heutige Standpunkt der Wissenschaft verlangt, und setze die Litteraturgeschichte
selbstverständlich bis in die Gegenwart fort; man übertrage ferner, immer
auf Grund der Prüfungsordnung, ein ähnliches Maas; der an die jungen
Madchen gestellten Forderungen auf die übrigen sechzehn Lehrfächer, und man
suche in ganz Deutschland den Professur, der nicht ganz erbärmlich bei der
Lehrerinneuvrüfung durchfallen müßte! Aber auch die Prüfungskommission
besteht aus sterblichen Menschen, und so wird oft ein Auge zugedrückt und
die volle Lehrbefähigung zuweilen Bewerberinnen zuerteilt, die gut gethan
Hütten, beim Strickstrumpf oder beim Schaumlöffel zu bleiben und sich nicht
in das kleine Gehirn das ungeheure Mühlrad mit sechzehn Schaufeln hinein-
zuquülen. .Kein Wunder, daß solche Mädchen, die gewöhnlich bei der Aufnahme
in irgend ein Privatseminar gar nicht ans ihre natürliche Begabung hin geprüft
werden, unter der Last des Lehrstoffes zusammenbrechen und in angestrengter
und aufregender Gedächtnisarbcit ihr Nervensystem vollständig untergraben.

Die preußische Negierung hat diese unglücklichen Zustände Wohl erkannt
und ist gegen die wachsende Überbürdung der Seminaristinnen durch einen Erlaß
vom 10. Juli 1884 vorgegangen, worin es heißt: "Arbeit in die Nacht hinein
ist unter keinen Umständen zu dulden, und die Lehr- und Lernarbeit muß eine
Einrichtung erhalten, welche dieselbe entbehrlich macht. Erreicht wird dies um
sichersten durch eine zweckmäßige Einteilung der Lektionen, dnrch ernste Arbeit
in den Lehrstunden selbst und durch möglichste Verminderung der häuslichen
Arbeiten." Nein, am sichersten ist das nnr dnrch eine Änderung der Prüfungs¬
ordnung möglich; denn wo die natürlichen Fähigkeiten nicht ausreichen, wo die
Grundlage des schulmäßigen Wissens mangelhaft und die notwendigen Bvr-
kenntnisse unzureichend sind, wo endlich die Erwerbsnot doppelt treibt, da kann
nur ein unausgesetzter Fleiß, ein nervöses Haschen nach dem Gedächtnismüßigen,
ein krampfhaftes "Einpauker" oft unverdauter und unverstandner Formeln über
die unzulängliche Begabung hinwegtäuschen. Bei solchen Personen sinkt der ganze
Seminarnnterricht thatsächlich zu einer bloßen Dressur herab. Da mögen dann
Wohl solche Dinge vorkommen, wie Stephan Waetzoldt in einem Aufsatz der


Grenzboten I 1890 51

Menge von Kenntnissen und Fertigkeiten im einzelnen sollen nach der Prüfungs¬
ordnung von den Bewerberinnen gefordert werden! Wir greifen das deutsche
Fach heraus; da heißt es 1. Korrektheit und Gewandheit in zusammenhängender
mündlicher Darstellung; 2. Korrektheit und Gewandheit in schriftlicher Dar¬
stellung; 3. Übersichtliche Bekanntschaft mit der Litteraturgeschichte; 4. Ein¬
gehendere Kenntnis einiger Hauptwerke der Dichtung; 5. Übersichtliche Bekannt¬
schaft mit der Jugendlitteratur; ti. Kenntnis der verschiednen Redeformen, der
Dichtungsarten und der bekanntesten Versweisen; 7. Vertrautheit mit den
Hauptregeln der Grammatik; 8. Vertrautheit mit einer Leselehrc und mit der
Methodik des Sprachunterrichts. Man denke sich diese einzelnen Gebiete
folgerichtig und lehrplanmäßig ausgeführt, d. h. man betreibe sie so, wie es der
heutige Standpunkt der Wissenschaft verlangt, und setze die Litteraturgeschichte
selbstverständlich bis in die Gegenwart fort; man übertrage ferner, immer
auf Grund der Prüfungsordnung, ein ähnliches Maas; der an die jungen
Madchen gestellten Forderungen auf die übrigen sechzehn Lehrfächer, und man
suche in ganz Deutschland den Professur, der nicht ganz erbärmlich bei der
Lehrerinneuvrüfung durchfallen müßte! Aber auch die Prüfungskommission
besteht aus sterblichen Menschen, und so wird oft ein Auge zugedrückt und
die volle Lehrbefähigung zuweilen Bewerberinnen zuerteilt, die gut gethan
Hütten, beim Strickstrumpf oder beim Schaumlöffel zu bleiben und sich nicht
in das kleine Gehirn das ungeheure Mühlrad mit sechzehn Schaufeln hinein-
zuquülen. .Kein Wunder, daß solche Mädchen, die gewöhnlich bei der Aufnahme
in irgend ein Privatseminar gar nicht ans ihre natürliche Begabung hin geprüft
werden, unter der Last des Lehrstoffes zusammenbrechen und in angestrengter
und aufregender Gedächtnisarbcit ihr Nervensystem vollständig untergraben.

Die preußische Negierung hat diese unglücklichen Zustände Wohl erkannt
und ist gegen die wachsende Überbürdung der Seminaristinnen durch einen Erlaß
vom 10. Juli 1884 vorgegangen, worin es heißt: „Arbeit in die Nacht hinein
ist unter keinen Umständen zu dulden, und die Lehr- und Lernarbeit muß eine
Einrichtung erhalten, welche dieselbe entbehrlich macht. Erreicht wird dies um
sichersten durch eine zweckmäßige Einteilung der Lektionen, dnrch ernste Arbeit
in den Lehrstunden selbst und durch möglichste Verminderung der häuslichen
Arbeiten." Nein, am sichersten ist das nnr dnrch eine Änderung der Prüfungs¬
ordnung möglich; denn wo die natürlichen Fähigkeiten nicht ausreichen, wo die
Grundlage des schulmäßigen Wissens mangelhaft und die notwendigen Bvr-
kenntnisse unzureichend sind, wo endlich die Erwerbsnot doppelt treibt, da kann
nur ein unausgesetzter Fleiß, ein nervöses Haschen nach dem Gedächtnismüßigen,
ein krampfhaftes „Einpauker" oft unverdauter und unverstandner Formeln über
die unzulängliche Begabung hinwegtäuschen. Bei solchen Personen sinkt der ganze
Seminarnnterricht thatsächlich zu einer bloßen Dressur herab. Da mögen dann
Wohl solche Dinge vorkommen, wie Stephan Waetzoldt in einem Aufsatz der


Grenzboten I 1890 51
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0409" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207054"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1085" prev="#ID_1084"> Menge von Kenntnissen und Fertigkeiten im einzelnen sollen nach der Prüfungs¬<lb/>
ordnung von den Bewerberinnen gefordert werden! Wir greifen das deutsche<lb/>
Fach heraus; da heißt es 1. Korrektheit und Gewandheit in zusammenhängender<lb/>
mündlicher Darstellung; 2. Korrektheit und Gewandheit in schriftlicher Dar¬<lb/>
stellung; 3. Übersichtliche Bekanntschaft mit der Litteraturgeschichte; 4. Ein¬<lb/>
gehendere Kenntnis einiger Hauptwerke der Dichtung; 5. Übersichtliche Bekannt¬<lb/>
schaft mit der Jugendlitteratur; ti. Kenntnis der verschiednen Redeformen, der<lb/>
Dichtungsarten und der bekanntesten Versweisen; 7. Vertrautheit mit den<lb/>
Hauptregeln der Grammatik; 8. Vertrautheit mit einer Leselehrc und mit der<lb/>
Methodik des Sprachunterrichts. Man denke sich diese einzelnen Gebiete<lb/>
folgerichtig und lehrplanmäßig ausgeführt, d. h. man betreibe sie so, wie es der<lb/>
heutige Standpunkt der Wissenschaft verlangt, und setze die Litteraturgeschichte<lb/>
selbstverständlich bis in die Gegenwart fort; man übertrage ferner, immer<lb/>
auf Grund der Prüfungsordnung, ein ähnliches Maas; der an die jungen<lb/>
Madchen gestellten Forderungen auf die übrigen sechzehn Lehrfächer, und man<lb/>
suche in ganz Deutschland den Professur, der nicht ganz erbärmlich bei der<lb/>
Lehrerinneuvrüfung durchfallen müßte! Aber auch die Prüfungskommission<lb/>
besteht aus sterblichen Menschen, und so wird oft ein Auge zugedrückt und<lb/>
die volle Lehrbefähigung zuweilen Bewerberinnen zuerteilt, die gut gethan<lb/>
Hütten, beim Strickstrumpf oder beim Schaumlöffel zu bleiben und sich nicht<lb/>
in das kleine Gehirn das ungeheure Mühlrad mit sechzehn Schaufeln hinein-<lb/>
zuquülen. .Kein Wunder, daß solche Mädchen, die gewöhnlich bei der Aufnahme<lb/>
in irgend ein Privatseminar gar nicht ans ihre natürliche Begabung hin geprüft<lb/>
werden, unter der Last des Lehrstoffes zusammenbrechen und in angestrengter<lb/>
und aufregender Gedächtnisarbcit ihr Nervensystem vollständig untergraben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1086" next="#ID_1087"> Die preußische Negierung hat diese unglücklichen Zustände Wohl erkannt<lb/>
und ist gegen die wachsende Überbürdung der Seminaristinnen durch einen Erlaß<lb/>
vom 10. Juli 1884 vorgegangen, worin es heißt: &#x201E;Arbeit in die Nacht hinein<lb/>
ist unter keinen Umständen zu dulden, und die Lehr- und Lernarbeit muß eine<lb/>
Einrichtung erhalten, welche dieselbe entbehrlich macht. Erreicht wird dies um<lb/>
sichersten durch eine zweckmäßige Einteilung der Lektionen, dnrch ernste Arbeit<lb/>
in den Lehrstunden selbst und durch möglichste Verminderung der häuslichen<lb/>
Arbeiten." Nein, am sichersten ist das nnr dnrch eine Änderung der Prüfungs¬<lb/>
ordnung möglich; denn wo die natürlichen Fähigkeiten nicht ausreichen, wo die<lb/>
Grundlage des schulmäßigen Wissens mangelhaft und die notwendigen Bvr-<lb/>
kenntnisse unzureichend sind, wo endlich die Erwerbsnot doppelt treibt, da kann<lb/>
nur ein unausgesetzter Fleiß, ein nervöses Haschen nach dem Gedächtnismüßigen,<lb/>
ein krampfhaftes &#x201E;Einpauker" oft unverdauter und unverstandner Formeln über<lb/>
die unzulängliche Begabung hinwegtäuschen. Bei solchen Personen sinkt der ganze<lb/>
Seminarnnterricht thatsächlich zu einer bloßen Dressur herab. Da mögen dann<lb/>
Wohl solche Dinge vorkommen, wie Stephan Waetzoldt in einem Aufsatz der</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1890 51</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0409] Menge von Kenntnissen und Fertigkeiten im einzelnen sollen nach der Prüfungs¬ ordnung von den Bewerberinnen gefordert werden! Wir greifen das deutsche Fach heraus; da heißt es 1. Korrektheit und Gewandheit in zusammenhängender mündlicher Darstellung; 2. Korrektheit und Gewandheit in schriftlicher Dar¬ stellung; 3. Übersichtliche Bekanntschaft mit der Litteraturgeschichte; 4. Ein¬ gehendere Kenntnis einiger Hauptwerke der Dichtung; 5. Übersichtliche Bekannt¬ schaft mit der Jugendlitteratur; ti. Kenntnis der verschiednen Redeformen, der Dichtungsarten und der bekanntesten Versweisen; 7. Vertrautheit mit den Hauptregeln der Grammatik; 8. Vertrautheit mit einer Leselehrc und mit der Methodik des Sprachunterrichts. Man denke sich diese einzelnen Gebiete folgerichtig und lehrplanmäßig ausgeführt, d. h. man betreibe sie so, wie es der heutige Standpunkt der Wissenschaft verlangt, und setze die Litteraturgeschichte selbstverständlich bis in die Gegenwart fort; man übertrage ferner, immer auf Grund der Prüfungsordnung, ein ähnliches Maas; der an die jungen Madchen gestellten Forderungen auf die übrigen sechzehn Lehrfächer, und man suche in ganz Deutschland den Professur, der nicht ganz erbärmlich bei der Lehrerinneuvrüfung durchfallen müßte! Aber auch die Prüfungskommission besteht aus sterblichen Menschen, und so wird oft ein Auge zugedrückt und die volle Lehrbefähigung zuweilen Bewerberinnen zuerteilt, die gut gethan Hütten, beim Strickstrumpf oder beim Schaumlöffel zu bleiben und sich nicht in das kleine Gehirn das ungeheure Mühlrad mit sechzehn Schaufeln hinein- zuquülen. .Kein Wunder, daß solche Mädchen, die gewöhnlich bei der Aufnahme in irgend ein Privatseminar gar nicht ans ihre natürliche Begabung hin geprüft werden, unter der Last des Lehrstoffes zusammenbrechen und in angestrengter und aufregender Gedächtnisarbcit ihr Nervensystem vollständig untergraben. Die preußische Negierung hat diese unglücklichen Zustände Wohl erkannt und ist gegen die wachsende Überbürdung der Seminaristinnen durch einen Erlaß vom 10. Juli 1884 vorgegangen, worin es heißt: „Arbeit in die Nacht hinein ist unter keinen Umständen zu dulden, und die Lehr- und Lernarbeit muß eine Einrichtung erhalten, welche dieselbe entbehrlich macht. Erreicht wird dies um sichersten durch eine zweckmäßige Einteilung der Lektionen, dnrch ernste Arbeit in den Lehrstunden selbst und durch möglichste Verminderung der häuslichen Arbeiten." Nein, am sichersten ist das nnr dnrch eine Änderung der Prüfungs¬ ordnung möglich; denn wo die natürlichen Fähigkeiten nicht ausreichen, wo die Grundlage des schulmäßigen Wissens mangelhaft und die notwendigen Bvr- kenntnisse unzureichend sind, wo endlich die Erwerbsnot doppelt treibt, da kann nur ein unausgesetzter Fleiß, ein nervöses Haschen nach dem Gedächtnismüßigen, ein krampfhaftes „Einpauker" oft unverdauter und unverstandner Formeln über die unzulängliche Begabung hinwegtäuschen. Bei solchen Personen sinkt der ganze Seminarnnterricht thatsächlich zu einer bloßen Dressur herab. Da mögen dann Wohl solche Dinge vorkommen, wie Stephan Waetzoldt in einem Aufsatz der Grenzboten I 1890 51

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/409
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/409>, abgerufen am 23.07.2024.