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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Stoffels Flugschrift

predigt eine Stimme in der Wüste. Verstand und Gefühl verweisen das, was
er zur Herstellung einer Versöhnung der Franzosen mit den Deutschen empfiehlt,
gleich stark in das Gebiet des Landes Utopia.

Baron von stosset behauptet zunächst nichts Geringeres, als daß es im
Interesse Frankreichs liege, sich von der Liebhaberei ster Rußland loszusagen
und mit Deutschland ein Bündnis gegen Rußland einzugehen, in das dann
Österreich-Ungarn, Italien, die Türkei und andre Staaten Aufnahme finden
könnten. Fragt man, wie Frankreich bewogen werden könnte, sich mit Deutsch¬
land gegen Rußland zu vertragen, so hat stosset darauf eine Antwort, die
ihm sehr einfach zu sein scheint: Deutschland giebt ihm Elsaß-Lothringen zurück.
Aus welchen Gründen aber sollen die Franzosen sich mit den Deutschen gegen
die Russen wenden? Wieder giebt es eine Antwort, die dem Verfasser ganz
selbstverständlich vorkommt, aber bei einem Franzosen von heutzutage und noch
dazu bei einem hervorragenden Offizier, der früher auch diplomatische Aufgaben
zu verfolgen hatte, neu ist. Wenn der Baron stosset unter Nnpoleou dem
Ersten schriebe, der das oft erwähnte Testament Peters des Großen anfertigen
ließ, oder unter Napoleon dem Dritten zur Zeit des Krimkriegs oder des polnischen
Aufstandes von 1863 und der westmächtlicheu Drohnoten, so würde es nicht wunder
nehmen, wenn er Nußland bei der öffentlichen Meinung in Frankreich als große
Gefahr für ganz Europa verklagte. Jetzt ist es dieser öffentlichen Meinung nicht
nur keine Gefahr, sondern eine Macht, die Frankreich von höchstem Nutzen sein
kann, und deren Freundschaft mit allen Mitteln und auf allen Wegen, selbst mit
Gefahr, zudringlich zu erscheinen und sich zu erniedrigen, erstrebt werden muß,
und doch wagt der Verfasser seine Klage zu erheben und hofft auf Erfolg.
Er sagt, daß Rußland infolge der Spaltungen, die Europa zerrissen haben,
sich jeden Tag der Donau- und Balkanstanten bemächtigen könne, um bald
nachher bis ans Adriatische Meer vorzudringen. Wie wollten, wenn ein kriegs¬
lustiger Zar den Thron einnähme, die westlichen Nationen diesem furchtbaren
Ansturme der slawischen Nasse Widerstand leisten? Es würde der Krieg der
Gesittung gegen das Barbarentum sein. Gaben dagegen Frankreich und Deutsch¬
land ihren Streit auf, so würde sich ein großer Verein der Staaten Europas
zu dem ausdrücklichen Zwecke bilden, dem Vordringen Rußlands die Spitze
zu bieten und erfolgreich in den Weg zu treten, es würde zu einem Ver-
teidigungslmndnisse der europäischen Freiheit und Bildung kommen. Bis zu
diesem Ausgange der Dinge jedoch muß Frankreich, wie stosset meint, für
sich allein sorgen. Es hätte sich, sagt er, vielleicht früher in den Verlust der
beiden Provinzen gefunden; niemals aber könne es einen Zustand der Dinge
auf die Dauer hinnehmen, der Paris von der Grenze aus in wenigen Tage¬
märschen erreichen lasse und sein Schicksal vom Ausfall einer einzigen Schlacht
abhängig mache, während Berlin viel weiter von der deutschen Westgrenze ent¬
fernt sei. Anderseits befinde sich Deutschland bei seiner Lage zwischen zwei


Stoffels Flugschrift

predigt eine Stimme in der Wüste. Verstand und Gefühl verweisen das, was
er zur Herstellung einer Versöhnung der Franzosen mit den Deutschen empfiehlt,
gleich stark in das Gebiet des Landes Utopia.

Baron von stosset behauptet zunächst nichts Geringeres, als daß es im
Interesse Frankreichs liege, sich von der Liebhaberei ster Rußland loszusagen
und mit Deutschland ein Bündnis gegen Rußland einzugehen, in das dann
Österreich-Ungarn, Italien, die Türkei und andre Staaten Aufnahme finden
könnten. Fragt man, wie Frankreich bewogen werden könnte, sich mit Deutsch¬
land gegen Rußland zu vertragen, so hat stosset darauf eine Antwort, die
ihm sehr einfach zu sein scheint: Deutschland giebt ihm Elsaß-Lothringen zurück.
Aus welchen Gründen aber sollen die Franzosen sich mit den Deutschen gegen
die Russen wenden? Wieder giebt es eine Antwort, die dem Verfasser ganz
selbstverständlich vorkommt, aber bei einem Franzosen von heutzutage und noch
dazu bei einem hervorragenden Offizier, der früher auch diplomatische Aufgaben
zu verfolgen hatte, neu ist. Wenn der Baron stosset unter Nnpoleou dem
Ersten schriebe, der das oft erwähnte Testament Peters des Großen anfertigen
ließ, oder unter Napoleon dem Dritten zur Zeit des Krimkriegs oder des polnischen
Aufstandes von 1863 und der westmächtlicheu Drohnoten, so würde es nicht wunder
nehmen, wenn er Nußland bei der öffentlichen Meinung in Frankreich als große
Gefahr für ganz Europa verklagte. Jetzt ist es dieser öffentlichen Meinung nicht
nur keine Gefahr, sondern eine Macht, die Frankreich von höchstem Nutzen sein
kann, und deren Freundschaft mit allen Mitteln und auf allen Wegen, selbst mit
Gefahr, zudringlich zu erscheinen und sich zu erniedrigen, erstrebt werden muß,
und doch wagt der Verfasser seine Klage zu erheben und hofft auf Erfolg.
Er sagt, daß Rußland infolge der Spaltungen, die Europa zerrissen haben,
sich jeden Tag der Donau- und Balkanstanten bemächtigen könne, um bald
nachher bis ans Adriatische Meer vorzudringen. Wie wollten, wenn ein kriegs¬
lustiger Zar den Thron einnähme, die westlichen Nationen diesem furchtbaren
Ansturme der slawischen Nasse Widerstand leisten? Es würde der Krieg der
Gesittung gegen das Barbarentum sein. Gaben dagegen Frankreich und Deutsch¬
land ihren Streit auf, so würde sich ein großer Verein der Staaten Europas
zu dem ausdrücklichen Zwecke bilden, dem Vordringen Rußlands die Spitze
zu bieten und erfolgreich in den Weg zu treten, es würde zu einem Ver-
teidigungslmndnisse der europäischen Freiheit und Bildung kommen. Bis zu
diesem Ausgange der Dinge jedoch muß Frankreich, wie stosset meint, für
sich allein sorgen. Es hätte sich, sagt er, vielleicht früher in den Verlust der
beiden Provinzen gefunden; niemals aber könne es einen Zustand der Dinge
auf die Dauer hinnehmen, der Paris von der Grenze aus in wenigen Tage¬
märschen erreichen lasse und sein Schicksal vom Ausfall einer einzigen Schlacht
abhängig mache, während Berlin viel weiter von der deutschen Westgrenze ent¬
fernt sei. Anderseits befinde sich Deutschland bei seiner Lage zwischen zwei


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[0354] Stoffels Flugschrift predigt eine Stimme in der Wüste. Verstand und Gefühl verweisen das, was er zur Herstellung einer Versöhnung der Franzosen mit den Deutschen empfiehlt, gleich stark in das Gebiet des Landes Utopia. Baron von stosset behauptet zunächst nichts Geringeres, als daß es im Interesse Frankreichs liege, sich von der Liebhaberei ster Rußland loszusagen und mit Deutschland ein Bündnis gegen Rußland einzugehen, in das dann Österreich-Ungarn, Italien, die Türkei und andre Staaten Aufnahme finden könnten. Fragt man, wie Frankreich bewogen werden könnte, sich mit Deutsch¬ land gegen Rußland zu vertragen, so hat stosset darauf eine Antwort, die ihm sehr einfach zu sein scheint: Deutschland giebt ihm Elsaß-Lothringen zurück. Aus welchen Gründen aber sollen die Franzosen sich mit den Deutschen gegen die Russen wenden? Wieder giebt es eine Antwort, die dem Verfasser ganz selbstverständlich vorkommt, aber bei einem Franzosen von heutzutage und noch dazu bei einem hervorragenden Offizier, der früher auch diplomatische Aufgaben zu verfolgen hatte, neu ist. Wenn der Baron stosset unter Nnpoleou dem Ersten schriebe, der das oft erwähnte Testament Peters des Großen anfertigen ließ, oder unter Napoleon dem Dritten zur Zeit des Krimkriegs oder des polnischen Aufstandes von 1863 und der westmächtlicheu Drohnoten, so würde es nicht wunder nehmen, wenn er Nußland bei der öffentlichen Meinung in Frankreich als große Gefahr für ganz Europa verklagte. Jetzt ist es dieser öffentlichen Meinung nicht nur keine Gefahr, sondern eine Macht, die Frankreich von höchstem Nutzen sein kann, und deren Freundschaft mit allen Mitteln und auf allen Wegen, selbst mit Gefahr, zudringlich zu erscheinen und sich zu erniedrigen, erstrebt werden muß, und doch wagt der Verfasser seine Klage zu erheben und hofft auf Erfolg. Er sagt, daß Rußland infolge der Spaltungen, die Europa zerrissen haben, sich jeden Tag der Donau- und Balkanstanten bemächtigen könne, um bald nachher bis ans Adriatische Meer vorzudringen. Wie wollten, wenn ein kriegs¬ lustiger Zar den Thron einnähme, die westlichen Nationen diesem furchtbaren Ansturme der slawischen Nasse Widerstand leisten? Es würde der Krieg der Gesittung gegen das Barbarentum sein. Gaben dagegen Frankreich und Deutsch¬ land ihren Streit auf, so würde sich ein großer Verein der Staaten Europas zu dem ausdrücklichen Zwecke bilden, dem Vordringen Rußlands die Spitze zu bieten und erfolgreich in den Weg zu treten, es würde zu einem Ver- teidigungslmndnisse der europäischen Freiheit und Bildung kommen. Bis zu diesem Ausgange der Dinge jedoch muß Frankreich, wie stosset meint, für sich allein sorgen. Es hätte sich, sagt er, vielleicht früher in den Verlust der beiden Provinzen gefunden; niemals aber könne es einen Zustand der Dinge auf die Dauer hinnehmen, der Paris von der Grenze aus in wenigen Tage¬ märschen erreichen lasse und sein Schicksal vom Ausfall einer einzigen Schlacht abhängig mache, während Berlin viel weiter von der deutschen Westgrenze ent¬ fernt sei. Anderseits befinde sich Deutschland bei seiner Lage zwischen zwei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/354>, abgerufen am 23.07.2024.