Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.Das soziale Kaisertum der hohe Berg erklommen war, eine Weile Atem schöpfen und Halt machen Das soziale Kaisertum der hohe Berg erklommen war, eine Weile Atem schöpfen und Halt machen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0307" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206952"/> <fw type="header" place="top"> Das soziale Kaisertum</fw><lb/> <p xml:id="ID_818" prev="#ID_817"> der hohe Berg erklommen war, eine Weile Atem schöpfen und Halt machen<lb/> wollte. Es ist auch nicht zu verkennen, daß die neue Gesetzgebung so tief in<lb/> das Leben des Volkes eingreift, so viele Einrichtungen notwendig macht und<lb/> so viele Änderungen nach sich zieht, daß die deutsche Negierung berechtigt ge¬<lb/> wesen Ware, sich nach dem gewonnenen Vorsprunge zu sammeln und andern<lb/> Völkern die Zeit zu lassen, ihr nachzukommen. Dieses Zaudern war umso<lb/> erklärlicher, als die Probleme der Gesetzgebung für das Wohl der Arbeiter<lb/> zum Gegenstande der Parteiagitation geworden waren. Daß die Sozialdemo-<lb/> kraten den Normalarbeitstag von acht Stunden, die unbedingte Sonntagsruhe,<lb/> deu Ausschluß vou Frauen- und Kinderarbeit, Arbeiterausschüsse u. tgi. in. in<lb/> ihr Programm aufgenommen haben, war nicht zu verwundern. Denn ihr<lb/> nächstes Ziel ist die Erhöhung der allgemeinen Unzufriedenheit, und je un¬<lb/> erreichbarere Wünsche sie als Parteiprogramm aufstellen, desto größere Mi߬<lb/> stimmung dürfen sie bei den Arbeitern hoffen, die auf die Verwirklichung von<lb/> unmöglichen Dingen rechnen. Aber bei den Sozialdemokraten war die Frage<lb/> nicht verblieben; sie hatte ihren berechtigten Kern, der, in den Garten der<lb/> andern Parteien übernommen, zu einem üppigen künstlichen Wuchs befördert<lb/> wurde. Denn die parlamentarische Partei ist ohne Verantwortlichkeit und lebt<lb/> von der Hand in den Mund. Als die Arbeiterschutzgesetzgebung in das Parla¬<lb/> ment geriet, da konnte Phantasie und Pnrteipolitik die Zügel schießen lassen.<lb/> Es gab edle Menschenfreunde, die die Frage ausschließlich vom sittlichen Stand-<lb/> Punkt christlicher Nächstenliebe behandelten und gar keine Grenzen kannten in dem,<lb/> was sie zu Gunsten der Arbeiter einführen wollten; sie fragten nicht darnach,<lb/> ob bei allen diesen Maßregeln auch noch die Industrie bestehen könnte und<lb/> ob sie den Arbeitern nicht ein Midasgeschenk entgegenbrachten, bei dein sie<lb/> zuletzt hätten verhungern müssen. Es gab aber auch Parteimänner, die den<lb/> Arbeiterschutz als Mittel zum Wühlerfang benutzten, und bei diesem Wettlauf<lb/> um die Gunst der Massen konnte es nicht ausbleiben, daß Übergebote erzielt<lb/> wurden. Niemand fragte mehr darnach, ob der Arbeiter bei verkürzter Arbeits-<lb/> daner an Wochen- und Sonntagen auch den gleichen Lohn erhalten würde.<lb/> Niemand kümmerte sich darum, ob bei dem völligen Ausschluß der Frauen-<lb/> »ut Kinderarbeit nicht für den Unterhalt der Familie ein wesentlicher Zuschuß<lb/> verloren ging, und ob die unbeschäftigten halbwüchsigen Knaben und Mädchen<lb/> unbeaufsichtigt verwilderten und verrohten. Gleichgiltig war jedermann dafür,<lb/> daß die schon ohnehin schwer belastete Industrie Deutschlands auf dem Welt¬<lb/> markte fähig bleiben sollte, mit der Industrie andrer Länder den Wettbewerb<lb/> aufzunehmen, wo es entweder eine Arbeiterschutzgesetzgebung überhaupt nicht<lb/> güb (Belgien) oder wo eine solche nur ans den, Papier steht (Schweiz). Das<lb/> Zaudern des greisen Staatsmannes war gegenüber diesen Erscheinungen gewiß<lb/> zu begreifen, und schon dieses genügte, um angesichts des von ihm erworbenen<lb/> Einflusses vorläufig einen Stillstand eintreten zu lassen.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0307]
Das soziale Kaisertum
der hohe Berg erklommen war, eine Weile Atem schöpfen und Halt machen
wollte. Es ist auch nicht zu verkennen, daß die neue Gesetzgebung so tief in
das Leben des Volkes eingreift, so viele Einrichtungen notwendig macht und
so viele Änderungen nach sich zieht, daß die deutsche Negierung berechtigt ge¬
wesen Ware, sich nach dem gewonnenen Vorsprunge zu sammeln und andern
Völkern die Zeit zu lassen, ihr nachzukommen. Dieses Zaudern war umso
erklärlicher, als die Probleme der Gesetzgebung für das Wohl der Arbeiter
zum Gegenstande der Parteiagitation geworden waren. Daß die Sozialdemo-
kraten den Normalarbeitstag von acht Stunden, die unbedingte Sonntagsruhe,
deu Ausschluß vou Frauen- und Kinderarbeit, Arbeiterausschüsse u. tgi. in. in
ihr Programm aufgenommen haben, war nicht zu verwundern. Denn ihr
nächstes Ziel ist die Erhöhung der allgemeinen Unzufriedenheit, und je un¬
erreichbarere Wünsche sie als Parteiprogramm aufstellen, desto größere Mi߬
stimmung dürfen sie bei den Arbeitern hoffen, die auf die Verwirklichung von
unmöglichen Dingen rechnen. Aber bei den Sozialdemokraten war die Frage
nicht verblieben; sie hatte ihren berechtigten Kern, der, in den Garten der
andern Parteien übernommen, zu einem üppigen künstlichen Wuchs befördert
wurde. Denn die parlamentarische Partei ist ohne Verantwortlichkeit und lebt
von der Hand in den Mund. Als die Arbeiterschutzgesetzgebung in das Parla¬
ment geriet, da konnte Phantasie und Pnrteipolitik die Zügel schießen lassen.
Es gab edle Menschenfreunde, die die Frage ausschließlich vom sittlichen Stand-
Punkt christlicher Nächstenliebe behandelten und gar keine Grenzen kannten in dem,
was sie zu Gunsten der Arbeiter einführen wollten; sie fragten nicht darnach,
ob bei allen diesen Maßregeln auch noch die Industrie bestehen könnte und
ob sie den Arbeitern nicht ein Midasgeschenk entgegenbrachten, bei dein sie
zuletzt hätten verhungern müssen. Es gab aber auch Parteimänner, die den
Arbeiterschutz als Mittel zum Wühlerfang benutzten, und bei diesem Wettlauf
um die Gunst der Massen konnte es nicht ausbleiben, daß Übergebote erzielt
wurden. Niemand fragte mehr darnach, ob der Arbeiter bei verkürzter Arbeits-
daner an Wochen- und Sonntagen auch den gleichen Lohn erhalten würde.
Niemand kümmerte sich darum, ob bei dem völligen Ausschluß der Frauen-
»ut Kinderarbeit nicht für den Unterhalt der Familie ein wesentlicher Zuschuß
verloren ging, und ob die unbeschäftigten halbwüchsigen Knaben und Mädchen
unbeaufsichtigt verwilderten und verrohten. Gleichgiltig war jedermann dafür,
daß die schon ohnehin schwer belastete Industrie Deutschlands auf dem Welt¬
markte fähig bleiben sollte, mit der Industrie andrer Länder den Wettbewerb
aufzunehmen, wo es entweder eine Arbeiterschutzgesetzgebung überhaupt nicht
güb (Belgien) oder wo eine solche nur ans den, Papier steht (Schweiz). Das
Zaudern des greisen Staatsmannes war gegenüber diesen Erscheinungen gewiß
zu begreifen, und schon dieses genügte, um angesichts des von ihm erworbenen
Einflusses vorläufig einen Stillstand eintreten zu lassen.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |