Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.Bedenken über die Syr^chverbesserung zuerst nicht einleuchten. Nachdem ich jedoch ein paar Stunden vergebens im Wenn die mittelalterlichen Dichter und die in der Muttersprache schreiben¬ Dieses Übel nicht bloß auf ein möglichst geringes Maß zu beschränken, Bedenken über die Syr^chverbesserung zuerst nicht einleuchten. Nachdem ich jedoch ein paar Stunden vergebens im Wenn die mittelalterlichen Dichter und die in der Muttersprache schreiben¬ Dieses Übel nicht bloß auf ein möglichst geringes Maß zu beschränken, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0285" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206930"/> <fw type="header" place="top"> Bedenken über die Syr^chverbesserung</fw><lb/> <p xml:id="ID_764" prev="#ID_763"> zuerst nicht einleuchten. Nachdem ich jedoch ein paar Stunden vergebens im<lb/> Nibelungenliede, im Walther von der Vogelweide und beim jungen Goethe<lb/> »ach dem Nelntivum welcher gesucht hatte, mußte ich es wohl glauben. Mau<lb/> muß aber auch bedenken, daß sich das Bedürfnis häufiger Relativsätze erst<lb/> beim Periodenbau einstellt, zu dem ein alter Dichter gar keine und der meist<lb/> erzählende Goethe wenig Veranlassung hatte. Die unberechtigten Auswüchse<lb/> und Dummheiten, zu denen durch den berechtigten papiernen Stil Versuchung<lb/> und Gelegenheit bereitet wird, verdienen in vollem Maße die Züchtigung, die<lb/> ihnen in den Grenzboten zu teil wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_765"> Wenn die mittelalterlichen Dichter und die in der Muttersprache schreiben¬<lb/> de» Chronisten, nicht bloß die deutschen, die naive Schönheit und die Reinheit<lb/> der Sprache so viele Jahrhunderte hindurch zu bewahren vermochten, so ver¬<lb/> dankten sie das hauptsächlich dem Umstände, daß damals das Lateinische als<lb/> Kanzlei- und Gelehrtensprache diente. Da erließen die Langobnrdenkvuige Gesetze<lb/> 6(i niÄrali-uuol'lin, as soÄnÄirlnm und as Iromiiw b-Muto. Da schrieben die<lb/> Scholastiker Abhandlungen as Lues et .1Z88hüten und as l^riiuzipio Inäiviäuii-<lb/> Uonis. Da hieß es in einem Stadtrecht: vviltvea-KkUM «t, 1iU8Uhr0Wo öxo«zpt,i8<lb/> (mit Ausnahme der Kürschner und Münzer). Alle Völker des Abendlandes<lb/> verhunzten die lateinische Sprache um die Wette, aber seine eigne bewahrte<lb/> ein jedes fein und rein. Wer das Bedürfnis fühlte, papieren, ledern oder<lb/> hölzern zu schreiben, der schrieb lateinisch; in seiner Muttersprache, genauer<lb/> gesagt, in seinem Dialekt zeichnete jeder nur solche Sachen auf, die zum Singen,<lb/> Sagen und Erzählen bestimmt oder geeignet waren. Jetzt schreibe» die Gelehrten<lb/> und Kanzlisten jeder in seiner Muttersprache, und darunter leiden alle Sprachen<lb/> Europas, die deutsche am meisten, weil kein andres Volk so viel Schulmeister,<lb/> Gelehrte und Kanzlisten, so viel Gesetze und Pvlizeivervrduungen hat wie das<lb/> unsre; vom Zeituugsunwesen noch gar nicht zu reden.</p><lb/> <p xml:id="ID_766" next="#ID_767"> Dieses Übel nicht bloß auf ein möglichst geringes Maß zu beschränken,<lb/> sonder» womöglich von innen heraus zu überwinden, ist eine der wichtigsten<lb/> Seiten unsrer Kulturaufgabe. Ich sage nicht: eine unsrer wichtigsten Knltur-<lb/> anfgabeu, weil jede Kultur ein Ganzes ist, wie der Menschengeist, der sich in<lb/> ihr offenbart; Wissenschaft, Kunst, Religion, Sitte, soziale Verhältnisse, Politik,<lb/> Sprache sind nur verschiedne Erscheinungen desselben Wesens. Was uns im<lb/> ^mizlei- und Gelehrtenstil angrinst, das ist das Chinesentnm. Die Chinesen<lb/> sind das vollendete Papiervolk. Der Chinese ist eine kluge, seelenlose Bestie in<lb/> der Maske menschlicher Konvention, und diese Maske ist die von einem frühern<lb/> lebendigen Menschentum übrig gebliebene Pappdeckelhülse oder Mumie. Auch<lb/> die Assyrer und Äghpter würden Papiermenschen geworden sein, wenn sie<lb/> lange genug gelebt hätten, und die Hindu, wenn sie nicht so oft durch feindliche<lb/> Einfälle gestört worden wären. Die chinesische Fratze hat die Vorsehung fertig<lb/> werden lassen und stehe» gelassen uns zur Warnung. Die (Griechen liabeu,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0285]
Bedenken über die Syr^chverbesserung
zuerst nicht einleuchten. Nachdem ich jedoch ein paar Stunden vergebens im
Nibelungenliede, im Walther von der Vogelweide und beim jungen Goethe
»ach dem Nelntivum welcher gesucht hatte, mußte ich es wohl glauben. Mau
muß aber auch bedenken, daß sich das Bedürfnis häufiger Relativsätze erst
beim Periodenbau einstellt, zu dem ein alter Dichter gar keine und der meist
erzählende Goethe wenig Veranlassung hatte. Die unberechtigten Auswüchse
und Dummheiten, zu denen durch den berechtigten papiernen Stil Versuchung
und Gelegenheit bereitet wird, verdienen in vollem Maße die Züchtigung, die
ihnen in den Grenzboten zu teil wird.
Wenn die mittelalterlichen Dichter und die in der Muttersprache schreiben¬
de» Chronisten, nicht bloß die deutschen, die naive Schönheit und die Reinheit
der Sprache so viele Jahrhunderte hindurch zu bewahren vermochten, so ver¬
dankten sie das hauptsächlich dem Umstände, daß damals das Lateinische als
Kanzlei- und Gelehrtensprache diente. Da erließen die Langobnrdenkvuige Gesetze
6(i niÄrali-uuol'lin, as soÄnÄirlnm und as Iromiiw b-Muto. Da schrieben die
Scholastiker Abhandlungen as Lues et .1Z88hüten und as l^riiuzipio Inäiviäuii-
Uonis. Da hieß es in einem Stadtrecht: vviltvea-KkUM «t, 1iU8Uhr0Wo öxo«zpt,i8
(mit Ausnahme der Kürschner und Münzer). Alle Völker des Abendlandes
verhunzten die lateinische Sprache um die Wette, aber seine eigne bewahrte
ein jedes fein und rein. Wer das Bedürfnis fühlte, papieren, ledern oder
hölzern zu schreiben, der schrieb lateinisch; in seiner Muttersprache, genauer
gesagt, in seinem Dialekt zeichnete jeder nur solche Sachen auf, die zum Singen,
Sagen und Erzählen bestimmt oder geeignet waren. Jetzt schreibe» die Gelehrten
und Kanzlisten jeder in seiner Muttersprache, und darunter leiden alle Sprachen
Europas, die deutsche am meisten, weil kein andres Volk so viel Schulmeister,
Gelehrte und Kanzlisten, so viel Gesetze und Pvlizeivervrduungen hat wie das
unsre; vom Zeituugsunwesen noch gar nicht zu reden.
Dieses Übel nicht bloß auf ein möglichst geringes Maß zu beschränken,
sonder» womöglich von innen heraus zu überwinden, ist eine der wichtigsten
Seiten unsrer Kulturaufgabe. Ich sage nicht: eine unsrer wichtigsten Knltur-
anfgabeu, weil jede Kultur ein Ganzes ist, wie der Menschengeist, der sich in
ihr offenbart; Wissenschaft, Kunst, Religion, Sitte, soziale Verhältnisse, Politik,
Sprache sind nur verschiedne Erscheinungen desselben Wesens. Was uns im
^mizlei- und Gelehrtenstil angrinst, das ist das Chinesentnm. Die Chinesen
sind das vollendete Papiervolk. Der Chinese ist eine kluge, seelenlose Bestie in
der Maske menschlicher Konvention, und diese Maske ist die von einem frühern
lebendigen Menschentum übrig gebliebene Pappdeckelhülse oder Mumie. Auch
die Assyrer und Äghpter würden Papiermenschen geworden sein, wenn sie
lange genug gelebt hätten, und die Hindu, wenn sie nicht so oft durch feindliche
Einfälle gestört worden wären. Die chinesische Fratze hat die Vorsehung fertig
werden lassen und stehe» gelassen uns zur Warnung. Die (Griechen liabeu,
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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
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