Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Wo hinaus?

Wer unausgesetzt in der Stickluft der parlamentarischen und
Parteiversammlungeu lebt, wird augenscheinlich leicht das Opfer einer Selbst¬
täuschung, die er an Herrschern und Staatsmännern sehr deutlich erkennen und
aufs härteste verurteilen wurde. Denn der Abstand zwischen den beiden Grund-
anschauungen: "Der Staat bin ich" und "Der Fürst ist der erste Diener des
Staates" ist nicht größer als zwischen den beiden andern: "Das Volk nimmt durch
seine gewählten Vertreter an der Gesetzgebung teil" und "Das Volk sind wir."
Und dieses "wir" gilt nur dann für die Gesamtheit der Volksvertretung, wenn sie
der Negierung gegenüber einig ist; liegt dieser seltenere Fall nicht vor, dann ist "wir"
die Fraktion, und ihr, wo nicht zur Alleinherrschaft, doch zur Überzahl zu ver¬
helfen gilt als die erste Pflicht des Fraktionsmitgliedes. Kann aber, was ja vor¬
kommt, der "Führer" der Fraktion mit einigem Rechte sagen: "Die Fraktion bin
ich," so ist die. Parodie des Ko^ Lolsil vollständig. Nur Pflegen die Beteiligten
das Zerrbild für ein gelungenes, aber "modernisirtes" Porträt zu halten.

Die auf Stärkung der Truppe abzielende Thätigkeit wird natürlich immer
lebhafter, endlich fieberhaft, wenn neue Wahlen, in Aussicht stehen. Da gestaltet
sich so ziemlich jede Rede zur Wahlrede, jede "Persönliche Bemerkung" zum Appell
an den Eigennutz der Menge, die sich uuter andern Verhältnissen Wohl gefallen
lassen muß, als "Stimmvieh" behandelt zu werden. Da werden Anträge hervor-
gesucht, die gänzlich aussichtslos sind (sei es jederzeit oder wenigstens im Augen¬
blick), damit zum Fenster hinaus gerufen werden kann: Seht, wie gut wir es
weinen! Ginge es nach uns, so würden alle Lasten gerecht verteilt, jede Arbeit
nach Verdienst belohnt, jedes billige Verlangen erfüllt werden. Aber die Volks-
^inde auf der andern Seite wollen ja keine Gerechtigkeit üben u. f. w. Von dir,
Zähler, hängt es ab, ob du in Zukunft der freie Bürger eines Mnsterstnates sein
oder die alte Sklavenkette noch länger fortschleppen willst. Dieses Stimmenwerben
Wird so ungescheut und öffentlich betrieben, daß man nicht weiß, ist das Cynismus
^der völlige Verblendung. Je nach den Persönlichkeiten wird Wohl das eine oder
das andre zutreffen. Mancher scheint wirklich zu glauben, von seiner Anwesenheit
Parlament hänge das Wohl und Wehe des Reiches ab, während auf diesen
Und jenen Paßt, was Saint-Real von der Pnpistischen Partei in Venedig zu An¬
lange des siebzehnten Jahrhunderts sagt: "Die meisten fanden ihren Ehrgeiz ver-
^tzt, weil gegen ihre Ratschläge gehandelt worden war. Ihre Rachsucht stimmte
Ac, alles zu thun und alles zu leiden, wenn nur die höchste Gewalt ihren da¬
maligen Besitzern entrissen wurde; und das Verderben des Staates würde ihrer
Eitelkeit geschmeichelt haben, weil sie den Grund dazu in den verhaßten Maßregeln
Mer Geguer gefunden hätte." Es ist ein schlechter Trost, daß die einst so be¬
rühmte und so erfolgreiche Vaterlandsliebe der Venezianer damals von den: Partei¬
treiben angefressen war, denn die Zeit der Macht und Blüte der Republik war ja
"eveits vorüber! ...


Maßgebliches und Unmaßgebliches
Wo hinaus?

Wer unausgesetzt in der Stickluft der parlamentarischen und
Parteiversammlungeu lebt, wird augenscheinlich leicht das Opfer einer Selbst¬
täuschung, die er an Herrschern und Staatsmännern sehr deutlich erkennen und
aufs härteste verurteilen wurde. Denn der Abstand zwischen den beiden Grund-
anschauungen: „Der Staat bin ich" und „Der Fürst ist der erste Diener des
Staates" ist nicht größer als zwischen den beiden andern: „Das Volk nimmt durch
seine gewählten Vertreter an der Gesetzgebung teil" und „Das Volk sind wir."
Und dieses „wir" gilt nur dann für die Gesamtheit der Volksvertretung, wenn sie
der Negierung gegenüber einig ist; liegt dieser seltenere Fall nicht vor, dann ist „wir"
die Fraktion, und ihr, wo nicht zur Alleinherrschaft, doch zur Überzahl zu ver¬
helfen gilt als die erste Pflicht des Fraktionsmitgliedes. Kann aber, was ja vor¬
kommt, der „Führer" der Fraktion mit einigem Rechte sagen: „Die Fraktion bin
ich," so ist die. Parodie des Ko^ Lolsil vollständig. Nur Pflegen die Beteiligten
das Zerrbild für ein gelungenes, aber „modernisirtes" Porträt zu halten.

Die auf Stärkung der Truppe abzielende Thätigkeit wird natürlich immer
lebhafter, endlich fieberhaft, wenn neue Wahlen, in Aussicht stehen. Da gestaltet
sich so ziemlich jede Rede zur Wahlrede, jede „Persönliche Bemerkung" zum Appell
an den Eigennutz der Menge, die sich uuter andern Verhältnissen Wohl gefallen
lassen muß, als „Stimmvieh" behandelt zu werden. Da werden Anträge hervor-
gesucht, die gänzlich aussichtslos sind (sei es jederzeit oder wenigstens im Augen¬
blick), damit zum Fenster hinaus gerufen werden kann: Seht, wie gut wir es
weinen! Ginge es nach uns, so würden alle Lasten gerecht verteilt, jede Arbeit
nach Verdienst belohnt, jedes billige Verlangen erfüllt werden. Aber die Volks-
^inde auf der andern Seite wollen ja keine Gerechtigkeit üben u. f. w. Von dir,
Zähler, hängt es ab, ob du in Zukunft der freie Bürger eines Mnsterstnates sein
oder die alte Sklavenkette noch länger fortschleppen willst. Dieses Stimmenwerben
Wird so ungescheut und öffentlich betrieben, daß man nicht weiß, ist das Cynismus
^der völlige Verblendung. Je nach den Persönlichkeiten wird Wohl das eine oder
das andre zutreffen. Mancher scheint wirklich zu glauben, von seiner Anwesenheit
Parlament hänge das Wohl und Wehe des Reiches ab, während auf diesen
Und jenen Paßt, was Saint-Real von der Pnpistischen Partei in Venedig zu An¬
lange des siebzehnten Jahrhunderts sagt: „Die meisten fanden ihren Ehrgeiz ver-
^tzt, weil gegen ihre Ratschläge gehandelt worden war. Ihre Rachsucht stimmte
Ac, alles zu thun und alles zu leiden, wenn nur die höchste Gewalt ihren da¬
maligen Besitzern entrissen wurde; und das Verderben des Staates würde ihrer
Eitelkeit geschmeichelt haben, weil sie den Grund dazu in den verhaßten Maßregeln
Mer Geguer gefunden hätte." Es ist ein schlechter Trost, daß die einst so be¬
rühmte und so erfolgreiche Vaterlandsliebe der Venezianer damals von den: Partei¬
treiben angefressen war, denn die Zeit der Macht und Blüte der Republik war ja
»eveits vorüber! ...


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0247" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206892"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Maßgebliches und Unmaßgebliches</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> Wo hinaus?</head>
            <p xml:id="ID_690"> Wer unausgesetzt in der Stickluft der parlamentarischen und<lb/>
Parteiversammlungeu lebt, wird augenscheinlich leicht das Opfer einer Selbst¬<lb/>
täuschung, die er an Herrschern und Staatsmännern sehr deutlich erkennen und<lb/>
aufs härteste verurteilen wurde. Denn der Abstand zwischen den beiden Grund-<lb/>
anschauungen: &#x201E;Der Staat bin ich" und &#x201E;Der Fürst ist der erste Diener des<lb/>
Staates" ist nicht größer als zwischen den beiden andern: &#x201E;Das Volk nimmt durch<lb/>
seine gewählten Vertreter an der Gesetzgebung teil" und &#x201E;Das Volk sind wir."<lb/>
Und dieses &#x201E;wir" gilt nur dann für die Gesamtheit der Volksvertretung, wenn sie<lb/>
der Negierung gegenüber einig ist; liegt dieser seltenere Fall nicht vor, dann ist &#x201E;wir"<lb/>
die Fraktion, und ihr, wo nicht zur Alleinherrschaft, doch zur Überzahl zu ver¬<lb/>
helfen gilt als die erste Pflicht des Fraktionsmitgliedes. Kann aber, was ja vor¬<lb/>
kommt, der &#x201E;Führer" der Fraktion mit einigem Rechte sagen: &#x201E;Die Fraktion bin<lb/>
ich," so ist die. Parodie des Ko^ Lolsil vollständig. Nur Pflegen die Beteiligten<lb/>
das Zerrbild für ein gelungenes, aber &#x201E;modernisirtes" Porträt zu halten.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_691"> Die auf Stärkung der Truppe abzielende Thätigkeit wird natürlich immer<lb/>
lebhafter, endlich fieberhaft, wenn neue Wahlen, in Aussicht stehen. Da gestaltet<lb/>
sich so ziemlich jede Rede zur Wahlrede, jede &#x201E;Persönliche Bemerkung" zum Appell<lb/>
an den Eigennutz der Menge, die sich uuter andern Verhältnissen Wohl gefallen<lb/>
lassen muß, als &#x201E;Stimmvieh" behandelt zu werden. Da werden Anträge hervor-<lb/>
gesucht, die gänzlich aussichtslos sind (sei es jederzeit oder wenigstens im Augen¬<lb/>
blick), damit zum Fenster hinaus gerufen werden kann: Seht, wie gut wir es<lb/>
weinen! Ginge es nach uns, so würden alle Lasten gerecht verteilt, jede Arbeit<lb/>
nach Verdienst belohnt, jedes billige Verlangen erfüllt werden. Aber die Volks-<lb/>
^inde auf der andern Seite wollen ja keine Gerechtigkeit üben u. f. w. Von dir,<lb/>
Zähler, hängt es ab, ob du in Zukunft der freie Bürger eines Mnsterstnates sein<lb/>
oder die alte Sklavenkette noch länger fortschleppen willst. Dieses Stimmenwerben<lb/>
Wird so ungescheut und öffentlich betrieben, daß man nicht weiß, ist das Cynismus<lb/>
^der völlige Verblendung. Je nach den Persönlichkeiten wird Wohl das eine oder<lb/>
das andre zutreffen. Mancher scheint wirklich zu glauben, von seiner Anwesenheit<lb/>
Parlament hänge das Wohl und Wehe des Reiches ab, während auf diesen<lb/>
Und jenen Paßt, was Saint-Real von der Pnpistischen Partei in Venedig zu An¬<lb/>
lange des siebzehnten Jahrhunderts sagt: &#x201E;Die meisten fanden ihren Ehrgeiz ver-<lb/>
^tzt, weil gegen ihre Ratschläge gehandelt worden war. Ihre Rachsucht stimmte<lb/>
Ac, alles zu thun und alles zu leiden, wenn nur die höchste Gewalt ihren da¬<lb/>
maligen Besitzern entrissen wurde; und das Verderben des Staates würde ihrer<lb/>
Eitelkeit geschmeichelt haben, weil sie den Grund dazu in den verhaßten Maßregeln<lb/>
Mer Geguer gefunden hätte." Es ist ein schlechter Trost, daß die einst so be¬<lb/>
rühmte und so erfolgreiche Vaterlandsliebe der Venezianer damals von den: Partei¬<lb/>
treiben angefressen war, denn die Zeit der Macht und Blüte der Republik war ja<lb/>
»eveits vorüber! ...</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0247] Maßgebliches und Unmaßgebliches Wo hinaus? Wer unausgesetzt in der Stickluft der parlamentarischen und Parteiversammlungeu lebt, wird augenscheinlich leicht das Opfer einer Selbst¬ täuschung, die er an Herrschern und Staatsmännern sehr deutlich erkennen und aufs härteste verurteilen wurde. Denn der Abstand zwischen den beiden Grund- anschauungen: „Der Staat bin ich" und „Der Fürst ist der erste Diener des Staates" ist nicht größer als zwischen den beiden andern: „Das Volk nimmt durch seine gewählten Vertreter an der Gesetzgebung teil" und „Das Volk sind wir." Und dieses „wir" gilt nur dann für die Gesamtheit der Volksvertretung, wenn sie der Negierung gegenüber einig ist; liegt dieser seltenere Fall nicht vor, dann ist „wir" die Fraktion, und ihr, wo nicht zur Alleinherrschaft, doch zur Überzahl zu ver¬ helfen gilt als die erste Pflicht des Fraktionsmitgliedes. Kann aber, was ja vor¬ kommt, der „Führer" der Fraktion mit einigem Rechte sagen: „Die Fraktion bin ich," so ist die. Parodie des Ko^ Lolsil vollständig. Nur Pflegen die Beteiligten das Zerrbild für ein gelungenes, aber „modernisirtes" Porträt zu halten. Die auf Stärkung der Truppe abzielende Thätigkeit wird natürlich immer lebhafter, endlich fieberhaft, wenn neue Wahlen, in Aussicht stehen. Da gestaltet sich so ziemlich jede Rede zur Wahlrede, jede „Persönliche Bemerkung" zum Appell an den Eigennutz der Menge, die sich uuter andern Verhältnissen Wohl gefallen lassen muß, als „Stimmvieh" behandelt zu werden. Da werden Anträge hervor- gesucht, die gänzlich aussichtslos sind (sei es jederzeit oder wenigstens im Augen¬ blick), damit zum Fenster hinaus gerufen werden kann: Seht, wie gut wir es weinen! Ginge es nach uns, so würden alle Lasten gerecht verteilt, jede Arbeit nach Verdienst belohnt, jedes billige Verlangen erfüllt werden. Aber die Volks- ^inde auf der andern Seite wollen ja keine Gerechtigkeit üben u. f. w. Von dir, Zähler, hängt es ab, ob du in Zukunft der freie Bürger eines Mnsterstnates sein oder die alte Sklavenkette noch länger fortschleppen willst. Dieses Stimmenwerben Wird so ungescheut und öffentlich betrieben, daß man nicht weiß, ist das Cynismus ^der völlige Verblendung. Je nach den Persönlichkeiten wird Wohl das eine oder das andre zutreffen. Mancher scheint wirklich zu glauben, von seiner Anwesenheit Parlament hänge das Wohl und Wehe des Reiches ab, während auf diesen Und jenen Paßt, was Saint-Real von der Pnpistischen Partei in Venedig zu An¬ lange des siebzehnten Jahrhunderts sagt: „Die meisten fanden ihren Ehrgeiz ver- ^tzt, weil gegen ihre Ratschläge gehandelt worden war. Ihre Rachsucht stimmte Ac, alles zu thun und alles zu leiden, wenn nur die höchste Gewalt ihren da¬ maligen Besitzern entrissen wurde; und das Verderben des Staates würde ihrer Eitelkeit geschmeichelt haben, weil sie den Grund dazu in den verhaßten Maßregeln Mer Geguer gefunden hätte." Es ist ein schlechter Trost, daß die einst so be¬ rühmte und so erfolgreiche Vaterlandsliebe der Venezianer damals von den: Partei¬ treiben angefressen war, denn die Zeit der Macht und Blüte der Republik war ja »eveits vorüber! ...

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/247
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/247>, abgerufen am 23.07.2024.