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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Sybel über die Gründung des Reiches

Bismarcks "Phrasengießkaune," wolle man Shbel selbst nachlesen. Von
Radvwitz wollen wir ihm Folgendes nacherzählen. Von Kassel, wo Ncidowitz mis
Lehrer der Kriegswissenschaften gewirkt hatte, nach Berlin übergesiedelt, erwarb
er sich durch begeisterte Hingebung und christliche Glanbenswürme die Zu¬
neigung des Königs, den es nicht störte, daß Radowitz ein eifriger Katholik war,
sonst war er "ein stets ernst blickender Mann von stark ausgeprägten Gesichts¬
zügen, festem und gemessenem Auftreten; immer Herr über seine Affekte, ge¬
dankenvoll und kenntnisreich, im Besitze eines wahrhaft eneyklopüdischen, wenn
auch hie und da dilettantischen Wissens, ein Gelehrter gleich sehr auf mathe¬
matischem und geschichtlichem, theologischen und archäologischen Gebiete, dabei
höchst bewandert in den üblichen Wissenschaften, der Genealogie, der Wappen-
und Siegetkunde. Er war ein Meister sowohl der Konversation als der
Rednerbühne; hier und dort sprach er stets uur nach gründlicher Vorbereitung,
dann aber mit dem ganzen Gewichte des fertigen Gedankens, der geschlossenen
Form und der Angeschliffenen Schürfe, sodaß er in der Paulskirche sehr bald
zu den gefeiertsten und von allen Parteien beachteten Rednern gehörte. Stets
aber liebte er, lange zu schweigen, dann in der Rede erraten zu lassen, wie
Kiel Ungeahntes noch hinter dem ausgesprochenen Worte liege, und dadurch die
Spannung der Hörer zu erhöhen. So imponirte er, wo er auftrat, gewann
aber nicht leicht das Vertrauen weiterer Kreise. Die preußischen Liberalen
hegten Argwohn gegen den Katholiken, der in allen kirchenpolitischen Fragen
die Begehren der ultramontanen, sonst in Frankfurt stets großdeutschen und
preußenfeindlichen Partei vertrat. Vollends die Konservativen und Feudalen
wußten sich die Absichten des Mannes nicht zu reimen, der in Frankfurt zur
äußersten Rechten gehört hatte und jetzt in Berlin als Freund des Königs
eine entschieden liberale Richtung in den deutscheu Angelegenheiten verfolgte."
Mit schweren Bedenken sahen alle, als er Minister wurde, diese undurch¬
dringliche Persönlichkeit den größten Einfluß auf die Leitung der preußischen
Politik gewinnen. "Die nähern Genossen seines damaligen Wirkens aber haben
ehr bis an seinen Tod als einen ebenso edeln Charakter wie bedeutenden Geist
und vor allem als zuverlässigen preußischen Patrioten verehrt, der planmäßig
und entschieden die großen Ziele der deutsch-preußischen Entwicklung verfolgt
habe. Wir wollen gegen die Reinheit seiner Absichten nichts einwenden.
Gewiß ist aber, daß ihm zum leitenden Staatsmanne bei allem sonstigen Ta¬
lent und Wissen das eine so bescheidene und doch so große Erfordernis fehlte,
der praktische Verstand, der seine Ziele nach den verfügbaren Mitteln zu wühlen
und seine Mittel der Erreichung des vorausgesetzten Zieles anzupassen ver¬
steht."

Vergleichen wir damit, was Bismnrck (bei Busch) über Radvwitz bemerkt,
s" stimmt es nur teilweise zu dem Sybelschen Bilde, jedenfalls spricht Bismnrck
"lebt im Tone der Bewunderung, sondern mit einem starken Anfluge von Spott'


Grenzboten I 1890 29
Sybel über die Gründung des Reiches

Bismarcks „Phrasengießkaune," wolle man Shbel selbst nachlesen. Von
Radvwitz wollen wir ihm Folgendes nacherzählen. Von Kassel, wo Ncidowitz mis
Lehrer der Kriegswissenschaften gewirkt hatte, nach Berlin übergesiedelt, erwarb
er sich durch begeisterte Hingebung und christliche Glanbenswürme die Zu¬
neigung des Königs, den es nicht störte, daß Radowitz ein eifriger Katholik war,
sonst war er „ein stets ernst blickender Mann von stark ausgeprägten Gesichts¬
zügen, festem und gemessenem Auftreten; immer Herr über seine Affekte, ge¬
dankenvoll und kenntnisreich, im Besitze eines wahrhaft eneyklopüdischen, wenn
auch hie und da dilettantischen Wissens, ein Gelehrter gleich sehr auf mathe¬
matischem und geschichtlichem, theologischen und archäologischen Gebiete, dabei
höchst bewandert in den üblichen Wissenschaften, der Genealogie, der Wappen-
und Siegetkunde. Er war ein Meister sowohl der Konversation als der
Rednerbühne; hier und dort sprach er stets uur nach gründlicher Vorbereitung,
dann aber mit dem ganzen Gewichte des fertigen Gedankens, der geschlossenen
Form und der Angeschliffenen Schürfe, sodaß er in der Paulskirche sehr bald
zu den gefeiertsten und von allen Parteien beachteten Rednern gehörte. Stets
aber liebte er, lange zu schweigen, dann in der Rede erraten zu lassen, wie
Kiel Ungeahntes noch hinter dem ausgesprochenen Worte liege, und dadurch die
Spannung der Hörer zu erhöhen. So imponirte er, wo er auftrat, gewann
aber nicht leicht das Vertrauen weiterer Kreise. Die preußischen Liberalen
hegten Argwohn gegen den Katholiken, der in allen kirchenpolitischen Fragen
die Begehren der ultramontanen, sonst in Frankfurt stets großdeutschen und
preußenfeindlichen Partei vertrat. Vollends die Konservativen und Feudalen
wußten sich die Absichten des Mannes nicht zu reimen, der in Frankfurt zur
äußersten Rechten gehört hatte und jetzt in Berlin als Freund des Königs
eine entschieden liberale Richtung in den deutscheu Angelegenheiten verfolgte."
Mit schweren Bedenken sahen alle, als er Minister wurde, diese undurch¬
dringliche Persönlichkeit den größten Einfluß auf die Leitung der preußischen
Politik gewinnen. „Die nähern Genossen seines damaligen Wirkens aber haben
ehr bis an seinen Tod als einen ebenso edeln Charakter wie bedeutenden Geist
und vor allem als zuverlässigen preußischen Patrioten verehrt, der planmäßig
und entschieden die großen Ziele der deutsch-preußischen Entwicklung verfolgt
habe. Wir wollen gegen die Reinheit seiner Absichten nichts einwenden.
Gewiß ist aber, daß ihm zum leitenden Staatsmanne bei allem sonstigen Ta¬
lent und Wissen das eine so bescheidene und doch so große Erfordernis fehlte,
der praktische Verstand, der seine Ziele nach den verfügbaren Mitteln zu wühlen
und seine Mittel der Erreichung des vorausgesetzten Zieles anzupassen ver¬
steht."

Vergleichen wir damit, was Bismnrck (bei Busch) über Radvwitz bemerkt,
s" stimmt es nur teilweise zu dem Sybelschen Bilde, jedenfalls spricht Bismnrck
"lebt im Tone der Bewunderung, sondern mit einem starken Anfluge von Spott'


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[0233] Sybel über die Gründung des Reiches Bismarcks „Phrasengießkaune," wolle man Shbel selbst nachlesen. Von Radvwitz wollen wir ihm Folgendes nacherzählen. Von Kassel, wo Ncidowitz mis Lehrer der Kriegswissenschaften gewirkt hatte, nach Berlin übergesiedelt, erwarb er sich durch begeisterte Hingebung und christliche Glanbenswürme die Zu¬ neigung des Königs, den es nicht störte, daß Radowitz ein eifriger Katholik war, sonst war er „ein stets ernst blickender Mann von stark ausgeprägten Gesichts¬ zügen, festem und gemessenem Auftreten; immer Herr über seine Affekte, ge¬ dankenvoll und kenntnisreich, im Besitze eines wahrhaft eneyklopüdischen, wenn auch hie und da dilettantischen Wissens, ein Gelehrter gleich sehr auf mathe¬ matischem und geschichtlichem, theologischen und archäologischen Gebiete, dabei höchst bewandert in den üblichen Wissenschaften, der Genealogie, der Wappen- und Siegetkunde. Er war ein Meister sowohl der Konversation als der Rednerbühne; hier und dort sprach er stets uur nach gründlicher Vorbereitung, dann aber mit dem ganzen Gewichte des fertigen Gedankens, der geschlossenen Form und der Angeschliffenen Schürfe, sodaß er in der Paulskirche sehr bald zu den gefeiertsten und von allen Parteien beachteten Rednern gehörte. Stets aber liebte er, lange zu schweigen, dann in der Rede erraten zu lassen, wie Kiel Ungeahntes noch hinter dem ausgesprochenen Worte liege, und dadurch die Spannung der Hörer zu erhöhen. So imponirte er, wo er auftrat, gewann aber nicht leicht das Vertrauen weiterer Kreise. Die preußischen Liberalen hegten Argwohn gegen den Katholiken, der in allen kirchenpolitischen Fragen die Begehren der ultramontanen, sonst in Frankfurt stets großdeutschen und preußenfeindlichen Partei vertrat. Vollends die Konservativen und Feudalen wußten sich die Absichten des Mannes nicht zu reimen, der in Frankfurt zur äußersten Rechten gehört hatte und jetzt in Berlin als Freund des Königs eine entschieden liberale Richtung in den deutscheu Angelegenheiten verfolgte." Mit schweren Bedenken sahen alle, als er Minister wurde, diese undurch¬ dringliche Persönlichkeit den größten Einfluß auf die Leitung der preußischen Politik gewinnen. „Die nähern Genossen seines damaligen Wirkens aber haben ehr bis an seinen Tod als einen ebenso edeln Charakter wie bedeutenden Geist und vor allem als zuverlässigen preußischen Patrioten verehrt, der planmäßig und entschieden die großen Ziele der deutsch-preußischen Entwicklung verfolgt habe. Wir wollen gegen die Reinheit seiner Absichten nichts einwenden. Gewiß ist aber, daß ihm zum leitenden Staatsmanne bei allem sonstigen Ta¬ lent und Wissen das eine so bescheidene und doch so große Erfordernis fehlte, der praktische Verstand, der seine Ziele nach den verfügbaren Mitteln zu wühlen und seine Mittel der Erreichung des vorausgesetzten Zieles anzupassen ver¬ steht." Vergleichen wir damit, was Bismnrck (bei Busch) über Radvwitz bemerkt, s" stimmt es nur teilweise zu dem Sybelschen Bilde, jedenfalls spricht Bismnrck "lebt im Tone der Bewunderung, sondern mit einem starken Anfluge von Spott' Grenzboten I 1890 29

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/233>, abgerufen am 23.07.2024.