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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Sybel über die Gründung des Reiches

in Versailles über Gesandtschaftsberichte und deren Verwertung sür historische
Zwecke: "Es ist großenteils Papier und Tinte darauf. Das Schlimmste ist,
wenn sich laug machen. Ja, bei Bernstorff, wenn der jedesmal ein solches
Nies Papier schickt mit veralteten Zeitungsausschnitten, da ist mans gewohnt.
Aber wenn ein andrer einmal viel schreibt, da wird man verdrießlich, weil
doch in der Regel nichts drin ist. -- Wenn sie einmal Geschichte schreiben
darnach, so ist nichts Ordentliches daraus zu ersehen. Ich glaube, nach dreißig
Jahren werden ihnen die Archive geöffnet, man könnte sie viel eher hineinsehen
lassen. Die Depeschen und Briefe sind, auch wo sie einmal was enthalten,
solchen, welche die Personen und Verhältnisse nicht kennen, nicht verständlich.
Wer weiß da nach dreißig Jahren, was der Schreiber selbst für ein Mann
war, wie er die Dinge ansah, wie er sie seiner Individualität nach darstellte?
Und wer kennt die Personen allemal näher, von denen er berichtet? Man
muß wissen, was der Gortschakoff oder was der Gladstone oder Grauville
mit dem gemeint haben, was der Gesandte berichtet. Eher sieht man noch
was ans den Zeitungen, deren sich die Regierungen jn mich bedienen, und
wo man hänfig deutlicher sagt, was man will. Doch gehört auch dazu
Kenntnis der Verhältnisse. Die Hauptsache liegt aber immer in Privatbriefen
und konfidentiellen Mitteilungen, much mündlichen, was alles nicht zu den
Akten kommt." Er führte dann eine Anzahl von Beispielen an und schloß:
"Das erfährt man nur auf vertraulichem Wege und nicht auf amtlichen."
Manches hiervon fällt allerdings bei Sybel weg, da sich ihm die Archive nicht
erst nach dreißig Jahren aufgethan haben, er also den Berichterstattern und
ihren Gegenständen näher stand, als er sich mit ihnen beschäftigte, und da
ihm, wie mehrfach ersichtlich ist, auch mündlich und zwar anscheinend vom
Reichskanzler selbst Mitteilungen und Aufschlüsse zugekommen sind. In Betreff
der Verarbeitung des Materials aber wird man von vornherein zweifeln dürfen,
ob es überhaupt jemand möglich ist, über eine Zeit, in der wir noch mit dein
einen Fuße stehen, und über Personen, die wir noch neben und über uns
sehen, so frei und unbefangen zu reden, wie in etwa fünfzig Jahren. Der
Verfasser ist ferner eingestandenermaßen nicht bloß Geschichtsschreiber, sondern
auch Pnrteimaun gewesen, "an keiner Stelle des Buches" hat er "seine preußi¬
schen und nationalliberaleu Überzeugungen verleugnet." Er hat endlich wohl
auch die Verpflichtung empfunden, den Voraussetzungen bestens zu entsprechen,
uuter denen ihm das amtliche Material anvertraut wurde, d. h. nach Möglich¬
keit zu billigen und zu loben, und dabei konnte Dankbarkeit mehr gethan haben,
als vom Standpunkte der reinen geschichtlichen Wahrheit gestattet ist.

Wir heben das alles aber nur hervor, um zu verhüten, daß man in dem
Sybelschen Werke das Ideal der Darstellung unsrer neuesten Geschichte zu
finden erwarte. Das ist es nicht und konnte es nicht werden. Wohl aber
ist es bis jetzt das beste Buch seiner Art. Das immer noch lückenhafte, aber


Sybel über die Gründung des Reiches

in Versailles über Gesandtschaftsberichte und deren Verwertung sür historische
Zwecke: „Es ist großenteils Papier und Tinte darauf. Das Schlimmste ist,
wenn sich laug machen. Ja, bei Bernstorff, wenn der jedesmal ein solches
Nies Papier schickt mit veralteten Zeitungsausschnitten, da ist mans gewohnt.
Aber wenn ein andrer einmal viel schreibt, da wird man verdrießlich, weil
doch in der Regel nichts drin ist. — Wenn sie einmal Geschichte schreiben
darnach, so ist nichts Ordentliches daraus zu ersehen. Ich glaube, nach dreißig
Jahren werden ihnen die Archive geöffnet, man könnte sie viel eher hineinsehen
lassen. Die Depeschen und Briefe sind, auch wo sie einmal was enthalten,
solchen, welche die Personen und Verhältnisse nicht kennen, nicht verständlich.
Wer weiß da nach dreißig Jahren, was der Schreiber selbst für ein Mann
war, wie er die Dinge ansah, wie er sie seiner Individualität nach darstellte?
Und wer kennt die Personen allemal näher, von denen er berichtet? Man
muß wissen, was der Gortschakoff oder was der Gladstone oder Grauville
mit dem gemeint haben, was der Gesandte berichtet. Eher sieht man noch
was ans den Zeitungen, deren sich die Regierungen jn mich bedienen, und
wo man hänfig deutlicher sagt, was man will. Doch gehört auch dazu
Kenntnis der Verhältnisse. Die Hauptsache liegt aber immer in Privatbriefen
und konfidentiellen Mitteilungen, much mündlichen, was alles nicht zu den
Akten kommt." Er führte dann eine Anzahl von Beispielen an und schloß:
„Das erfährt man nur auf vertraulichem Wege und nicht auf amtlichen."
Manches hiervon fällt allerdings bei Sybel weg, da sich ihm die Archive nicht
erst nach dreißig Jahren aufgethan haben, er also den Berichterstattern und
ihren Gegenständen näher stand, als er sich mit ihnen beschäftigte, und da
ihm, wie mehrfach ersichtlich ist, auch mündlich und zwar anscheinend vom
Reichskanzler selbst Mitteilungen und Aufschlüsse zugekommen sind. In Betreff
der Verarbeitung des Materials aber wird man von vornherein zweifeln dürfen,
ob es überhaupt jemand möglich ist, über eine Zeit, in der wir noch mit dein
einen Fuße stehen, und über Personen, die wir noch neben und über uns
sehen, so frei und unbefangen zu reden, wie in etwa fünfzig Jahren. Der
Verfasser ist ferner eingestandenermaßen nicht bloß Geschichtsschreiber, sondern
auch Pnrteimaun gewesen, „an keiner Stelle des Buches" hat er „seine preußi¬
schen und nationalliberaleu Überzeugungen verleugnet." Er hat endlich wohl
auch die Verpflichtung empfunden, den Voraussetzungen bestens zu entsprechen,
uuter denen ihm das amtliche Material anvertraut wurde, d. h. nach Möglich¬
keit zu billigen und zu loben, und dabei konnte Dankbarkeit mehr gethan haben,
als vom Standpunkte der reinen geschichtlichen Wahrheit gestattet ist.

Wir heben das alles aber nur hervor, um zu verhüten, daß man in dem
Sybelschen Werke das Ideal der Darstellung unsrer neuesten Geschichte zu
finden erwarte. Das ist es nicht und konnte es nicht werden. Wohl aber
ist es bis jetzt das beste Buch seiner Art. Das immer noch lückenhafte, aber


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[0228] Sybel über die Gründung des Reiches in Versailles über Gesandtschaftsberichte und deren Verwertung sür historische Zwecke: „Es ist großenteils Papier und Tinte darauf. Das Schlimmste ist, wenn sich laug machen. Ja, bei Bernstorff, wenn der jedesmal ein solches Nies Papier schickt mit veralteten Zeitungsausschnitten, da ist mans gewohnt. Aber wenn ein andrer einmal viel schreibt, da wird man verdrießlich, weil doch in der Regel nichts drin ist. — Wenn sie einmal Geschichte schreiben darnach, so ist nichts Ordentliches daraus zu ersehen. Ich glaube, nach dreißig Jahren werden ihnen die Archive geöffnet, man könnte sie viel eher hineinsehen lassen. Die Depeschen und Briefe sind, auch wo sie einmal was enthalten, solchen, welche die Personen und Verhältnisse nicht kennen, nicht verständlich. Wer weiß da nach dreißig Jahren, was der Schreiber selbst für ein Mann war, wie er die Dinge ansah, wie er sie seiner Individualität nach darstellte? Und wer kennt die Personen allemal näher, von denen er berichtet? Man muß wissen, was der Gortschakoff oder was der Gladstone oder Grauville mit dem gemeint haben, was der Gesandte berichtet. Eher sieht man noch was ans den Zeitungen, deren sich die Regierungen jn mich bedienen, und wo man hänfig deutlicher sagt, was man will. Doch gehört auch dazu Kenntnis der Verhältnisse. Die Hauptsache liegt aber immer in Privatbriefen und konfidentiellen Mitteilungen, much mündlichen, was alles nicht zu den Akten kommt." Er führte dann eine Anzahl von Beispielen an und schloß: „Das erfährt man nur auf vertraulichem Wege und nicht auf amtlichen." Manches hiervon fällt allerdings bei Sybel weg, da sich ihm die Archive nicht erst nach dreißig Jahren aufgethan haben, er also den Berichterstattern und ihren Gegenständen näher stand, als er sich mit ihnen beschäftigte, und da ihm, wie mehrfach ersichtlich ist, auch mündlich und zwar anscheinend vom Reichskanzler selbst Mitteilungen und Aufschlüsse zugekommen sind. In Betreff der Verarbeitung des Materials aber wird man von vornherein zweifeln dürfen, ob es überhaupt jemand möglich ist, über eine Zeit, in der wir noch mit dein einen Fuße stehen, und über Personen, die wir noch neben und über uns sehen, so frei und unbefangen zu reden, wie in etwa fünfzig Jahren. Der Verfasser ist ferner eingestandenermaßen nicht bloß Geschichtsschreiber, sondern auch Pnrteimaun gewesen, „an keiner Stelle des Buches" hat er „seine preußi¬ schen und nationalliberaleu Überzeugungen verleugnet." Er hat endlich wohl auch die Verpflichtung empfunden, den Voraussetzungen bestens zu entsprechen, uuter denen ihm das amtliche Material anvertraut wurde, d. h. nach Möglich¬ keit zu billigen und zu loben, und dabei konnte Dankbarkeit mehr gethan haben, als vom Standpunkte der reinen geschichtlichen Wahrheit gestattet ist. Wir heben das alles aber nur hervor, um zu verhüten, daß man in dem Sybelschen Werke das Ideal der Darstellung unsrer neuesten Geschichte zu finden erwarte. Das ist es nicht und konnte es nicht werden. Wohl aber ist es bis jetzt das beste Buch seiner Art. Das immer noch lückenhafte, aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/228>, abgerufen am 23.07.2024.