Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Nationalgefühl

und Zeugnissen über ihn studiren kann, da bricht dieser beste Deutsche in die
Klage aus: "Ich könnte weinen; es ist, als ob ein böser Geist meinen Himmel
verdorben Hütte. Ich wollte so gern einmal einen wahrhaft großen Mann
rein verehren; das kann ich nun hier nicht." Und neben Seume, dem leben¬
digen Genossen der Zeit, steht dann, denselben Jndividnnlismus verdeutlichend,
eine wunderbar gezeichnete poetische Figur: tiefer und wahrer ist wohl nie das
damalige Deutschtum zusammengefaßt worden, als durch den größten der
Deutschen selbst, als in Wilhelm Meister, dem dichterisch geschaffenen Einzel¬
manne, der ohne Familie und ohne Vaterland nur die Entwicklung seiner
menschlichen Persönlichkeit in idealer Freiheit erfährt.

Aber man trat auch dann dem staatlichen Leben zunächst noch nicht näher,
als sich in der Litteratur und bis zu einem gewissen Grade in der Geistes¬
welt überhaupt teilweise jeuer Umschwung vollzog, der sich an den Namen der
romantischen Schule knüpft. Freilich hatte sich jetzt die Freude am Deutschtum
völlig durchgerungen; so weit auch der Geist von Tieck und Schlegel schweifen
mochte in alle Fernen indogermanischer Dichtung und Kultur, sie kehrten
doch immer wieder von da mit neuen Schätzen auf den nationalen Boden zu
Brentano und Arnim zurück. In der Hauptsache blieb durch alle Zeit der
Romantik in ihr das bestimmend, was so sehr schon auf ihre Entstehung einge¬
wirkt hatte: der Sinn, der aus den Gesängen vou der Hermanusschlacht, der
aus Goethes Götz von Berlichingen und auch schon aus dem Faustfrngment
seine Nahrung zog: ich meine die enge Verbindung ausschließlich mit der
deutschen Vergangenheit. Die frische Morgenluft deutscheu Wesens, vou der
Achin von Arnim sang, sie wehte aus der Vergangenheit her; deutsch und
mittelalterlich waren in einander verschwimmende Begriffe. Wo die Burgen
und die grauen Städte der Geschichte winkten, nur da konnte die Romantik
ihre Anknüpfung finden; gerade dnrch sie, erst durch ihre Vermittlung fand
sie das sehnsuchtsvolle Eindringen in die Natur, in die Poesie der Wander¬
straße nud der Flußfahrt, in die farbige Schönheit von Thal und Berg,
und Heidelberg ward eine ihrer geliebtesten Residenzen, bezeichnenderweise
gerade die Stadt, die der Fürstensitz vergangner Zeiten in einem von der
neuen Zeit hinweggefegten Staate war. Die Romantiker selbst haben nicht
unmittelbar an der Erweckung moderner nationaler Gedanken ungeschaffen,
aber aus ihrem Dichten und Thun ist darum doch reichliche Förderung des
spätern deutscheu Nationalgefühls hervorgegangen; sie hatten eben gezeigt, daß
weit zurück hinter dein franzosisirenden Zeitraume des siebzehnten und acht¬
zehnten Jahrhunderts eine ungeahnte große Welt deutscheu Lebens, eignen
Geistes und eigner Gesittung ruhe und schlununre, sie hatten ferner den im
wirklichen Sinne romantisch-historischen Fluß, den Rhein -- und gerade in der
Zeit, wo der Rhein geschichtlich am wenigsten dem Vaterlande angehörte --,
in glücklicher politischer Achtlosigkeit zum deutschen Strome vor allen, zum


Das Nationalgefühl

und Zeugnissen über ihn studiren kann, da bricht dieser beste Deutsche in die
Klage aus: „Ich könnte weinen; es ist, als ob ein böser Geist meinen Himmel
verdorben Hütte. Ich wollte so gern einmal einen wahrhaft großen Mann
rein verehren; das kann ich nun hier nicht." Und neben Seume, dem leben¬
digen Genossen der Zeit, steht dann, denselben Jndividnnlismus verdeutlichend,
eine wunderbar gezeichnete poetische Figur: tiefer und wahrer ist wohl nie das
damalige Deutschtum zusammengefaßt worden, als durch den größten der
Deutschen selbst, als in Wilhelm Meister, dem dichterisch geschaffenen Einzel¬
manne, der ohne Familie und ohne Vaterland nur die Entwicklung seiner
menschlichen Persönlichkeit in idealer Freiheit erfährt.

Aber man trat auch dann dem staatlichen Leben zunächst noch nicht näher,
als sich in der Litteratur und bis zu einem gewissen Grade in der Geistes¬
welt überhaupt teilweise jeuer Umschwung vollzog, der sich an den Namen der
romantischen Schule knüpft. Freilich hatte sich jetzt die Freude am Deutschtum
völlig durchgerungen; so weit auch der Geist von Tieck und Schlegel schweifen
mochte in alle Fernen indogermanischer Dichtung und Kultur, sie kehrten
doch immer wieder von da mit neuen Schätzen auf den nationalen Boden zu
Brentano und Arnim zurück. In der Hauptsache blieb durch alle Zeit der
Romantik in ihr das bestimmend, was so sehr schon auf ihre Entstehung einge¬
wirkt hatte: der Sinn, der aus den Gesängen vou der Hermanusschlacht, der
aus Goethes Götz von Berlichingen und auch schon aus dem Faustfrngment
seine Nahrung zog: ich meine die enge Verbindung ausschließlich mit der
deutschen Vergangenheit. Die frische Morgenluft deutscheu Wesens, vou der
Achin von Arnim sang, sie wehte aus der Vergangenheit her; deutsch und
mittelalterlich waren in einander verschwimmende Begriffe. Wo die Burgen
und die grauen Städte der Geschichte winkten, nur da konnte die Romantik
ihre Anknüpfung finden; gerade dnrch sie, erst durch ihre Vermittlung fand
sie das sehnsuchtsvolle Eindringen in die Natur, in die Poesie der Wander¬
straße nud der Flußfahrt, in die farbige Schönheit von Thal und Berg,
und Heidelberg ward eine ihrer geliebtesten Residenzen, bezeichnenderweise
gerade die Stadt, die der Fürstensitz vergangner Zeiten in einem von der
neuen Zeit hinweggefegten Staate war. Die Romantiker selbst haben nicht
unmittelbar an der Erweckung moderner nationaler Gedanken ungeschaffen,
aber aus ihrem Dichten und Thun ist darum doch reichliche Förderung des
spätern deutscheu Nationalgefühls hervorgegangen; sie hatten eben gezeigt, daß
weit zurück hinter dein franzosisirenden Zeitraume des siebzehnten und acht¬
zehnten Jahrhunderts eine ungeahnte große Welt deutscheu Lebens, eignen
Geistes und eigner Gesittung ruhe und schlununre, sie hatten ferner den im
wirklichen Sinne romantisch-historischen Fluß, den Rhein — und gerade in der
Zeit, wo der Rhein geschichtlich am wenigsten dem Vaterlande angehörte —,
in glücklicher politischer Achtlosigkeit zum deutschen Strome vor allen, zum


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0022" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206667"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Nationalgefühl</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_30" prev="#ID_29"> und Zeugnissen über ihn studiren kann, da bricht dieser beste Deutsche in die<lb/>
Klage aus: &#x201E;Ich könnte weinen; es ist, als ob ein böser Geist meinen Himmel<lb/>
verdorben Hütte. Ich wollte so gern einmal einen wahrhaft großen Mann<lb/>
rein verehren; das kann ich nun hier nicht." Und neben Seume, dem leben¬<lb/>
digen Genossen der Zeit, steht dann, denselben Jndividnnlismus verdeutlichend,<lb/>
eine wunderbar gezeichnete poetische Figur: tiefer und wahrer ist wohl nie das<lb/>
damalige Deutschtum zusammengefaßt worden, als durch den größten der<lb/>
Deutschen selbst, als in Wilhelm Meister, dem dichterisch geschaffenen Einzel¬<lb/>
manne, der ohne Familie und ohne Vaterland nur die Entwicklung seiner<lb/>
menschlichen Persönlichkeit in idealer Freiheit erfährt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_31" next="#ID_32"> Aber man trat auch dann dem staatlichen Leben zunächst noch nicht näher,<lb/>
als sich in der Litteratur und bis zu einem gewissen Grade in der Geistes¬<lb/>
welt überhaupt teilweise jeuer Umschwung vollzog, der sich an den Namen der<lb/>
romantischen Schule knüpft. Freilich hatte sich jetzt die Freude am Deutschtum<lb/>
völlig durchgerungen; so weit auch der Geist von Tieck und Schlegel schweifen<lb/>
mochte in alle Fernen indogermanischer Dichtung und Kultur, sie kehrten<lb/>
doch immer wieder von da mit neuen Schätzen auf den nationalen Boden zu<lb/>
Brentano und Arnim zurück. In der Hauptsache blieb durch alle Zeit der<lb/>
Romantik in ihr das bestimmend, was so sehr schon auf ihre Entstehung einge¬<lb/>
wirkt hatte: der Sinn, der aus den Gesängen vou der Hermanusschlacht, der<lb/>
aus Goethes Götz von Berlichingen und auch schon aus dem Faustfrngment<lb/>
seine Nahrung zog: ich meine die enge Verbindung ausschließlich mit der<lb/>
deutschen Vergangenheit. Die frische Morgenluft deutscheu Wesens, vou der<lb/>
Achin von Arnim sang, sie wehte aus der Vergangenheit her; deutsch und<lb/>
mittelalterlich waren in einander verschwimmende Begriffe. Wo die Burgen<lb/>
und die grauen Städte der Geschichte winkten, nur da konnte die Romantik<lb/>
ihre Anknüpfung finden; gerade dnrch sie, erst durch ihre Vermittlung fand<lb/>
sie das sehnsuchtsvolle Eindringen in die Natur, in die Poesie der Wander¬<lb/>
straße nud der Flußfahrt, in die farbige Schönheit von Thal und Berg,<lb/>
und Heidelberg ward eine ihrer geliebtesten Residenzen, bezeichnenderweise<lb/>
gerade die Stadt, die der Fürstensitz vergangner Zeiten in einem von der<lb/>
neuen Zeit hinweggefegten Staate war. Die Romantiker selbst haben nicht<lb/>
unmittelbar an der Erweckung moderner nationaler Gedanken ungeschaffen,<lb/>
aber aus ihrem Dichten und Thun ist darum doch reichliche Förderung des<lb/>
spätern deutscheu Nationalgefühls hervorgegangen; sie hatten eben gezeigt, daß<lb/>
weit zurück hinter dein franzosisirenden Zeitraume des siebzehnten und acht¬<lb/>
zehnten Jahrhunderts eine ungeahnte große Welt deutscheu Lebens, eignen<lb/>
Geistes und eigner Gesittung ruhe und schlununre, sie hatten ferner den im<lb/>
wirklichen Sinne romantisch-historischen Fluß, den Rhein &#x2014; und gerade in der<lb/>
Zeit, wo der Rhein geschichtlich am wenigsten dem Vaterlande angehörte &#x2014;,<lb/>
in glücklicher politischer Achtlosigkeit zum deutschen Strome vor allen, zum</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0022] Das Nationalgefühl und Zeugnissen über ihn studiren kann, da bricht dieser beste Deutsche in die Klage aus: „Ich könnte weinen; es ist, als ob ein böser Geist meinen Himmel verdorben Hütte. Ich wollte so gern einmal einen wahrhaft großen Mann rein verehren; das kann ich nun hier nicht." Und neben Seume, dem leben¬ digen Genossen der Zeit, steht dann, denselben Jndividnnlismus verdeutlichend, eine wunderbar gezeichnete poetische Figur: tiefer und wahrer ist wohl nie das damalige Deutschtum zusammengefaßt worden, als durch den größten der Deutschen selbst, als in Wilhelm Meister, dem dichterisch geschaffenen Einzel¬ manne, der ohne Familie und ohne Vaterland nur die Entwicklung seiner menschlichen Persönlichkeit in idealer Freiheit erfährt. Aber man trat auch dann dem staatlichen Leben zunächst noch nicht näher, als sich in der Litteratur und bis zu einem gewissen Grade in der Geistes¬ welt überhaupt teilweise jeuer Umschwung vollzog, der sich an den Namen der romantischen Schule knüpft. Freilich hatte sich jetzt die Freude am Deutschtum völlig durchgerungen; so weit auch der Geist von Tieck und Schlegel schweifen mochte in alle Fernen indogermanischer Dichtung und Kultur, sie kehrten doch immer wieder von da mit neuen Schätzen auf den nationalen Boden zu Brentano und Arnim zurück. In der Hauptsache blieb durch alle Zeit der Romantik in ihr das bestimmend, was so sehr schon auf ihre Entstehung einge¬ wirkt hatte: der Sinn, der aus den Gesängen vou der Hermanusschlacht, der aus Goethes Götz von Berlichingen und auch schon aus dem Faustfrngment seine Nahrung zog: ich meine die enge Verbindung ausschließlich mit der deutschen Vergangenheit. Die frische Morgenluft deutscheu Wesens, vou der Achin von Arnim sang, sie wehte aus der Vergangenheit her; deutsch und mittelalterlich waren in einander verschwimmende Begriffe. Wo die Burgen und die grauen Städte der Geschichte winkten, nur da konnte die Romantik ihre Anknüpfung finden; gerade dnrch sie, erst durch ihre Vermittlung fand sie das sehnsuchtsvolle Eindringen in die Natur, in die Poesie der Wander¬ straße nud der Flußfahrt, in die farbige Schönheit von Thal und Berg, und Heidelberg ward eine ihrer geliebtesten Residenzen, bezeichnenderweise gerade die Stadt, die der Fürstensitz vergangner Zeiten in einem von der neuen Zeit hinweggefegten Staate war. Die Romantiker selbst haben nicht unmittelbar an der Erweckung moderner nationaler Gedanken ungeschaffen, aber aus ihrem Dichten und Thun ist darum doch reichliche Förderung des spätern deutscheu Nationalgefühls hervorgegangen; sie hatten eben gezeigt, daß weit zurück hinter dein franzosisirenden Zeitraume des siebzehnten und acht¬ zehnten Jahrhunderts eine ungeahnte große Welt deutscheu Lebens, eignen Geistes und eigner Gesittung ruhe und schlununre, sie hatten ferner den im wirklichen Sinne romantisch-historischen Fluß, den Rhein — und gerade in der Zeit, wo der Rhein geschichtlich am wenigsten dem Vaterlande angehörte —, in glücklicher politischer Achtlosigkeit zum deutschen Strome vor allen, zum

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/22
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/22>, abgerufen am 23.07.2024.