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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Studien zur englischen Litteratur der Gegenwart

Der andre nntwvrtet mit einem höhnischen Gelächter, und mit unglaub¬
licher Schuelligkeit hat er die Thür aufgeschlossen und ist hinter ihr ver¬
schwunden.

Alderson findet seinen Freund wirklich nicht zu Hause. Die Unruhe des
Advokaten steigt immer höher. Er will und muß seinen alten Freund ans
den Krallen dieses Nichtswürdigen befreien. Nach einer gemütlichen Gesellschaft
beim Doktor Jekyll nimmt er, als sie beide allein siud, die Gelegenheit wahr,
über Hyde zu sprechen. Was ich über Hyde gehört habe, sagt Alderson, ist
etwas Schändliches.

Das geht mich nichts an, erwiderte der Doktor, ich ändere mein Testament
nicht. Ich bin in einer sehr schwierigen Lage. Der Fall ist selten, unge¬
wöhnlich. Es nützt nichts, noch weiter darüber zu sprechen.

Der Verkehr zwischen beiden wird immer kühler. Jekyll zieht sich mehr
und mehr von der Gesellschaft zurück. Dn geht eines Tages durch London die
Kunde von der grüßlichen Ermordung eines hochstehenden Mannes, Sir Carew,
die nach der Aussage eines Mädchens von einem kleinen, abschreckend häßlichen
Menschen auf offner Straße verübt worden sein soll.

Man findet neben dem Toten die Hälfte eines zerbrochenen Stockes und
in seiner Tasche einen an den Rechtsanwalt Alderson gerichteten Brief. Dieser
wird herbei gerufen und mutmaße sofort nach der Beschreibung des Mörders,
daß es kein andrer als Hyde sein könne. Er sieht das Stück des zerbrochenen
Stockes und erschrickt, denn denselben Stock hat er selbst einst dem Doktor Jekyll
geschenkt. Keine Frage -- Hyde hat den Stock von seinem Freunde erhalten
oder gestohlen und den Mord damit begangen. Er führt den Polizeibeamten
nach der Wohnung Hydes, aber dieser scheint bereits geflohen zu sein. Die
andre Hälfte des Stockes wird in Hydes Zimmer gefunden. In allen englischen
Zeitungen werden dem Entdecker des Mörders große Belohnungen zugesichert.
Alderson ist im höchsten Grade aufgeregt. Er geht zum Doktor Jekyll und
findet ihn in sehr niedergedrückter Stimmung.

Ich möchte nur eins wissen, sagt der Advokat, Carew war mein Klient
und nrein Freund, gerade wie du es bist. Was soll ich nun thun? Du bist
doch nicht etwa wahnsinnig genug, den Mörder zu verbergen?

Alderson, ruft der Doktor, ich schwöre es dir beim allmächtigen Gott,
daß ich ihn nie in meinem Leben wiedersehen will. Ich gebe dir mein Ehren¬
wort, ich habe nichts mehr mit ihm zu thun, es ist alles, alles vorbei zwischen
uns. Außerdem bedarf er meiner Hilfe nicht, er ist außer Gefahr, außer aller
Gefahr. Glaube mir, Alderson, man wird ihn nie wieder einfangen ^ man
wird nie wieder etwas von ihm hören.

Nachdem Hyde verschwunden ist, tritt Jekyll wie von einem Alp befreit
wieder aus seiner Zurückgezogenheit hervor, verkehrt mit seinen Freunden wie
früher und giebt glänzende Gesellschaften. Mit einemmale bricht er wieder


Studien zur englischen Litteratur der Gegenwart

Der andre nntwvrtet mit einem höhnischen Gelächter, und mit unglaub¬
licher Schuelligkeit hat er die Thür aufgeschlossen und ist hinter ihr ver¬
schwunden.

Alderson findet seinen Freund wirklich nicht zu Hause. Die Unruhe des
Advokaten steigt immer höher. Er will und muß seinen alten Freund ans
den Krallen dieses Nichtswürdigen befreien. Nach einer gemütlichen Gesellschaft
beim Doktor Jekyll nimmt er, als sie beide allein siud, die Gelegenheit wahr,
über Hyde zu sprechen. Was ich über Hyde gehört habe, sagt Alderson, ist
etwas Schändliches.

Das geht mich nichts an, erwiderte der Doktor, ich ändere mein Testament
nicht. Ich bin in einer sehr schwierigen Lage. Der Fall ist selten, unge¬
wöhnlich. Es nützt nichts, noch weiter darüber zu sprechen.

Der Verkehr zwischen beiden wird immer kühler. Jekyll zieht sich mehr
und mehr von der Gesellschaft zurück. Dn geht eines Tages durch London die
Kunde von der grüßlichen Ermordung eines hochstehenden Mannes, Sir Carew,
die nach der Aussage eines Mädchens von einem kleinen, abschreckend häßlichen
Menschen auf offner Straße verübt worden sein soll.

Man findet neben dem Toten die Hälfte eines zerbrochenen Stockes und
in seiner Tasche einen an den Rechtsanwalt Alderson gerichteten Brief. Dieser
wird herbei gerufen und mutmaße sofort nach der Beschreibung des Mörders,
daß es kein andrer als Hyde sein könne. Er sieht das Stück des zerbrochenen
Stockes und erschrickt, denn denselben Stock hat er selbst einst dem Doktor Jekyll
geschenkt. Keine Frage — Hyde hat den Stock von seinem Freunde erhalten
oder gestohlen und den Mord damit begangen. Er führt den Polizeibeamten
nach der Wohnung Hydes, aber dieser scheint bereits geflohen zu sein. Die
andre Hälfte des Stockes wird in Hydes Zimmer gefunden. In allen englischen
Zeitungen werden dem Entdecker des Mörders große Belohnungen zugesichert.
Alderson ist im höchsten Grade aufgeregt. Er geht zum Doktor Jekyll und
findet ihn in sehr niedergedrückter Stimmung.

Ich möchte nur eins wissen, sagt der Advokat, Carew war mein Klient
und nrein Freund, gerade wie du es bist. Was soll ich nun thun? Du bist
doch nicht etwa wahnsinnig genug, den Mörder zu verbergen?

Alderson, ruft der Doktor, ich schwöre es dir beim allmächtigen Gott,
daß ich ihn nie in meinem Leben wiedersehen will. Ich gebe dir mein Ehren¬
wort, ich habe nichts mehr mit ihm zu thun, es ist alles, alles vorbei zwischen
uns. Außerdem bedarf er meiner Hilfe nicht, er ist außer Gefahr, außer aller
Gefahr. Glaube mir, Alderson, man wird ihn nie wieder einfangen ^ man
wird nie wieder etwas von ihm hören.

Nachdem Hyde verschwunden ist, tritt Jekyll wie von einem Alp befreit
wieder aus seiner Zurückgezogenheit hervor, verkehrt mit seinen Freunden wie
früher und giebt glänzende Gesellschaften. Mit einemmale bricht er wieder


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[0195] Studien zur englischen Litteratur der Gegenwart Der andre nntwvrtet mit einem höhnischen Gelächter, und mit unglaub¬ licher Schuelligkeit hat er die Thür aufgeschlossen und ist hinter ihr ver¬ schwunden. Alderson findet seinen Freund wirklich nicht zu Hause. Die Unruhe des Advokaten steigt immer höher. Er will und muß seinen alten Freund ans den Krallen dieses Nichtswürdigen befreien. Nach einer gemütlichen Gesellschaft beim Doktor Jekyll nimmt er, als sie beide allein siud, die Gelegenheit wahr, über Hyde zu sprechen. Was ich über Hyde gehört habe, sagt Alderson, ist etwas Schändliches. Das geht mich nichts an, erwiderte der Doktor, ich ändere mein Testament nicht. Ich bin in einer sehr schwierigen Lage. Der Fall ist selten, unge¬ wöhnlich. Es nützt nichts, noch weiter darüber zu sprechen. Der Verkehr zwischen beiden wird immer kühler. Jekyll zieht sich mehr und mehr von der Gesellschaft zurück. Dn geht eines Tages durch London die Kunde von der grüßlichen Ermordung eines hochstehenden Mannes, Sir Carew, die nach der Aussage eines Mädchens von einem kleinen, abschreckend häßlichen Menschen auf offner Straße verübt worden sein soll. Man findet neben dem Toten die Hälfte eines zerbrochenen Stockes und in seiner Tasche einen an den Rechtsanwalt Alderson gerichteten Brief. Dieser wird herbei gerufen und mutmaße sofort nach der Beschreibung des Mörders, daß es kein andrer als Hyde sein könne. Er sieht das Stück des zerbrochenen Stockes und erschrickt, denn denselben Stock hat er selbst einst dem Doktor Jekyll geschenkt. Keine Frage — Hyde hat den Stock von seinem Freunde erhalten oder gestohlen und den Mord damit begangen. Er führt den Polizeibeamten nach der Wohnung Hydes, aber dieser scheint bereits geflohen zu sein. Die andre Hälfte des Stockes wird in Hydes Zimmer gefunden. In allen englischen Zeitungen werden dem Entdecker des Mörders große Belohnungen zugesichert. Alderson ist im höchsten Grade aufgeregt. Er geht zum Doktor Jekyll und findet ihn in sehr niedergedrückter Stimmung. Ich möchte nur eins wissen, sagt der Advokat, Carew war mein Klient und nrein Freund, gerade wie du es bist. Was soll ich nun thun? Du bist doch nicht etwa wahnsinnig genug, den Mörder zu verbergen? Alderson, ruft der Doktor, ich schwöre es dir beim allmächtigen Gott, daß ich ihn nie in meinem Leben wiedersehen will. Ich gebe dir mein Ehren¬ wort, ich habe nichts mehr mit ihm zu thun, es ist alles, alles vorbei zwischen uns. Außerdem bedarf er meiner Hilfe nicht, er ist außer Gefahr, außer aller Gefahr. Glaube mir, Alderson, man wird ihn nie wieder einfangen ^ man wird nie wieder etwas von ihm hören. Nachdem Hyde verschwunden ist, tritt Jekyll wie von einem Alp befreit wieder aus seiner Zurückgezogenheit hervor, verkehrt mit seinen Freunden wie früher und giebt glänzende Gesellschaften. Mit einemmale bricht er wieder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/195>, abgerufen am 23.07.2024.