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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Studien zur englischen Litteratur der Gegenwart

als drei Monate von seinem Hause fern bleiben sollte, der genannte Edward
Hyde von seinem Vermögen Besitz nehmen soll, und zwar "ohne jedwede Ver¬
hinderung, Belästigung oder Verpflichtung" außer der Zahlung einiger kleinen
Beträge an die Dienerschaft des Doktor Jekyll. Der Advokat zerbricht sich
über diese seltsame Formulirung den Kopf. Wer ist der Edward Hyde? Wer
ist dieser Mensch, der das Vertrauen und die Gunst seines alten Freundes so
vollständig besitzt, daß er ihn zum Universalerben einsetzt? Er kennt Jekylls
Verkehr ganz genau und erinnert sich keiner Person, die den Namen Hyde
führt. Ein Zufall fügt es, daß Alderson kurze Zeit darauf diesen Namen
hört. Als er eines Tages mit seinem Freunde Enfield an dem Hinterhause
der Jekyllschen Wohnung vorbeigeht, erzählt ihm dieser von einer Schandthat,
die in derselben Straße ein gewisser Hyde an einem kleinen Mädchen verübt
habe. Hyde habe sich vor der Wut der Leute nur dadurch retten können, daß
er sich bereit erklärte, den Eltern des Kindes hundert Pfund zu zahlen; er sei
alsdann in das Hinterhaus getreten und seltsamerweise nach einiger Zeit mit
einem von Doktor Jekyll unterzeichneten Check wieder herausgekommen. Enfield
fügt über Hydes Äußeres noch hinzu: Es ist etwas ganz Befremdliches in
seiner Erscheinung, etwas Unheimliches, Furchtbares. Er muß verwachsen sein
-- wenigstens macht er den Eindruck --, mau kaun aber nicht sehen, wo. Es
ist ein merkwürdig aussehender Mensch -- und doch kann ich dir nicht sagen,
was mir an ihm auffüllt.

Alderson ist vor Überraschung starr. Dieses Scheusal ist also der Ver¬
traute, der Schützling, der Erbe seines edelmütigen Freundes Jekyll. Welch
ein dunkles Geheimnis steckt dahinter! Es treibt ihn, diesen Menschen, in
dessen Klauen sein armer Freund unzweifelhaft liegt, selbst kennen zu lernen.
Er lauert Hyde in der dunkeln Sackgasse vor dem Hinterhause auf, redet ihn
mit Namen an, nennt seinen eignen Namen und bittet um Einlaß zu seinem
Freunde Doktor Jekyll. Hyde erwidert: Sie würden Doktor Jekyll nicht zu
Hause finden, er ist verreist -- woher kennen Sie mich? Da wir uns
einmal getroffen haben, will ich Ihnen auch gleich meine Adresse sagen
-- er nennt eine obskure Straße --, und nun darf ich noch einmal fragen,
woher Sie mich kennen?

Nach der Beschreibung.

Nach wessen Beschreibung?

Wir haben gemeinschaftliche Freunde, fügte Alderson.

Gemeinschaftliche Freunde? Und wer wären die?

Doktor Jekyll zum Beispiel.

Der? Der hat es Ihnen nicht gesagt, stieß Hyde mit großer Heftigkeit
hervor -- Sie lügen!

Herr, sagte Alderson, das ist eine Sprache, die Ihnen sehr wenig
zukommt.


Studien zur englischen Litteratur der Gegenwart

als drei Monate von seinem Hause fern bleiben sollte, der genannte Edward
Hyde von seinem Vermögen Besitz nehmen soll, und zwar „ohne jedwede Ver¬
hinderung, Belästigung oder Verpflichtung" außer der Zahlung einiger kleinen
Beträge an die Dienerschaft des Doktor Jekyll. Der Advokat zerbricht sich
über diese seltsame Formulirung den Kopf. Wer ist der Edward Hyde? Wer
ist dieser Mensch, der das Vertrauen und die Gunst seines alten Freundes so
vollständig besitzt, daß er ihn zum Universalerben einsetzt? Er kennt Jekylls
Verkehr ganz genau und erinnert sich keiner Person, die den Namen Hyde
führt. Ein Zufall fügt es, daß Alderson kurze Zeit darauf diesen Namen
hört. Als er eines Tages mit seinem Freunde Enfield an dem Hinterhause
der Jekyllschen Wohnung vorbeigeht, erzählt ihm dieser von einer Schandthat,
die in derselben Straße ein gewisser Hyde an einem kleinen Mädchen verübt
habe. Hyde habe sich vor der Wut der Leute nur dadurch retten können, daß
er sich bereit erklärte, den Eltern des Kindes hundert Pfund zu zahlen; er sei
alsdann in das Hinterhaus getreten und seltsamerweise nach einiger Zeit mit
einem von Doktor Jekyll unterzeichneten Check wieder herausgekommen. Enfield
fügt über Hydes Äußeres noch hinzu: Es ist etwas ganz Befremdliches in
seiner Erscheinung, etwas Unheimliches, Furchtbares. Er muß verwachsen sein
— wenigstens macht er den Eindruck —, mau kaun aber nicht sehen, wo. Es
ist ein merkwürdig aussehender Mensch — und doch kann ich dir nicht sagen,
was mir an ihm auffüllt.

Alderson ist vor Überraschung starr. Dieses Scheusal ist also der Ver¬
traute, der Schützling, der Erbe seines edelmütigen Freundes Jekyll. Welch
ein dunkles Geheimnis steckt dahinter! Es treibt ihn, diesen Menschen, in
dessen Klauen sein armer Freund unzweifelhaft liegt, selbst kennen zu lernen.
Er lauert Hyde in der dunkeln Sackgasse vor dem Hinterhause auf, redet ihn
mit Namen an, nennt seinen eignen Namen und bittet um Einlaß zu seinem
Freunde Doktor Jekyll. Hyde erwidert: Sie würden Doktor Jekyll nicht zu
Hause finden, er ist verreist — woher kennen Sie mich? Da wir uns
einmal getroffen haben, will ich Ihnen auch gleich meine Adresse sagen
— er nennt eine obskure Straße —, und nun darf ich noch einmal fragen,
woher Sie mich kennen?

Nach der Beschreibung.

Nach wessen Beschreibung?

Wir haben gemeinschaftliche Freunde, fügte Alderson.

Gemeinschaftliche Freunde? Und wer wären die?

Doktor Jekyll zum Beispiel.

Der? Der hat es Ihnen nicht gesagt, stieß Hyde mit großer Heftigkeit
hervor — Sie lügen!

Herr, sagte Alderson, das ist eine Sprache, die Ihnen sehr wenig
zukommt.


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[0194] Studien zur englischen Litteratur der Gegenwart als drei Monate von seinem Hause fern bleiben sollte, der genannte Edward Hyde von seinem Vermögen Besitz nehmen soll, und zwar „ohne jedwede Ver¬ hinderung, Belästigung oder Verpflichtung" außer der Zahlung einiger kleinen Beträge an die Dienerschaft des Doktor Jekyll. Der Advokat zerbricht sich über diese seltsame Formulirung den Kopf. Wer ist der Edward Hyde? Wer ist dieser Mensch, der das Vertrauen und die Gunst seines alten Freundes so vollständig besitzt, daß er ihn zum Universalerben einsetzt? Er kennt Jekylls Verkehr ganz genau und erinnert sich keiner Person, die den Namen Hyde führt. Ein Zufall fügt es, daß Alderson kurze Zeit darauf diesen Namen hört. Als er eines Tages mit seinem Freunde Enfield an dem Hinterhause der Jekyllschen Wohnung vorbeigeht, erzählt ihm dieser von einer Schandthat, die in derselben Straße ein gewisser Hyde an einem kleinen Mädchen verübt habe. Hyde habe sich vor der Wut der Leute nur dadurch retten können, daß er sich bereit erklärte, den Eltern des Kindes hundert Pfund zu zahlen; er sei alsdann in das Hinterhaus getreten und seltsamerweise nach einiger Zeit mit einem von Doktor Jekyll unterzeichneten Check wieder herausgekommen. Enfield fügt über Hydes Äußeres noch hinzu: Es ist etwas ganz Befremdliches in seiner Erscheinung, etwas Unheimliches, Furchtbares. Er muß verwachsen sein — wenigstens macht er den Eindruck —, mau kaun aber nicht sehen, wo. Es ist ein merkwürdig aussehender Mensch — und doch kann ich dir nicht sagen, was mir an ihm auffüllt. Alderson ist vor Überraschung starr. Dieses Scheusal ist also der Ver¬ traute, der Schützling, der Erbe seines edelmütigen Freundes Jekyll. Welch ein dunkles Geheimnis steckt dahinter! Es treibt ihn, diesen Menschen, in dessen Klauen sein armer Freund unzweifelhaft liegt, selbst kennen zu lernen. Er lauert Hyde in der dunkeln Sackgasse vor dem Hinterhause auf, redet ihn mit Namen an, nennt seinen eignen Namen und bittet um Einlaß zu seinem Freunde Doktor Jekyll. Hyde erwidert: Sie würden Doktor Jekyll nicht zu Hause finden, er ist verreist — woher kennen Sie mich? Da wir uns einmal getroffen haben, will ich Ihnen auch gleich meine Adresse sagen — er nennt eine obskure Straße —, und nun darf ich noch einmal fragen, woher Sie mich kennen? Nach der Beschreibung. Nach wessen Beschreibung? Wir haben gemeinschaftliche Freunde, fügte Alderson. Gemeinschaftliche Freunde? Und wer wären die? Doktor Jekyll zum Beispiel. Der? Der hat es Ihnen nicht gesagt, stieß Hyde mit großer Heftigkeit hervor — Sie lügen! Herr, sagte Alderson, das ist eine Sprache, die Ihnen sehr wenig zukommt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/194>, abgerufen am 23.07.2024.