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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Das Nationalgefühl

ja auch dem, der mit geschlossenen Augen theoretisirt, so nahe, den indivi¬
duellen Menschen nur als interessanten Bruchteil der ganzen gleichförmigen
Menschheit, als einzelnen Genossen und Bürger des Weltkreises zu betrachten.
So gehen denn neben der weitgehendsten Vereinzelung und Jndividnnlisirnng
in Eintracht her die größte Verallgemeinerung und der allumfassendste Kosmo¬
politismus, ueben dem rücksichtslosen Kultus der Persönlichkeit, dein feinern
Egoismus und der freiesten Selbstherrluhteit die sentimentale und selbst¬
lose Weltbürgern. Selbst den Geschichtsschreibern jener Tage ist die Welt¬
geschichte nur eine große Schaubühne, besetzt mit den Einzelfiguren der
Darstellung einer Handlung; "wenn man die verschiednen Stämme des
Menschengeschlechts, °den ganzen Schauplatz der Welt, mit einem Blick über¬
sieht" -- so beginnt das so hoch anstönende Nachwort, mit dem Johannes
von Müller die "Vierundzwanzig Bücher allgemeiner Geschichten, besonders
der Europäischen Menschheit" beschließt. Und brauche ich uoch nu die "Er¬
ziehung des Menschengeschlechts" eines Lessing, an die Geschichtsphilosophie
eines Herder zu erinnern? In den damaligen Gedanken war, bis Rousseaus
vortrat sovml und dann Kants "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in
weltbürgerlicher Absicht" (der Titel darf hier nicht irreleite-,) zum Gemeingut
geworden waren, für eine Gruppe von Individuen, kürzer gesagt für den
Staat überhaupt kein Platz vorhanden.

Das alles war zwar nicht bei dem Volke der Deutschen oder richtiger
der deutsch denkenden und redenden ganz allein so; aber keines schien und
war geeigneter, in jener eigentümlichen Gedankenwelt Führer zu sein, als gerade
das unsrige, dein überdies schon die armselige,, politischen Zustände es so
leicht gemacht hatten, des Staates zu vergesse,,. Schon durch ihre geogra¬
phischen Verhältnisse war den Deutschen von jeher die Rolle zugefallen, das
Fremde allseitig von außen in sich aufzunehmen und zu vereinigen, es zu ver¬
arbeite,, und den selbständig durchgeistigten Stoff wieder zu etwas Eigenartigein
"ut Neuem zu gestalten. Nachdem diese abklärende Fähigkeit Jahrhunderte
hindurch von der allseitig befähigten Nation geübt worden war, mußte sie
allmählich in der That als die eigentliche, dem Deutschen von der Natur
selbst gegebene und bestimmte aufgefaßt werden, der Deutsche erschien andern
und sich selbst als der geborne Kosmopolit. Großartig und überaus ruhm¬
voll ist und bleibt es für alle Zeiten, was Deutschland in dieser Rolle
geleistet hat, indem es in der zweiten Hülste des vorigen Jahrhunderts teils
"us sich selbst heraus, teils durch deu Ausbau des Fremden jene erhabne
geistige Periode erreichte, die als die klassische Zeit deutscher Geisteskultur
bezeichnet wird, die jedoch eigentlich, obgleich sie von Deutschen zur glänzende,,
Höhe getragen und abgeschlossen wurde, keine bloß deutsche, sondern eine
Weltknltnrperivde ist, zu der alle gegeben, von der sodnnn alle empfangen
haben. Niemand aber dachte daran, ob die Nation nicht vielleicht Näheres,


Das Nationalgefühl

ja auch dem, der mit geschlossenen Augen theoretisirt, so nahe, den indivi¬
duellen Menschen nur als interessanten Bruchteil der ganzen gleichförmigen
Menschheit, als einzelnen Genossen und Bürger des Weltkreises zu betrachten.
So gehen denn neben der weitgehendsten Vereinzelung und Jndividnnlisirnng
in Eintracht her die größte Verallgemeinerung und der allumfassendste Kosmo¬
politismus, ueben dem rücksichtslosen Kultus der Persönlichkeit, dein feinern
Egoismus und der freiesten Selbstherrluhteit die sentimentale und selbst¬
lose Weltbürgern. Selbst den Geschichtsschreibern jener Tage ist die Welt¬
geschichte nur eine große Schaubühne, besetzt mit den Einzelfiguren der
Darstellung einer Handlung; „wenn man die verschiednen Stämme des
Menschengeschlechts, °den ganzen Schauplatz der Welt, mit einem Blick über¬
sieht" — so beginnt das so hoch anstönende Nachwort, mit dem Johannes
von Müller die „Vierundzwanzig Bücher allgemeiner Geschichten, besonders
der Europäischen Menschheit" beschließt. Und brauche ich uoch nu die „Er¬
ziehung des Menschengeschlechts" eines Lessing, an die Geschichtsphilosophie
eines Herder zu erinnern? In den damaligen Gedanken war, bis Rousseaus
vortrat sovml und dann Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in
weltbürgerlicher Absicht" (der Titel darf hier nicht irreleite-,) zum Gemeingut
geworden waren, für eine Gruppe von Individuen, kürzer gesagt für den
Staat überhaupt kein Platz vorhanden.

Das alles war zwar nicht bei dem Volke der Deutschen oder richtiger
der deutsch denkenden und redenden ganz allein so; aber keines schien und
war geeigneter, in jener eigentümlichen Gedankenwelt Führer zu sein, als gerade
das unsrige, dein überdies schon die armselige,, politischen Zustände es so
leicht gemacht hatten, des Staates zu vergesse,,. Schon durch ihre geogra¬
phischen Verhältnisse war den Deutschen von jeher die Rolle zugefallen, das
Fremde allseitig von außen in sich aufzunehmen und zu vereinigen, es zu ver¬
arbeite,, und den selbständig durchgeistigten Stoff wieder zu etwas Eigenartigein
"ut Neuem zu gestalten. Nachdem diese abklärende Fähigkeit Jahrhunderte
hindurch von der allseitig befähigten Nation geübt worden war, mußte sie
allmählich in der That als die eigentliche, dem Deutschen von der Natur
selbst gegebene und bestimmte aufgefaßt werden, der Deutsche erschien andern
und sich selbst als der geborne Kosmopolit. Großartig und überaus ruhm¬
voll ist und bleibt es für alle Zeiten, was Deutschland in dieser Rolle
geleistet hat, indem es in der zweiten Hülste des vorigen Jahrhunderts teils
"us sich selbst heraus, teils durch deu Ausbau des Fremden jene erhabne
geistige Periode erreichte, die als die klassische Zeit deutscher Geisteskultur
bezeichnet wird, die jedoch eigentlich, obgleich sie von Deutschen zur glänzende,,
Höhe getragen und abgeschlossen wurde, keine bloß deutsche, sondern eine
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[0019] Das Nationalgefühl ja auch dem, der mit geschlossenen Augen theoretisirt, so nahe, den indivi¬ duellen Menschen nur als interessanten Bruchteil der ganzen gleichförmigen Menschheit, als einzelnen Genossen und Bürger des Weltkreises zu betrachten. So gehen denn neben der weitgehendsten Vereinzelung und Jndividnnlisirnng in Eintracht her die größte Verallgemeinerung und der allumfassendste Kosmo¬ politismus, ueben dem rücksichtslosen Kultus der Persönlichkeit, dein feinern Egoismus und der freiesten Selbstherrluhteit die sentimentale und selbst¬ lose Weltbürgern. Selbst den Geschichtsschreibern jener Tage ist die Welt¬ geschichte nur eine große Schaubühne, besetzt mit den Einzelfiguren der Darstellung einer Handlung; „wenn man die verschiednen Stämme des Menschengeschlechts, °den ganzen Schauplatz der Welt, mit einem Blick über¬ sieht" — so beginnt das so hoch anstönende Nachwort, mit dem Johannes von Müller die „Vierundzwanzig Bücher allgemeiner Geschichten, besonders der Europäischen Menschheit" beschließt. Und brauche ich uoch nu die „Er¬ ziehung des Menschengeschlechts" eines Lessing, an die Geschichtsphilosophie eines Herder zu erinnern? In den damaligen Gedanken war, bis Rousseaus vortrat sovml und dann Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" (der Titel darf hier nicht irreleite-,) zum Gemeingut geworden waren, für eine Gruppe von Individuen, kürzer gesagt für den Staat überhaupt kein Platz vorhanden. Das alles war zwar nicht bei dem Volke der Deutschen oder richtiger der deutsch denkenden und redenden ganz allein so; aber keines schien und war geeigneter, in jener eigentümlichen Gedankenwelt Führer zu sein, als gerade das unsrige, dein überdies schon die armselige,, politischen Zustände es so leicht gemacht hatten, des Staates zu vergesse,,. Schon durch ihre geogra¬ phischen Verhältnisse war den Deutschen von jeher die Rolle zugefallen, das Fremde allseitig von außen in sich aufzunehmen und zu vereinigen, es zu ver¬ arbeite,, und den selbständig durchgeistigten Stoff wieder zu etwas Eigenartigein "ut Neuem zu gestalten. Nachdem diese abklärende Fähigkeit Jahrhunderte hindurch von der allseitig befähigten Nation geübt worden war, mußte sie allmählich in der That als die eigentliche, dem Deutschen von der Natur selbst gegebene und bestimmte aufgefaßt werden, der Deutsche erschien andern und sich selbst als der geborne Kosmopolit. Großartig und überaus ruhm¬ voll ist und bleibt es für alle Zeiten, was Deutschland in dieser Rolle geleistet hat, indem es in der zweiten Hülste des vorigen Jahrhunderts teils "us sich selbst heraus, teils durch deu Ausbau des Fremden jene erhabne geistige Periode erreichte, die als die klassische Zeit deutscher Geisteskultur bezeichnet wird, die jedoch eigentlich, obgleich sie von Deutschen zur glänzende,, Höhe getragen und abgeschlossen wurde, keine bloß deutsche, sondern eine Weltknltnrperivde ist, zu der alle gegeben, von der sodnnn alle empfangen haben. Niemand aber dachte daran, ob die Nation nicht vielleicht Näheres,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/19>, abgerufen am 23.07.2024.