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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Das Neueste der Strafrechtsivissenschaft

Erwägung feststelle, ob der Angeklagte eine Freiheitsstrafe von vier oder von
acht Wochen verdiene, nennt er eine "große Grnndlüge." Dagegen findet er
nichts dabei, das; der Richter dnrch freie Erwägung feststelle, ob ein über-
wiesener Übelthäter, der vielleicht eine Strafe von zwei Jahren verdient hal,
diese wirklich erleiden oder ob sie ihm vorläufig geschenkt sein soll. Der
Frevler hat vielleicht innerhalb von drei Jahren nicht die geringste Veran¬
lassung, von neuem zu freveln, und dann ist ihm die Strafe ganz geschenkt.
In dieser Weise das richterliche Ermesse" frei walten zu lassen, ist nach Lißzt
keine "Grundlüge," sondern hohe Staatsweisheit.

Thatsächlich würde jene richterliche Befugnis dahin führen, daß ein An¬
geklagter, der sich einigen Ansehens in der Gesellschaft erfrent, nur bedingt,
der unbekannte geringe Mann unbedingt verurteilt werden würde. Denn die
Ehre des erster" müßte geschont werden, die des letztern nicht. Eine Beför¬
derung würde diese Richtung der Praxis auch noch durch die von Lißzt vor¬
geschlagene Friedensbürgschaft finde". Wer diese stellen kann, d. h. der Wohl¬
habende, würde sich zur bedingten Verurteilung eignen. Wer sie nicht stellen
kann, d. h. der Arme, müßte ins Loch. Bisher hat es als der unbestrittene
Ruhm deutscher Gerichte gegolten, daß sie "ohne Ansehen der Person" richteten.
Fortan aber sollen sie sich gerade die Person ansehen und darnach strafen oder
freilassen.

Seitdem wir in Deutschland über die Zeit der Hexenprozesse lind der
Folter hinaus sind, sind sicherlich auf dem Gebiete des Strafrechts nicht so
abenteuerliche Theorien aufgestellt worden, wie die hier von dein Begründer
der "Internationalen kriminalistischen Vereinigung" vertretenen. Die wichtigste"
Errungenschaften des Rechtes, an denen bisher der Glaube gehangen hat, daß,
soweit es überhaupt uns schwachen Menschen möglich ist, im Staate Gerechtig¬
keit geübt werde, werde" leichten Herzens über Bord geworfen, um völlig
Phantastische" Gebilden Platz zu machen. Im Augenblick sind ja alle diese
Aufstellungen wohl ohne Gefahr. So lange noch das ältere Geschlecht auf
die öffentlichen Dinge in Deutschland einigen Einfluß übt, braucht man nicht
besorgt zu sein, daß die Lißztschen Gedanken über Nacht Gesetz würden. Wir
würden eher des Himmels Einsturz erwarten, als glauben, daß Fürst Bismarck
an der "bedingten Verurteilung" ein Wohlgefallen finden und Neigung haben
sollte, unsern "gutmütigen Richtern" noch eine Art Begnadigungsrecht ein¬
zuräumen; von der Thätigkeit des Strafvvllzugsamtes ganz zu schweigen.
Aber daß solche Ansichten überhaupt aufgestellt und mit nicht geringem Bewußt¬
sei" vertrete" werde" können und daß sie sogar bei eüiem Teile des Publikums
einen gewissen Anklang zu finde" scheine", das ist doch ein sehr bedenkliches
Zeichen der Zeit. Vor dreißig Jahren wäre so etwas noch nicht möglich gewesen.




Grettzbvte" 1 1890>>>>
Das Neueste der Strafrechtsivissenschaft

Erwägung feststelle, ob der Angeklagte eine Freiheitsstrafe von vier oder von
acht Wochen verdiene, nennt er eine „große Grnndlüge." Dagegen findet er
nichts dabei, das; der Richter dnrch freie Erwägung feststelle, ob ein über-
wiesener Übelthäter, der vielleicht eine Strafe von zwei Jahren verdient hal,
diese wirklich erleiden oder ob sie ihm vorläufig geschenkt sein soll. Der
Frevler hat vielleicht innerhalb von drei Jahren nicht die geringste Veran¬
lassung, von neuem zu freveln, und dann ist ihm die Strafe ganz geschenkt.
In dieser Weise das richterliche Ermesse» frei walten zu lassen, ist nach Lißzt
keine „Grundlüge," sondern hohe Staatsweisheit.

Thatsächlich würde jene richterliche Befugnis dahin führen, daß ein An¬
geklagter, der sich einigen Ansehens in der Gesellschaft erfrent, nur bedingt,
der unbekannte geringe Mann unbedingt verurteilt werden würde. Denn die
Ehre des erster» müßte geschont werden, die des letztern nicht. Eine Beför¬
derung würde diese Richtung der Praxis auch noch durch die von Lißzt vor¬
geschlagene Friedensbürgschaft finde». Wer diese stellen kann, d. h. der Wohl¬
habende, würde sich zur bedingten Verurteilung eignen. Wer sie nicht stellen
kann, d. h. der Arme, müßte ins Loch. Bisher hat es als der unbestrittene
Ruhm deutscher Gerichte gegolten, daß sie „ohne Ansehen der Person" richteten.
Fortan aber sollen sie sich gerade die Person ansehen und darnach strafen oder
freilassen.

Seitdem wir in Deutschland über die Zeit der Hexenprozesse lind der
Folter hinaus sind, sind sicherlich auf dem Gebiete des Strafrechts nicht so
abenteuerliche Theorien aufgestellt worden, wie die hier von dein Begründer
der „Internationalen kriminalistischen Vereinigung" vertretenen. Die wichtigste»
Errungenschaften des Rechtes, an denen bisher der Glaube gehangen hat, daß,
soweit es überhaupt uns schwachen Menschen möglich ist, im Staate Gerechtig¬
keit geübt werde, werde» leichten Herzens über Bord geworfen, um völlig
Phantastische» Gebilden Platz zu machen. Im Augenblick sind ja alle diese
Aufstellungen wohl ohne Gefahr. So lange noch das ältere Geschlecht auf
die öffentlichen Dinge in Deutschland einigen Einfluß übt, braucht man nicht
besorgt zu sein, daß die Lißztschen Gedanken über Nacht Gesetz würden. Wir
würden eher des Himmels Einsturz erwarten, als glauben, daß Fürst Bismarck
an der „bedingten Verurteilung" ein Wohlgefallen finden und Neigung haben
sollte, unsern „gutmütigen Richtern" noch eine Art Begnadigungsrecht ein¬
zuräumen; von der Thätigkeit des Strafvvllzugsamtes ganz zu schweigen.
Aber daß solche Ansichten überhaupt aufgestellt und mit nicht geringem Bewußt¬
sei» vertrete» werde» können und daß sie sogar bei eüiem Teile des Publikums
einen gewissen Anklang zu finde» scheine», das ist doch ein sehr bedenkliches
Zeichen der Zeit. Vor dreißig Jahren wäre so etwas noch nicht möglich gewesen.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/177>, abgerufen am 23.07.2024.