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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Das Neueste der Sirafrechlswissonschnft

Hütten) frei durchgehen ließe, dann aber wieder geringe Vergehen mit ganz
barbarischen Strafen belegte, so würde man im Volke glauben, die Justiz sei
toll geworden.

Die bedingte Verurteilung soll nämlich nicht bloß dazu dienen, daß bei
geringfügigen Vergehe" der Richter um die Notwendigkeit, gleich mit einer
Strafe von sechs Wochen vorzuschreiten, herumkomme, sondern sie soll auch
bei schwereren Vergehen, für die im erste" Falle eine Strafe von sechs Wochen
bis zu zwei Jahre" verdient wäre, dem Richter die Wahl lassen, ob er den
Übelthäter wirklich bestrafen oder "ur mit el"er Ermahnung, es nicht wieder
zu thun, entlasse" null. Nach welchen Grundsätzen der Richter diese Unter¬
scheidung treffen soll, sagt Lißzt uicht ausdrücklich. Man darf aber Wohl an¬
nehmen, daß er sich dem mehrfach gehörten Gedanken anschließt, die bedingte
Verurteilung solle dazu dienen, das Ehrgefühl des Gelegenheitsverbrechers zu
schonen und ihn als scheinbar unschuldig der menschlichen Gesellschaft z" er¬
halten.

Dieser ganze Gedanke beruht zunächst auf einer unsittlichen Grundlage,
nämlich auf dem Streben, den Schein an die Stelle der Wirklichkeit zu setzen.
Man stellt die Lehre ans, daß es nicht die That sei, was den Menschen ent¬
ehre, sondern nur die dafür erlittene Strafe. Wenn man also dem Verbrecher
die Strafe erlasse, so bleibe er ehrlich. Wer aber gestohlen hat, ist ein Dieb,
mag er dafür bestraft worden sein oder nicht. Und wenn von Gesetzes wegen
ihm gesagt wird: "Wir lassen dich ungestraft, damit du thun kannst, als ob
du uoch unbescholten wärest," so verführt man ihn damit zur Lüge und
Heuchelei.

Praktisch unhaltbar wird der Gedanke dadurch, daß es dem Richter gänz¬
lich an Mitteln fehlt, die Unterscheidung zu machen zwischen "Gelegenheits¬
verbrechern" und solchen, deren That auf verwerflicher Gesinnung beruht. In
der kürzen Stunde, wo der Angeklagte vor dem Richter steht, kann dieser ihm
nicht ins Herz sehen. Die Entscheidung würde also nur durch Willkür oder
Voreingenommenheit bestimmt werden. Und ist denn der "Gelegeuheitsver-
brecher" wirklich immer ein so unschuldiger Manu? Wer die erste beste Ge¬
legenheit benutzt, um seiner Leidenschaftlichkeit oder seinen schlechten Neigungen
freien Lauf zu lassen, muß durch Strafe auf den rechten Weg zurückgewiesen
werden. Wenn er aber darauf rechnen darf, nicht gestraft zu werden, so
werden sich die "Gelegenheitsverbrecher" gewaltig vermehren. Allerdings
würde wohl die Verteidigung durch die hineingetragene Frage Stoff zu glän¬
zenden Reden finden. Der Gerechtigkeit würde aber auch damit nur wenig
gedient sein.

Auch bei dieser Frage scheint sich Lißzt gar nicht bewußt zu sein, wie
sehr er in Widerspruch mit sich selbst gerät. Das richterliche Ermessen bei
der Strafzumessung scheint ihm unerträglich. Daß der Richter durch freie


Das Neueste der Sirafrechlswissonschnft

Hütten) frei durchgehen ließe, dann aber wieder geringe Vergehen mit ganz
barbarischen Strafen belegte, so würde man im Volke glauben, die Justiz sei
toll geworden.

Die bedingte Verurteilung soll nämlich nicht bloß dazu dienen, daß bei
geringfügigen Vergehe» der Richter um die Notwendigkeit, gleich mit einer
Strafe von sechs Wochen vorzuschreiten, herumkomme, sondern sie soll auch
bei schwereren Vergehen, für die im erste» Falle eine Strafe von sechs Wochen
bis zu zwei Jahre» verdient wäre, dem Richter die Wahl lassen, ob er den
Übelthäter wirklich bestrafen oder »ur mit el»er Ermahnung, es nicht wieder
zu thun, entlasse» null. Nach welchen Grundsätzen der Richter diese Unter¬
scheidung treffen soll, sagt Lißzt uicht ausdrücklich. Man darf aber Wohl an¬
nehmen, daß er sich dem mehrfach gehörten Gedanken anschließt, die bedingte
Verurteilung solle dazu dienen, das Ehrgefühl des Gelegenheitsverbrechers zu
schonen und ihn als scheinbar unschuldig der menschlichen Gesellschaft z» er¬
halten.

Dieser ganze Gedanke beruht zunächst auf einer unsittlichen Grundlage,
nämlich auf dem Streben, den Schein an die Stelle der Wirklichkeit zu setzen.
Man stellt die Lehre ans, daß es nicht die That sei, was den Menschen ent¬
ehre, sondern nur die dafür erlittene Strafe. Wenn man also dem Verbrecher
die Strafe erlasse, so bleibe er ehrlich. Wer aber gestohlen hat, ist ein Dieb,
mag er dafür bestraft worden sein oder nicht. Und wenn von Gesetzes wegen
ihm gesagt wird: „Wir lassen dich ungestraft, damit du thun kannst, als ob
du uoch unbescholten wärest," so verführt man ihn damit zur Lüge und
Heuchelei.

Praktisch unhaltbar wird der Gedanke dadurch, daß es dem Richter gänz¬
lich an Mitteln fehlt, die Unterscheidung zu machen zwischen „Gelegenheits¬
verbrechern" und solchen, deren That auf verwerflicher Gesinnung beruht. In
der kürzen Stunde, wo der Angeklagte vor dem Richter steht, kann dieser ihm
nicht ins Herz sehen. Die Entscheidung würde also nur durch Willkür oder
Voreingenommenheit bestimmt werden. Und ist denn der „Gelegeuheitsver-
brecher" wirklich immer ein so unschuldiger Manu? Wer die erste beste Ge¬
legenheit benutzt, um seiner Leidenschaftlichkeit oder seinen schlechten Neigungen
freien Lauf zu lassen, muß durch Strafe auf den rechten Weg zurückgewiesen
werden. Wenn er aber darauf rechnen darf, nicht gestraft zu werden, so
werden sich die „Gelegenheitsverbrecher" gewaltig vermehren. Allerdings
würde wohl die Verteidigung durch die hineingetragene Frage Stoff zu glän¬
zenden Reden finden. Der Gerechtigkeit würde aber auch damit nur wenig
gedient sein.

Auch bei dieser Frage scheint sich Lißzt gar nicht bewußt zu sein, wie
sehr er in Widerspruch mit sich selbst gerät. Das richterliche Ermessen bei
der Strafzumessung scheint ihm unerträglich. Daß der Richter durch freie


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[0176] Das Neueste der Sirafrechlswissonschnft Hütten) frei durchgehen ließe, dann aber wieder geringe Vergehen mit ganz barbarischen Strafen belegte, so würde man im Volke glauben, die Justiz sei toll geworden. Die bedingte Verurteilung soll nämlich nicht bloß dazu dienen, daß bei geringfügigen Vergehe» der Richter um die Notwendigkeit, gleich mit einer Strafe von sechs Wochen vorzuschreiten, herumkomme, sondern sie soll auch bei schwereren Vergehen, für die im erste» Falle eine Strafe von sechs Wochen bis zu zwei Jahre» verdient wäre, dem Richter die Wahl lassen, ob er den Übelthäter wirklich bestrafen oder »ur mit el»er Ermahnung, es nicht wieder zu thun, entlasse» null. Nach welchen Grundsätzen der Richter diese Unter¬ scheidung treffen soll, sagt Lißzt uicht ausdrücklich. Man darf aber Wohl an¬ nehmen, daß er sich dem mehrfach gehörten Gedanken anschließt, die bedingte Verurteilung solle dazu dienen, das Ehrgefühl des Gelegenheitsverbrechers zu schonen und ihn als scheinbar unschuldig der menschlichen Gesellschaft z» er¬ halten. Dieser ganze Gedanke beruht zunächst auf einer unsittlichen Grundlage, nämlich auf dem Streben, den Schein an die Stelle der Wirklichkeit zu setzen. Man stellt die Lehre ans, daß es nicht die That sei, was den Menschen ent¬ ehre, sondern nur die dafür erlittene Strafe. Wenn man also dem Verbrecher die Strafe erlasse, so bleibe er ehrlich. Wer aber gestohlen hat, ist ein Dieb, mag er dafür bestraft worden sein oder nicht. Und wenn von Gesetzes wegen ihm gesagt wird: „Wir lassen dich ungestraft, damit du thun kannst, als ob du uoch unbescholten wärest," so verführt man ihn damit zur Lüge und Heuchelei. Praktisch unhaltbar wird der Gedanke dadurch, daß es dem Richter gänz¬ lich an Mitteln fehlt, die Unterscheidung zu machen zwischen „Gelegenheits¬ verbrechern" und solchen, deren That auf verwerflicher Gesinnung beruht. In der kürzen Stunde, wo der Angeklagte vor dem Richter steht, kann dieser ihm nicht ins Herz sehen. Die Entscheidung würde also nur durch Willkür oder Voreingenommenheit bestimmt werden. Und ist denn der „Gelegeuheitsver- brecher" wirklich immer ein so unschuldiger Manu? Wer die erste beste Ge¬ legenheit benutzt, um seiner Leidenschaftlichkeit oder seinen schlechten Neigungen freien Lauf zu lassen, muß durch Strafe auf den rechten Weg zurückgewiesen werden. Wenn er aber darauf rechnen darf, nicht gestraft zu werden, so werden sich die „Gelegenheitsverbrecher" gewaltig vermehren. Allerdings würde wohl die Verteidigung durch die hineingetragene Frage Stoff zu glän¬ zenden Reden finden. Der Gerechtigkeit würde aber auch damit nur wenig gedient sein. Auch bei dieser Frage scheint sich Lißzt gar nicht bewußt zu sein, wie sehr er in Widerspruch mit sich selbst gerät. Das richterliche Ermessen bei der Strafzumessung scheint ihm unerträglich. Daß der Richter durch freie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/176>, abgerufen am 23.07.2024.