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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Bas Neueste der Sirafrechtswissenschaft

Die kurzen Freiheitsstrafen sollen nun für den Richter dadurch entbehrlich
werden, daß er im ersten Straffälle gar nicht straft. Auf diese Weise ver¬
wirklicht sich der Nusspruch: "Eine kurze Freiheitsstrafe schädigt die Rechts¬
ordnung schwerer, als völlige Straflosigkeit." Wohlan, sagt Lißzt, lassen wir
den Mann, der nur eine kurze Strafe verdient hat, völlig straflos.

Die gesamten heutzutage unter sechs Wochen erkannten Freiheitsstrafen
betragen ungefähr siebzig Prozent aller Strafen. Rechnen wir davon etwa
zwanzig Prozent auf zweite Straffälle ub, so wiirdeu noch immer fünfzig
Prozent auf erste Straffälle übrig bleiben. Ungefähr die Hälfte aller Ver¬
gehen, die bisher bestraft worden sind, würden künftig also unbestraft bleiben.
Welche Zerrüttung damit in unsre ganze öffentliche Ordnung hineingetragen
werden würde, ist gar nicht zu sagen.

In seltsamen Widerspruch gerät dabei Lißzt mit sich selbst. Er sagt an
andrer Stelle: "Das Strafurteil gewinnt erst durch seinen Vollzug Inhalt
und Bedeutung." Und doch will er, daß etwa die Hälfte aller Strafurteile
ttnvollzogen bleibe. Er verwahrt sich dagegen, daß er nicht für eine größere
Milde in der Strafjustiz eintrete. Und doch will er in der Hälfte der Fülle
den Verurteilten die Strafe geschenkt haben. Sind das nicht gransame Wider¬
sprüche?

Freilich sagt Lißzt nicht ausdrücklich, ob er in allen Fällen, wo bisher
kurze Strafen erkannt wurden, diese in der Form der bedingten Verurteilung
dem Übelthüter geschenkt wissen will, oder ob unter Umständen anch, wenn
dem Richter die Person nicht gefällt, sofort statt der kurzen eine lange Strafe
ausgesprochen werden soll; sodaß also in diesem Falle ein Vergehen, das bis¬
her vielleicht mit drei Tagen Gefängnis für gesühnt erachtet wurde, sofort
wie sechs Wochen bis zwei Jahren Gefängnis belegt werden würde. In
solchen Fällen würde dann allerdings nicht mehr von einer besondern Milde,
die Lißzt verträte, sondern nur von einer unerhörten Härte zu reden sein.
Dieselbe Erscheinung würde sich auch je uach Umständen infolge eines hinzu¬
tretender zweiten Straffalles ergeben. Denken wir, daß jemand wegen
eines geringen Diebstahls, der ihm bisher acht Tage Gefängnis eingetragen
hätte, nnr bedingt verurteilt wäre. Diese bedingte Verurteilung müßte aber
doch auf sechs Wochen bis zwei Jahre lauten. Nun würde er im Laufe von
drei Jahren in eine Schlügerei verwickelt, und er hätte abermals (uach bis¬
herigem Rechte) acht Tage Gefängnis verwirkt. Dann würde er wiederum zu
sechs Wochen bis zwei Jahren verurteilt. Nun wäre aber auch die erste
Strafe reif geworden, und er müßte für zwei Vergehen, für die man bisher
je eine achttägige Gefängnisstrafe für genügend hielt, zwölf Wochen bis vier
Jahre sitzen.

Wenn jemals wirklich die Rechtsprechung in dieser Weise arbeitete, daß
so das eine mal arge Frevel (die eine Strafe bis zu zwei Jahren verdient


Bas Neueste der Sirafrechtswissenschaft

Die kurzen Freiheitsstrafen sollen nun für den Richter dadurch entbehrlich
werden, daß er im ersten Straffälle gar nicht straft. Auf diese Weise ver¬
wirklicht sich der Nusspruch: „Eine kurze Freiheitsstrafe schädigt die Rechts¬
ordnung schwerer, als völlige Straflosigkeit." Wohlan, sagt Lißzt, lassen wir
den Mann, der nur eine kurze Strafe verdient hat, völlig straflos.

Die gesamten heutzutage unter sechs Wochen erkannten Freiheitsstrafen
betragen ungefähr siebzig Prozent aller Strafen. Rechnen wir davon etwa
zwanzig Prozent auf zweite Straffälle ub, so wiirdeu noch immer fünfzig
Prozent auf erste Straffälle übrig bleiben. Ungefähr die Hälfte aller Ver¬
gehen, die bisher bestraft worden sind, würden künftig also unbestraft bleiben.
Welche Zerrüttung damit in unsre ganze öffentliche Ordnung hineingetragen
werden würde, ist gar nicht zu sagen.

In seltsamen Widerspruch gerät dabei Lißzt mit sich selbst. Er sagt an
andrer Stelle: „Das Strafurteil gewinnt erst durch seinen Vollzug Inhalt
und Bedeutung." Und doch will er, daß etwa die Hälfte aller Strafurteile
ttnvollzogen bleibe. Er verwahrt sich dagegen, daß er nicht für eine größere
Milde in der Strafjustiz eintrete. Und doch will er in der Hälfte der Fülle
den Verurteilten die Strafe geschenkt haben. Sind das nicht gransame Wider¬
sprüche?

Freilich sagt Lißzt nicht ausdrücklich, ob er in allen Fällen, wo bisher
kurze Strafen erkannt wurden, diese in der Form der bedingten Verurteilung
dem Übelthüter geschenkt wissen will, oder ob unter Umständen anch, wenn
dem Richter die Person nicht gefällt, sofort statt der kurzen eine lange Strafe
ausgesprochen werden soll; sodaß also in diesem Falle ein Vergehen, das bis¬
her vielleicht mit drei Tagen Gefängnis für gesühnt erachtet wurde, sofort
wie sechs Wochen bis zwei Jahren Gefängnis belegt werden würde. In
solchen Fällen würde dann allerdings nicht mehr von einer besondern Milde,
die Lißzt verträte, sondern nur von einer unerhörten Härte zu reden sein.
Dieselbe Erscheinung würde sich auch je uach Umständen infolge eines hinzu¬
tretender zweiten Straffalles ergeben. Denken wir, daß jemand wegen
eines geringen Diebstahls, der ihm bisher acht Tage Gefängnis eingetragen
hätte, nnr bedingt verurteilt wäre. Diese bedingte Verurteilung müßte aber
doch auf sechs Wochen bis zwei Jahre lauten. Nun würde er im Laufe von
drei Jahren in eine Schlügerei verwickelt, und er hätte abermals (uach bis¬
herigem Rechte) acht Tage Gefängnis verwirkt. Dann würde er wiederum zu
sechs Wochen bis zwei Jahren verurteilt. Nun wäre aber auch die erste
Strafe reif geworden, und er müßte für zwei Vergehen, für die man bisher
je eine achttägige Gefängnisstrafe für genügend hielt, zwölf Wochen bis vier
Jahre sitzen.

Wenn jemals wirklich die Rechtsprechung in dieser Weise arbeitete, daß
so das eine mal arge Frevel (die eine Strafe bis zu zwei Jahren verdient


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[0175] Bas Neueste der Sirafrechtswissenschaft Die kurzen Freiheitsstrafen sollen nun für den Richter dadurch entbehrlich werden, daß er im ersten Straffälle gar nicht straft. Auf diese Weise ver¬ wirklicht sich der Nusspruch: „Eine kurze Freiheitsstrafe schädigt die Rechts¬ ordnung schwerer, als völlige Straflosigkeit." Wohlan, sagt Lißzt, lassen wir den Mann, der nur eine kurze Strafe verdient hat, völlig straflos. Die gesamten heutzutage unter sechs Wochen erkannten Freiheitsstrafen betragen ungefähr siebzig Prozent aller Strafen. Rechnen wir davon etwa zwanzig Prozent auf zweite Straffälle ub, so wiirdeu noch immer fünfzig Prozent auf erste Straffälle übrig bleiben. Ungefähr die Hälfte aller Ver¬ gehen, die bisher bestraft worden sind, würden künftig also unbestraft bleiben. Welche Zerrüttung damit in unsre ganze öffentliche Ordnung hineingetragen werden würde, ist gar nicht zu sagen. In seltsamen Widerspruch gerät dabei Lißzt mit sich selbst. Er sagt an andrer Stelle: „Das Strafurteil gewinnt erst durch seinen Vollzug Inhalt und Bedeutung." Und doch will er, daß etwa die Hälfte aller Strafurteile ttnvollzogen bleibe. Er verwahrt sich dagegen, daß er nicht für eine größere Milde in der Strafjustiz eintrete. Und doch will er in der Hälfte der Fülle den Verurteilten die Strafe geschenkt haben. Sind das nicht gransame Wider¬ sprüche? Freilich sagt Lißzt nicht ausdrücklich, ob er in allen Fällen, wo bisher kurze Strafen erkannt wurden, diese in der Form der bedingten Verurteilung dem Übelthüter geschenkt wissen will, oder ob unter Umständen anch, wenn dem Richter die Person nicht gefällt, sofort statt der kurzen eine lange Strafe ausgesprochen werden soll; sodaß also in diesem Falle ein Vergehen, das bis¬ her vielleicht mit drei Tagen Gefängnis für gesühnt erachtet wurde, sofort wie sechs Wochen bis zwei Jahren Gefängnis belegt werden würde. In solchen Fällen würde dann allerdings nicht mehr von einer besondern Milde, die Lißzt verträte, sondern nur von einer unerhörten Härte zu reden sein. Dieselbe Erscheinung würde sich auch je uach Umständen infolge eines hinzu¬ tretender zweiten Straffalles ergeben. Denken wir, daß jemand wegen eines geringen Diebstahls, der ihm bisher acht Tage Gefängnis eingetragen hätte, nnr bedingt verurteilt wäre. Diese bedingte Verurteilung müßte aber doch auf sechs Wochen bis zwei Jahre lauten. Nun würde er im Laufe von drei Jahren in eine Schlügerei verwickelt, und er hätte abermals (uach bis¬ herigem Rechte) acht Tage Gefängnis verwirkt. Dann würde er wiederum zu sechs Wochen bis zwei Jahren verurteilt. Nun wäre aber auch die erste Strafe reif geworden, und er müßte für zwei Vergehen, für die man bisher je eine achttägige Gefängnisstrafe für genügend hielt, zwölf Wochen bis vier Jahre sitzen. Wenn jemals wirklich die Rechtsprechung in dieser Weise arbeitete, daß so das eine mal arge Frevel (die eine Strafe bis zu zwei Jahren verdient

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/175>, abgerufen am 23.07.2024.