Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Neueste der Sirafrechtsmissenschaft

"laßen festhalten zu können. Und wie, wenn die Sträflinge sich verstellen?
wenn sie heucheln und lügen? Schließlich würde alles darauf ankonnneu, wer
das am besten verstünde. Lißzt verspottet die richterliche Strafzumessung, weil
beim einfachen Diebstahl der Richter zwischen einer Strafe von einem Tage
bis zu 1825 Tagen abwägen soll. Aber er findet nichts dabei, daß jene
zusammengewürfelte Gesellschaft, die er Strafvollzugsamt nennt, bei allen
Vergehen und Verbrechen auf der unfaßbarer Grundlage der "Persönlichkeit"
Mischen 42 und 730, 730 und 1825 Tagen u. s. w. abwäge. Man kann
nur staunen.

Aber auch ganz abgesehen von dem allen müssen wir den Grundgedanken,
der diese ganze Aufstellung beherrscht, daß die Menschen nicht nach ihrer That
zu strafen, sondern nach ihrer Persönlichkeit im Gefängnis festzuhalten oder
loszulassen seien, als einen aller Gerechtigkeit widerstreitende", Gedanken be¬
zeichnen.

Es hätte wohl nicht so vieler Worte bedurft, die UnHaltbarkeit des von
Lißzt auf Abschaffung der richterlichen Strafzumessung gerichteten Vorschlags
anschaulich zu macheu. Es lohnt sich aber doch, darüber klar zu werdeu,
welche hyperbolischer Flugbahnen der Gedankengang Lißzts zu nehmen imstande
ist, weil wir damit zugleich die Grundlage gewinnen für die Beurteilung eines
andern nicht minder exzentrischen Gedankens, in dem Lißzt das Heil der
Strafrechtspflege erblickt. Das ist die "bedingte Verurteilung."

Dieser Gedanke ist allerdings nicht von Lißzt selbst erfunden. Er ent¬
stammt den Köpfen französischer Menschenfreunde und hat sogar in einem Lande,
wo französisches Wesen die Herrschaft übt, in Belgien, Anerkennung in der
Gesetzgebung gefunden. Dies mag dazu beigetragen haben, daß in jüngster
Zeit auch bei uns angesehene Blätter dem von einer Anzahl Professoren
weitergetrageuen Gedanken ihre Spalten geöffnet haben. Selbst in die nord¬
deutsche Allgemeine Zeitung hatte sich ein diese Neuerung tobender Artikel ver¬
irrt; und manche würden Wohl daraus den Schluß gezogen haben, daß der
Gedanke bereits in maßgebenden Kreisen Anklang gefunden habe, wenn nicht
ein kurz darauf erschienener Artikel desselben Blattes die "bedingte Verurteilung"
unbedingt verurteilt hätte. Es mag ja wohl manchem, der sich selbst in die
Lage denkt, daß ihm einmal etwas Menschliches begegnen könnte, ganz an¬
sprechend erscheinen, wenn er alsdann nicht zu sitzen brauchte, sondern mit einer
"bedingten Verurteilung" wegkäme. Sieht mau aber von dieser subjektiven
Empfindung ab, so ist die bedingte Verurteilung rin nichts besser als die andre
Lißztsche Aufstellung, die in dem "Strafvollzugsamte" gipfelt.

Bei seiner Beweisführung zu Gunsten der bedingten Verurteilung geht
Lißzt in gleicher Weise wie früher zu Werke. Er nimmt Erscheinungen, die
an sich nicht zu bestreiten sind, zur Grundlage und gelangt durch maßlose
Übertreibungen derselben zu den seltsamsten Folgerungen. Er sagt zunächst:


Das Neueste der Sirafrechtsmissenschaft

"laßen festhalten zu können. Und wie, wenn die Sträflinge sich verstellen?
wenn sie heucheln und lügen? Schließlich würde alles darauf ankonnneu, wer
das am besten verstünde. Lißzt verspottet die richterliche Strafzumessung, weil
beim einfachen Diebstahl der Richter zwischen einer Strafe von einem Tage
bis zu 1825 Tagen abwägen soll. Aber er findet nichts dabei, daß jene
zusammengewürfelte Gesellschaft, die er Strafvollzugsamt nennt, bei allen
Vergehen und Verbrechen auf der unfaßbarer Grundlage der „Persönlichkeit"
Mischen 42 und 730, 730 und 1825 Tagen u. s. w. abwäge. Man kann
nur staunen.

Aber auch ganz abgesehen von dem allen müssen wir den Grundgedanken,
der diese ganze Aufstellung beherrscht, daß die Menschen nicht nach ihrer That
zu strafen, sondern nach ihrer Persönlichkeit im Gefängnis festzuhalten oder
loszulassen seien, als einen aller Gerechtigkeit widerstreitende», Gedanken be¬
zeichnen.

Es hätte wohl nicht so vieler Worte bedurft, die UnHaltbarkeit des von
Lißzt auf Abschaffung der richterlichen Strafzumessung gerichteten Vorschlags
anschaulich zu macheu. Es lohnt sich aber doch, darüber klar zu werdeu,
welche hyperbolischer Flugbahnen der Gedankengang Lißzts zu nehmen imstande
ist, weil wir damit zugleich die Grundlage gewinnen für die Beurteilung eines
andern nicht minder exzentrischen Gedankens, in dem Lißzt das Heil der
Strafrechtspflege erblickt. Das ist die „bedingte Verurteilung."

Dieser Gedanke ist allerdings nicht von Lißzt selbst erfunden. Er ent¬
stammt den Köpfen französischer Menschenfreunde und hat sogar in einem Lande,
wo französisches Wesen die Herrschaft übt, in Belgien, Anerkennung in der
Gesetzgebung gefunden. Dies mag dazu beigetragen haben, daß in jüngster
Zeit auch bei uns angesehene Blätter dem von einer Anzahl Professoren
weitergetrageuen Gedanken ihre Spalten geöffnet haben. Selbst in die nord¬
deutsche Allgemeine Zeitung hatte sich ein diese Neuerung tobender Artikel ver¬
irrt; und manche würden Wohl daraus den Schluß gezogen haben, daß der
Gedanke bereits in maßgebenden Kreisen Anklang gefunden habe, wenn nicht
ein kurz darauf erschienener Artikel desselben Blattes die „bedingte Verurteilung"
unbedingt verurteilt hätte. Es mag ja wohl manchem, der sich selbst in die
Lage denkt, daß ihm einmal etwas Menschliches begegnen könnte, ganz an¬
sprechend erscheinen, wenn er alsdann nicht zu sitzen brauchte, sondern mit einer
„bedingten Verurteilung" wegkäme. Sieht mau aber von dieser subjektiven
Empfindung ab, so ist die bedingte Verurteilung rin nichts besser als die andre
Lißztsche Aufstellung, die in dem „Strafvollzugsamte" gipfelt.

Bei seiner Beweisführung zu Gunsten der bedingten Verurteilung geht
Lißzt in gleicher Weise wie früher zu Werke. Er nimmt Erscheinungen, die
an sich nicht zu bestreiten sind, zur Grundlage und gelangt durch maßlose
Übertreibungen derselben zu den seltsamsten Folgerungen. Er sagt zunächst:


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0173" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206818"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Neueste der Sirafrechtsmissenschaft</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_449" prev="#ID_448"> "laßen festhalten zu können. Und wie, wenn die Sträflinge sich verstellen?<lb/>
wenn sie heucheln und lügen? Schließlich würde alles darauf ankonnneu, wer<lb/>
das am besten verstünde. Lißzt verspottet die richterliche Strafzumessung, weil<lb/>
beim einfachen Diebstahl der Richter zwischen einer Strafe von einem Tage<lb/>
bis zu 1825 Tagen abwägen soll. Aber er findet nichts dabei, daß jene<lb/>
zusammengewürfelte Gesellschaft, die er Strafvollzugsamt nennt, bei allen<lb/>
Vergehen und Verbrechen auf der unfaßbarer Grundlage der &#x201E;Persönlichkeit"<lb/>
Mischen 42 und 730, 730 und 1825 Tagen u. s. w. abwäge. Man kann<lb/>
nur staunen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_450"> Aber auch ganz abgesehen von dem allen müssen wir den Grundgedanken,<lb/>
der diese ganze Aufstellung beherrscht, daß die Menschen nicht nach ihrer That<lb/>
zu strafen, sondern nach ihrer Persönlichkeit im Gefängnis festzuhalten oder<lb/>
loszulassen seien, als einen aller Gerechtigkeit widerstreitende», Gedanken be¬<lb/>
zeichnen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_451"> Es hätte wohl nicht so vieler Worte bedurft, die UnHaltbarkeit des von<lb/>
Lißzt auf Abschaffung der richterlichen Strafzumessung gerichteten Vorschlags<lb/>
anschaulich zu macheu. Es lohnt sich aber doch, darüber klar zu werdeu,<lb/>
welche hyperbolischer Flugbahnen der Gedankengang Lißzts zu nehmen imstande<lb/>
ist, weil wir damit zugleich die Grundlage gewinnen für die Beurteilung eines<lb/>
andern nicht minder exzentrischen Gedankens, in dem Lißzt das Heil der<lb/>
Strafrechtspflege erblickt.  Das ist die &#x201E;bedingte Verurteilung."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_452"> Dieser Gedanke ist allerdings nicht von Lißzt selbst erfunden. Er ent¬<lb/>
stammt den Köpfen französischer Menschenfreunde und hat sogar in einem Lande,<lb/>
wo französisches Wesen die Herrschaft übt, in Belgien, Anerkennung in der<lb/>
Gesetzgebung gefunden. Dies mag dazu beigetragen haben, daß in jüngster<lb/>
Zeit auch bei uns angesehene Blätter dem von einer Anzahl Professoren<lb/>
weitergetrageuen Gedanken ihre Spalten geöffnet haben. Selbst in die nord¬<lb/>
deutsche Allgemeine Zeitung hatte sich ein diese Neuerung tobender Artikel ver¬<lb/>
irrt; und manche würden Wohl daraus den Schluß gezogen haben, daß der<lb/>
Gedanke bereits in maßgebenden Kreisen Anklang gefunden habe, wenn nicht<lb/>
ein kurz darauf erschienener Artikel desselben Blattes die &#x201E;bedingte Verurteilung"<lb/>
unbedingt verurteilt hätte. Es mag ja wohl manchem, der sich selbst in die<lb/>
Lage denkt, daß ihm einmal etwas Menschliches begegnen könnte, ganz an¬<lb/>
sprechend erscheinen, wenn er alsdann nicht zu sitzen brauchte, sondern mit einer<lb/>
&#x201E;bedingten Verurteilung" wegkäme. Sieht mau aber von dieser subjektiven<lb/>
Empfindung ab, so ist die bedingte Verurteilung rin nichts besser als die andre<lb/>
Lißztsche Aufstellung, die in dem &#x201E;Strafvollzugsamte" gipfelt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_453" next="#ID_454"> Bei seiner Beweisführung zu Gunsten der bedingten Verurteilung geht<lb/>
Lißzt in gleicher Weise wie früher zu Werke. Er nimmt Erscheinungen, die<lb/>
an sich nicht zu bestreiten sind, zur Grundlage und gelangt durch maßlose<lb/>
Übertreibungen derselben zu den seltsamsten Folgerungen.  Er sagt zunächst:</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0173] Das Neueste der Sirafrechtsmissenschaft "laßen festhalten zu können. Und wie, wenn die Sträflinge sich verstellen? wenn sie heucheln und lügen? Schließlich würde alles darauf ankonnneu, wer das am besten verstünde. Lißzt verspottet die richterliche Strafzumessung, weil beim einfachen Diebstahl der Richter zwischen einer Strafe von einem Tage bis zu 1825 Tagen abwägen soll. Aber er findet nichts dabei, daß jene zusammengewürfelte Gesellschaft, die er Strafvollzugsamt nennt, bei allen Vergehen und Verbrechen auf der unfaßbarer Grundlage der „Persönlichkeit" Mischen 42 und 730, 730 und 1825 Tagen u. s. w. abwäge. Man kann nur staunen. Aber auch ganz abgesehen von dem allen müssen wir den Grundgedanken, der diese ganze Aufstellung beherrscht, daß die Menschen nicht nach ihrer That zu strafen, sondern nach ihrer Persönlichkeit im Gefängnis festzuhalten oder loszulassen seien, als einen aller Gerechtigkeit widerstreitende», Gedanken be¬ zeichnen. Es hätte wohl nicht so vieler Worte bedurft, die UnHaltbarkeit des von Lißzt auf Abschaffung der richterlichen Strafzumessung gerichteten Vorschlags anschaulich zu macheu. Es lohnt sich aber doch, darüber klar zu werdeu, welche hyperbolischer Flugbahnen der Gedankengang Lißzts zu nehmen imstande ist, weil wir damit zugleich die Grundlage gewinnen für die Beurteilung eines andern nicht minder exzentrischen Gedankens, in dem Lißzt das Heil der Strafrechtspflege erblickt. Das ist die „bedingte Verurteilung." Dieser Gedanke ist allerdings nicht von Lißzt selbst erfunden. Er ent¬ stammt den Köpfen französischer Menschenfreunde und hat sogar in einem Lande, wo französisches Wesen die Herrschaft übt, in Belgien, Anerkennung in der Gesetzgebung gefunden. Dies mag dazu beigetragen haben, daß in jüngster Zeit auch bei uns angesehene Blätter dem von einer Anzahl Professoren weitergetrageuen Gedanken ihre Spalten geöffnet haben. Selbst in die nord¬ deutsche Allgemeine Zeitung hatte sich ein diese Neuerung tobender Artikel ver¬ irrt; und manche würden Wohl daraus den Schluß gezogen haben, daß der Gedanke bereits in maßgebenden Kreisen Anklang gefunden habe, wenn nicht ein kurz darauf erschienener Artikel desselben Blattes die „bedingte Verurteilung" unbedingt verurteilt hätte. Es mag ja wohl manchem, der sich selbst in die Lage denkt, daß ihm einmal etwas Menschliches begegnen könnte, ganz an¬ sprechend erscheinen, wenn er alsdann nicht zu sitzen brauchte, sondern mit einer „bedingten Verurteilung" wegkäme. Sieht mau aber von dieser subjektiven Empfindung ab, so ist die bedingte Verurteilung rin nichts besser als die andre Lißztsche Aufstellung, die in dem „Strafvollzugsamte" gipfelt. Bei seiner Beweisführung zu Gunsten der bedingten Verurteilung geht Lißzt in gleicher Weise wie früher zu Werke. Er nimmt Erscheinungen, die an sich nicht zu bestreiten sind, zur Grundlage und gelangt durch maßlose Übertreibungen derselben zu den seltsamsten Folgerungen. Er sagt zunächst:

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/173
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/173>, abgerufen am 23.07.2024.