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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Das Neueste der Strafrechtswissenschaft

z. B. Mord und Totschlag, je nachdem der Thäter mit oder ohne Überlegung
jemanden uns Leben gebracht hat. Wir unterscheiden Diebstahl und Unter¬
schlagung, je nachdem der Thäter die fremde Sache, die er sich angeeignet
hat, aus fremdem Besitz weggenommen oder selbst schon im Besitz gehabt hat.
Wir halten den Totschlag für minder strafbar als den Mord, die Unter¬
schlagung für minder strafbar als den Diebstahl. Um hierfür die Grundlage
zu gewinnen, stellen wir die verschiednen Begriffe auf. Nun scheiden sich jn
aber im wirklichen Leben die Fälle nicht immer haarscharf nach diesen Be¬
griffen ab. Es kommen Fälle vor, bei denen man zweifeln kann, ob sie unter
den einen oder unter den andern Begriff zu bringen seien, und daun kaun die
Notwendigkeit, sie dem Rechte entsprechend zu behandeln, leicht zu juristischen
Difteleien führen. Im Grunde genommen wird aber doch jeder, der sich die
Sache ruhig überlegt, es nur vernünftig finden, daß sich der Richter die Natur
der begangnen That klar zu machen sucht, um darnach die gerechte Strafe für
sie zu finden.

Eine weitere Schwäche der Strafzumessung liegt darin, daß für die meisten
Vergehen das Gesetz die Strafe nicht mit absoluter Genauigkeit, sondern nnr
innerhalb eines mehr oder minder weit gegriffenen Rahmens bestimmt. Und
da kann man ja sagen: in diesem Falle fehlt es dem Richter für die Straf¬
zumessung an einen: völlig sichern Anhalt. Es bleibt seinem natürlichen Rechts-
gefühl überlassen, wie er innerhalb des äußern Nahmens die Strafe bestimmen
will; und kein Richter wird behaupten wollen, daß ihm dabei für den einzelnen
Fall eine apodiktische Sicherheit zur Seite stehe. Aber das ist eine Schwäche
menschlichen Erkennens, die in unzähligen andern Verhältnissen auch eintritt.
Einen gewissen Anhalt erhält übrigens auch innerhalb dieses freien Spiel¬
raums die Strafzumessuug durch die Praxis, die ein ziemlich gleichmäßiges
Maß für die Bestrafung gleichartiger Fälle vermittelt. Jedenfalls wäre es
doch höchst "uverstäudig, zu sagen: "Weil der Richter nicht mit Sicherheit
weiß, ob ein Bergehen mit vier oder mit sechs Wochen Gefängnis gestraft zu
werden verdient, so muß er sich jeder Strafbestimmung enthalten." Der
Richter wählt die Strafe, die er nach bester Überzeugung für die richtige
hält. Ob sie die absolut richtige ist, weiß nur Gott.

Diese Schwächen, die naturgemäß der richterlichen Strafzumessung an¬
haften, greift nun Lißzt heraus, um daraus zu folgern, daß überhaupt die
Strafzumessung durch deu Richter nichts wert, daß sie nur ein "Taschen¬
spielerkunststück" sei. Seiner Ansicht nach brauchen wir nicht mehr zwischen
einzelnen Vergehen genau zu unterscheiden. Wir brauchet: uns auch uicht mehr
über die Schwere der That den Kopf zu zerbrechen, um darnach die Strafe zu
bemessen. Nicht die That, sondern deu Menschen haben wir zu strafen. Der
Mensch ntnß erforscht werden. Also weg mit der richterlichen Strafzumessung,
und statt dessen die Bestimmung der Dauer der Strafe durch das Strafvoll-


Das Neueste der Strafrechtswissenschaft

z. B. Mord und Totschlag, je nachdem der Thäter mit oder ohne Überlegung
jemanden uns Leben gebracht hat. Wir unterscheiden Diebstahl und Unter¬
schlagung, je nachdem der Thäter die fremde Sache, die er sich angeeignet
hat, aus fremdem Besitz weggenommen oder selbst schon im Besitz gehabt hat.
Wir halten den Totschlag für minder strafbar als den Mord, die Unter¬
schlagung für minder strafbar als den Diebstahl. Um hierfür die Grundlage
zu gewinnen, stellen wir die verschiednen Begriffe auf. Nun scheiden sich jn
aber im wirklichen Leben die Fälle nicht immer haarscharf nach diesen Be¬
griffen ab. Es kommen Fälle vor, bei denen man zweifeln kann, ob sie unter
den einen oder unter den andern Begriff zu bringen seien, und daun kaun die
Notwendigkeit, sie dem Rechte entsprechend zu behandeln, leicht zu juristischen
Difteleien führen. Im Grunde genommen wird aber doch jeder, der sich die
Sache ruhig überlegt, es nur vernünftig finden, daß sich der Richter die Natur
der begangnen That klar zu machen sucht, um darnach die gerechte Strafe für
sie zu finden.

Eine weitere Schwäche der Strafzumessung liegt darin, daß für die meisten
Vergehen das Gesetz die Strafe nicht mit absoluter Genauigkeit, sondern nnr
innerhalb eines mehr oder minder weit gegriffenen Rahmens bestimmt. Und
da kann man ja sagen: in diesem Falle fehlt es dem Richter für die Straf¬
zumessung an einen: völlig sichern Anhalt. Es bleibt seinem natürlichen Rechts-
gefühl überlassen, wie er innerhalb des äußern Nahmens die Strafe bestimmen
will; und kein Richter wird behaupten wollen, daß ihm dabei für den einzelnen
Fall eine apodiktische Sicherheit zur Seite stehe. Aber das ist eine Schwäche
menschlichen Erkennens, die in unzähligen andern Verhältnissen auch eintritt.
Einen gewissen Anhalt erhält übrigens auch innerhalb dieses freien Spiel¬
raums die Strafzumessuug durch die Praxis, die ein ziemlich gleichmäßiges
Maß für die Bestrafung gleichartiger Fälle vermittelt. Jedenfalls wäre es
doch höchst »uverstäudig, zu sagen: „Weil der Richter nicht mit Sicherheit
weiß, ob ein Bergehen mit vier oder mit sechs Wochen Gefängnis gestraft zu
werden verdient, so muß er sich jeder Strafbestimmung enthalten." Der
Richter wählt die Strafe, die er nach bester Überzeugung für die richtige
hält. Ob sie die absolut richtige ist, weiß nur Gott.

Diese Schwächen, die naturgemäß der richterlichen Strafzumessung an¬
haften, greift nun Lißzt heraus, um daraus zu folgern, daß überhaupt die
Strafzumessung durch deu Richter nichts wert, daß sie nur ein „Taschen¬
spielerkunststück" sei. Seiner Ansicht nach brauchen wir nicht mehr zwischen
einzelnen Vergehen genau zu unterscheiden. Wir brauchet: uns auch uicht mehr
über die Schwere der That den Kopf zu zerbrechen, um darnach die Strafe zu
bemessen. Nicht die That, sondern deu Menschen haben wir zu strafen. Der
Mensch ntnß erforscht werden. Also weg mit der richterlichen Strafzumessung,
und statt dessen die Bestimmung der Dauer der Strafe durch das Strafvoll-


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[0171] Das Neueste der Strafrechtswissenschaft z. B. Mord und Totschlag, je nachdem der Thäter mit oder ohne Überlegung jemanden uns Leben gebracht hat. Wir unterscheiden Diebstahl und Unter¬ schlagung, je nachdem der Thäter die fremde Sache, die er sich angeeignet hat, aus fremdem Besitz weggenommen oder selbst schon im Besitz gehabt hat. Wir halten den Totschlag für minder strafbar als den Mord, die Unter¬ schlagung für minder strafbar als den Diebstahl. Um hierfür die Grundlage zu gewinnen, stellen wir die verschiednen Begriffe auf. Nun scheiden sich jn aber im wirklichen Leben die Fälle nicht immer haarscharf nach diesen Be¬ griffen ab. Es kommen Fälle vor, bei denen man zweifeln kann, ob sie unter den einen oder unter den andern Begriff zu bringen seien, und daun kaun die Notwendigkeit, sie dem Rechte entsprechend zu behandeln, leicht zu juristischen Difteleien führen. Im Grunde genommen wird aber doch jeder, der sich die Sache ruhig überlegt, es nur vernünftig finden, daß sich der Richter die Natur der begangnen That klar zu machen sucht, um darnach die gerechte Strafe für sie zu finden. Eine weitere Schwäche der Strafzumessung liegt darin, daß für die meisten Vergehen das Gesetz die Strafe nicht mit absoluter Genauigkeit, sondern nnr innerhalb eines mehr oder minder weit gegriffenen Rahmens bestimmt. Und da kann man ja sagen: in diesem Falle fehlt es dem Richter für die Straf¬ zumessung an einen: völlig sichern Anhalt. Es bleibt seinem natürlichen Rechts- gefühl überlassen, wie er innerhalb des äußern Nahmens die Strafe bestimmen will; und kein Richter wird behaupten wollen, daß ihm dabei für den einzelnen Fall eine apodiktische Sicherheit zur Seite stehe. Aber das ist eine Schwäche menschlichen Erkennens, die in unzähligen andern Verhältnissen auch eintritt. Einen gewissen Anhalt erhält übrigens auch innerhalb dieses freien Spiel¬ raums die Strafzumessuug durch die Praxis, die ein ziemlich gleichmäßiges Maß für die Bestrafung gleichartiger Fälle vermittelt. Jedenfalls wäre es doch höchst »uverstäudig, zu sagen: „Weil der Richter nicht mit Sicherheit weiß, ob ein Bergehen mit vier oder mit sechs Wochen Gefängnis gestraft zu werden verdient, so muß er sich jeder Strafbestimmung enthalten." Der Richter wählt die Strafe, die er nach bester Überzeugung für die richtige hält. Ob sie die absolut richtige ist, weiß nur Gott. Diese Schwächen, die naturgemäß der richterlichen Strafzumessung an¬ haften, greift nun Lißzt heraus, um daraus zu folgern, daß überhaupt die Strafzumessung durch deu Richter nichts wert, daß sie nur ein „Taschen¬ spielerkunststück" sei. Seiner Ansicht nach brauchen wir nicht mehr zwischen einzelnen Vergehen genau zu unterscheiden. Wir brauchet: uns auch uicht mehr über die Schwere der That den Kopf zu zerbrechen, um darnach die Strafe zu bemessen. Nicht die That, sondern deu Menschen haben wir zu strafen. Der Mensch ntnß erforscht werden. Also weg mit der richterlichen Strafzumessung, und statt dessen die Bestimmung der Dauer der Strafe durch das Strafvoll-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/171>, abgerufen am 23.07.2024.