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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Studie" zur englischen Litteratur der Gegenwart

führen, wie der Besitzer des Landgutes, der Sauire Roger Wendover, nichts
thut, um das schreiende Elend unter seinen Leuten zu beseitigen, wie er die
Arbeiter in feuchten, zerfallenen, ekelhaften Behausungen hinsiechen und ver¬
kommen läßt, Elsmere wendet sich um Abhilfe an den hartherzigen Verwalter
-- umsonst. Er richtet sein Gesuch an den Sauire -- umsonst. Er sucht
ihn persönlich auf, trägt ihm seine Klagen vor und wird von dein gelehrten
alten Herrn, der sich von der Welt zurückgezogen hat und seit Jahren an einem
großen, gegen die Orthodoxie gerichteten Werke arbeitet, gar nicht verstanden.

In diesem Roger Wcndvvcr finden wir endlich eine Gestalt, die auch den
dentschen Leser interessiren kann. Durch die deutsche Geschichtsforschung und
Kamelhase Philosophie aufgeklärt, vom französischen Skeptizismus durchdrungen,
sucht er in seinem Werke ^. Histm-/ ol' 'Ivstiurvn/ die geoffenbarte Religion,
das Bibelchristcntnm, über deu Häuser zu werfen. Der nähere Verkehr mit
dem Sauire wirkt zersetzend auf Elsmeres Anschauungen ein. Der stolze Bau
sei>?er theologischen Begriffe soll zum erstenmal einen Sturm aushalten; er
ist dem Anprall nicht gewachsen, er zittert, wankt und stürzt zusammen. Robert
steht vor den vernichtenden Gedanken des Sauire über den Ursprung des
Christentums waffenlos da. Das Zeugnis -- so führt Roger Wendover
aus -- hat, wie jede menschliche Schöpfung, stufenweise seine Entwicklung auf¬
zuweisen. Die Fähigkeit der Menschen, zu begreifen und sich dessen zu erinnern,
was er sieht und hört, wächst immer mehr vom schwächern zum stärkern, wie
jede seiner Fähigkeiten, ähnlich wie sich die Vernunft des Höhlenbewohners
zu der Vernunft eines Kant entwickelt hat. Was uns fehlt, das ist der ge¬
ordnete Beweis davon; aber dieser kann aus der Geschichte und der Erfahrung
gewonnen werden. Ich versuche vor allen Dingen festzustellen, welches die
Forme", welches die Kanäle sind, in denen das Zeugnis der Zeit lausen mußte.
Ich halte für solche Formen natürlich die herrschenden Ideen, die geistigen
Vorurteile und die Voreingenommenheiten, die vorhanden waren, bevor der
Zeitraum beginnt. An erster Stelle werde ich in dem Zeitalter, das den Ur¬
sprung des Christentums sah, eine allgemeine Vorliebe für Wunder, wie in so
vielen andern Zeiten, vorfinden, d. h. für Abweichungen von der Richtungslinie
der Erfahrungen, die sonst die Arbeit aller Menschen und aller Schulen be¬
herrscht. Lies das Zeugnis der Periode in ihrem eignen Lichte, sei vorbereitet
auf unvermeidliche Widersprüche zwischen ihm und dem Zeugnis der Gegenwart.
Die Bürgschaft einer Zeit ist nicht wahr, uoch in strengem Sinne falsch, sie
ist nnr unmaßgeblich, halbrichtig, vorwissenschaftlich, aber vollkommen natürlich.
Man würde in der That darüber erstaunen müssen, wäre uns Christi Leben
ohne alle Wunder überliefert worden. Die damalige Zeit geht mit Wundern
schwanger. Der Osten ist voll von Messiaden. Selbst ein Tacitus ist nber-
glänbisch, selbst ein Vespasian thut Wunder, selbst ein Nerv kann nicht sterben,
ohne daß er noch nach fünfzig Jahren angesehen wird als der Anstifter maß-


Studie» zur englischen Litteratur der Gegenwart

führen, wie der Besitzer des Landgutes, der Sauire Roger Wendover, nichts
thut, um das schreiende Elend unter seinen Leuten zu beseitigen, wie er die
Arbeiter in feuchten, zerfallenen, ekelhaften Behausungen hinsiechen und ver¬
kommen läßt, Elsmere wendet sich um Abhilfe an den hartherzigen Verwalter
— umsonst. Er richtet sein Gesuch an den Sauire — umsonst. Er sucht
ihn persönlich auf, trägt ihm seine Klagen vor und wird von dein gelehrten
alten Herrn, der sich von der Welt zurückgezogen hat und seit Jahren an einem
großen, gegen die Orthodoxie gerichteten Werke arbeitet, gar nicht verstanden.

In diesem Roger Wcndvvcr finden wir endlich eine Gestalt, die auch den
dentschen Leser interessiren kann. Durch die deutsche Geschichtsforschung und
Kamelhase Philosophie aufgeklärt, vom französischen Skeptizismus durchdrungen,
sucht er in seinem Werke ^. Histm-/ ol' 'Ivstiurvn/ die geoffenbarte Religion,
das Bibelchristcntnm, über deu Häuser zu werfen. Der nähere Verkehr mit
dem Sauire wirkt zersetzend auf Elsmeres Anschauungen ein. Der stolze Bau
sei>?er theologischen Begriffe soll zum erstenmal einen Sturm aushalten; er
ist dem Anprall nicht gewachsen, er zittert, wankt und stürzt zusammen. Robert
steht vor den vernichtenden Gedanken des Sauire über den Ursprung des
Christentums waffenlos da. Das Zeugnis — so führt Roger Wendover
aus — hat, wie jede menschliche Schöpfung, stufenweise seine Entwicklung auf¬
zuweisen. Die Fähigkeit der Menschen, zu begreifen und sich dessen zu erinnern,
was er sieht und hört, wächst immer mehr vom schwächern zum stärkern, wie
jede seiner Fähigkeiten, ähnlich wie sich die Vernunft des Höhlenbewohners
zu der Vernunft eines Kant entwickelt hat. Was uns fehlt, das ist der ge¬
ordnete Beweis davon; aber dieser kann aus der Geschichte und der Erfahrung
gewonnen werden. Ich versuche vor allen Dingen festzustellen, welches die
Forme», welches die Kanäle sind, in denen das Zeugnis der Zeit lausen mußte.
Ich halte für solche Formen natürlich die herrschenden Ideen, die geistigen
Vorurteile und die Voreingenommenheiten, die vorhanden waren, bevor der
Zeitraum beginnt. An erster Stelle werde ich in dem Zeitalter, das den Ur¬
sprung des Christentums sah, eine allgemeine Vorliebe für Wunder, wie in so
vielen andern Zeiten, vorfinden, d. h. für Abweichungen von der Richtungslinie
der Erfahrungen, die sonst die Arbeit aller Menschen und aller Schulen be¬
herrscht. Lies das Zeugnis der Periode in ihrem eignen Lichte, sei vorbereitet
auf unvermeidliche Widersprüche zwischen ihm und dem Zeugnis der Gegenwart.
Die Bürgschaft einer Zeit ist nicht wahr, uoch in strengem Sinne falsch, sie
ist nnr unmaßgeblich, halbrichtig, vorwissenschaftlich, aber vollkommen natürlich.
Man würde in der That darüber erstaunen müssen, wäre uns Christi Leben
ohne alle Wunder überliefert worden. Die damalige Zeit geht mit Wundern
schwanger. Der Osten ist voll von Messiaden. Selbst ein Tacitus ist nber-
glänbisch, selbst ein Vespasian thut Wunder, selbst ein Nerv kann nicht sterben,
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[0146] Studie» zur englischen Litteratur der Gegenwart führen, wie der Besitzer des Landgutes, der Sauire Roger Wendover, nichts thut, um das schreiende Elend unter seinen Leuten zu beseitigen, wie er die Arbeiter in feuchten, zerfallenen, ekelhaften Behausungen hinsiechen und ver¬ kommen läßt, Elsmere wendet sich um Abhilfe an den hartherzigen Verwalter — umsonst. Er richtet sein Gesuch an den Sauire — umsonst. Er sucht ihn persönlich auf, trägt ihm seine Klagen vor und wird von dein gelehrten alten Herrn, der sich von der Welt zurückgezogen hat und seit Jahren an einem großen, gegen die Orthodoxie gerichteten Werke arbeitet, gar nicht verstanden. In diesem Roger Wcndvvcr finden wir endlich eine Gestalt, die auch den dentschen Leser interessiren kann. Durch die deutsche Geschichtsforschung und Kamelhase Philosophie aufgeklärt, vom französischen Skeptizismus durchdrungen, sucht er in seinem Werke ^. Histm-/ ol' 'Ivstiurvn/ die geoffenbarte Religion, das Bibelchristcntnm, über deu Häuser zu werfen. Der nähere Verkehr mit dem Sauire wirkt zersetzend auf Elsmeres Anschauungen ein. Der stolze Bau sei>?er theologischen Begriffe soll zum erstenmal einen Sturm aushalten; er ist dem Anprall nicht gewachsen, er zittert, wankt und stürzt zusammen. Robert steht vor den vernichtenden Gedanken des Sauire über den Ursprung des Christentums waffenlos da. Das Zeugnis — so führt Roger Wendover aus — hat, wie jede menschliche Schöpfung, stufenweise seine Entwicklung auf¬ zuweisen. Die Fähigkeit der Menschen, zu begreifen und sich dessen zu erinnern, was er sieht und hört, wächst immer mehr vom schwächern zum stärkern, wie jede seiner Fähigkeiten, ähnlich wie sich die Vernunft des Höhlenbewohners zu der Vernunft eines Kant entwickelt hat. Was uns fehlt, das ist der ge¬ ordnete Beweis davon; aber dieser kann aus der Geschichte und der Erfahrung gewonnen werden. Ich versuche vor allen Dingen festzustellen, welches die Forme», welches die Kanäle sind, in denen das Zeugnis der Zeit lausen mußte. Ich halte für solche Formen natürlich die herrschenden Ideen, die geistigen Vorurteile und die Voreingenommenheiten, die vorhanden waren, bevor der Zeitraum beginnt. An erster Stelle werde ich in dem Zeitalter, das den Ur¬ sprung des Christentums sah, eine allgemeine Vorliebe für Wunder, wie in so vielen andern Zeiten, vorfinden, d. h. für Abweichungen von der Richtungslinie der Erfahrungen, die sonst die Arbeit aller Menschen und aller Schulen be¬ herrscht. Lies das Zeugnis der Periode in ihrem eignen Lichte, sei vorbereitet auf unvermeidliche Widersprüche zwischen ihm und dem Zeugnis der Gegenwart. Die Bürgschaft einer Zeit ist nicht wahr, uoch in strengem Sinne falsch, sie ist nnr unmaßgeblich, halbrichtig, vorwissenschaftlich, aber vollkommen natürlich. Man würde in der That darüber erstaunen müssen, wäre uns Christi Leben ohne alle Wunder überliefert worden. Die damalige Zeit geht mit Wundern schwanger. Der Osten ist voll von Messiaden. Selbst ein Tacitus ist nber- glänbisch, selbst ein Vespasian thut Wunder, selbst ein Nerv kann nicht sterben, ohne daß er noch nach fünfzig Jahren angesehen wird als der Anstifter maß-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/146>, abgerufen am 25.08.2024.