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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Studien zur englischen Litteratur der Gegenwart

und zwar mit einer Sachkenntnis, daß jede Partei in dem Roman den Aus¬
druck ihrer Überzeugungen und Bestrebungen zu finden glaubt. Kein Wunder,
das; uuter solchen Umständen die bis dahin fast unbekannte Verfasserin, deren
erster Roman Riff IZnillu re"n spurlos vorübergegangen ist, mit einem Schlage
eine berühmte Person geworden ist. Kobm't, iÄsmvrö hat Veranlassung und
Stoff zu unzähligen Reden und Predigten in England gegeben; Flugschriften
und Abhandlungen sind dafür und dawider geschrieben worden, und selbst
Gladstone hat sich veranlaßt gesehen, in der Zeitschrift I'In; ^invwöiM <ü<zn-
tmr/ einen Artikel üodvrt lÄsmsrv mia ete Lattlk vt Lolivvv zu veröffent¬
lichen, worin er die geoffenbarte Religion gegen die Augriffe in Warth Roman
mit warmer Hingebung zu verteidigen sucht.

Die Verfasserin hat sich von der realistischen Schule einige Kunstgriffe
angeeignet; das Bererbungsmotiv taucht zuweilen ans, auch versucht sie
das "Mittel," die Eigentümlichkeiten des Landstrichs und der Umgebung
mit dem Charakter ihrer eigentlichen Heldin, der Katharina Lehburn, in Ver¬
bindung zu bringen. Sie versetzt uns im Anfang des Romans nach Nvrd-
england in eine Landschaft von Westmoreland. Über der ganzen Landschaft
-- so heißt es in dem Roman -- lag ein heiteres und doch kaltes Licht.
Wie anderswo, ist der Sommer anch im Norden eine Zeit der Entfaltung
und der Freude, aber man findet dort nicht solchen Reichtum, eilten so unge¬
ahnten Glanz, eine solche Verschwendung wie im Süden. In diesen kahlen,
grünen Thälern ruht eine Art von herber Schönheit sogar im Sommer. Die
Erinnerung an den Winter scheint noch auf diesen winddurchfegten Halden zu
säumen, ans diesen Landhäusern mit ihren rohen Mauern aus denselben Steinen
wie hinter ihnen die Klippen und die Schluchten, in denen die zusammen¬
geschrumpften Gießbäche murmelnd herunterfließen. Das Land ist heiter, aber
dabei nüchtern; die Natur erscheint hier dem Menschen frisch, aber sie hat
nichts Fesselndes, nichts Berauschendes an sich. Die Menschen sind hier noch
in der Lage, sich gegen sie zu schützen, ein eignes, unabhängiges Leben voll
Arbeit und Willenskraft zu führen und die Ausdauer in stillgepflegten Ge¬
sinnungen zu entwickeln, jene laugsam machsende Willensstärke, die dem Menschen
so oft durch die Reize des Südens genommen wird.

In diese kalte Umgebung paßt Katharina Lehburn mit ihrer herben Schön¬
heit, mit ihrer engbegrenzten Weltanschauung, mit ihren puritanischen religiösen
Begriffen vortrefflich. Ihr Vater stammte aus eiuer Säuferfamilie, die jedes
Jahr einen Acker Land durch die Kehle jagte. Er allein bildete eine Aus¬
nahme und führte in streng kirchlicher Gläubigkeit einen ehrsamen Lebenswandel;
dnrch redliche Arbeit hatte er sich ein Vermögen erworben und von seinem
verschuldeten ältern Bruder die Farm Burwood gekauft. Nach seinem Tode blieb
die Witwe mit drei Töchtern zurück; nur die älteste, Katharina, war unter
dem religiösen Einfluß des Baders aufgewachsen und fühlt gleichsam als ihre


Studien zur englischen Litteratur der Gegenwart

und zwar mit einer Sachkenntnis, daß jede Partei in dem Roman den Aus¬
druck ihrer Überzeugungen und Bestrebungen zu finden glaubt. Kein Wunder,
das; uuter solchen Umständen die bis dahin fast unbekannte Verfasserin, deren
erster Roman Riff IZnillu re»n spurlos vorübergegangen ist, mit einem Schlage
eine berühmte Person geworden ist. Kobm't, iÄsmvrö hat Veranlassung und
Stoff zu unzähligen Reden und Predigten in England gegeben; Flugschriften
und Abhandlungen sind dafür und dawider geschrieben worden, und selbst
Gladstone hat sich veranlaßt gesehen, in der Zeitschrift I'In; ^invwöiM <ü<zn-
tmr/ einen Artikel üodvrt lÄsmsrv mia ete Lattlk vt Lolivvv zu veröffent¬
lichen, worin er die geoffenbarte Religion gegen die Augriffe in Warth Roman
mit warmer Hingebung zu verteidigen sucht.

Die Verfasserin hat sich von der realistischen Schule einige Kunstgriffe
angeeignet; das Bererbungsmotiv taucht zuweilen ans, auch versucht sie
das „Mittel," die Eigentümlichkeiten des Landstrichs und der Umgebung
mit dem Charakter ihrer eigentlichen Heldin, der Katharina Lehburn, in Ver¬
bindung zu bringen. Sie versetzt uns im Anfang des Romans nach Nvrd-
england in eine Landschaft von Westmoreland. Über der ganzen Landschaft
— so heißt es in dem Roman — lag ein heiteres und doch kaltes Licht.
Wie anderswo, ist der Sommer anch im Norden eine Zeit der Entfaltung
und der Freude, aber man findet dort nicht solchen Reichtum, eilten so unge¬
ahnten Glanz, eine solche Verschwendung wie im Süden. In diesen kahlen,
grünen Thälern ruht eine Art von herber Schönheit sogar im Sommer. Die
Erinnerung an den Winter scheint noch auf diesen winddurchfegten Halden zu
säumen, ans diesen Landhäusern mit ihren rohen Mauern aus denselben Steinen
wie hinter ihnen die Klippen und die Schluchten, in denen die zusammen¬
geschrumpften Gießbäche murmelnd herunterfließen. Das Land ist heiter, aber
dabei nüchtern; die Natur erscheint hier dem Menschen frisch, aber sie hat
nichts Fesselndes, nichts Berauschendes an sich. Die Menschen sind hier noch
in der Lage, sich gegen sie zu schützen, ein eignes, unabhängiges Leben voll
Arbeit und Willenskraft zu führen und die Ausdauer in stillgepflegten Ge¬
sinnungen zu entwickeln, jene laugsam machsende Willensstärke, die dem Menschen
so oft durch die Reize des Südens genommen wird.

In diese kalte Umgebung paßt Katharina Lehburn mit ihrer herben Schön¬
heit, mit ihrer engbegrenzten Weltanschauung, mit ihren puritanischen religiösen
Begriffen vortrefflich. Ihr Vater stammte aus eiuer Säuferfamilie, die jedes
Jahr einen Acker Land durch die Kehle jagte. Er allein bildete eine Aus¬
nahme und führte in streng kirchlicher Gläubigkeit einen ehrsamen Lebenswandel;
dnrch redliche Arbeit hatte er sich ein Vermögen erworben und von seinem
verschuldeten ältern Bruder die Farm Burwood gekauft. Nach seinem Tode blieb
die Witwe mit drei Töchtern zurück; nur die älteste, Katharina, war unter
dem religiösen Einfluß des Baders aufgewachsen und fühlt gleichsam als ihre


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[0144] Studien zur englischen Litteratur der Gegenwart und zwar mit einer Sachkenntnis, daß jede Partei in dem Roman den Aus¬ druck ihrer Überzeugungen und Bestrebungen zu finden glaubt. Kein Wunder, das; uuter solchen Umständen die bis dahin fast unbekannte Verfasserin, deren erster Roman Riff IZnillu re»n spurlos vorübergegangen ist, mit einem Schlage eine berühmte Person geworden ist. Kobm't, iÄsmvrö hat Veranlassung und Stoff zu unzähligen Reden und Predigten in England gegeben; Flugschriften und Abhandlungen sind dafür und dawider geschrieben worden, und selbst Gladstone hat sich veranlaßt gesehen, in der Zeitschrift I'In; ^invwöiM <ü<zn- tmr/ einen Artikel üodvrt lÄsmsrv mia ete Lattlk vt Lolivvv zu veröffent¬ lichen, worin er die geoffenbarte Religion gegen die Augriffe in Warth Roman mit warmer Hingebung zu verteidigen sucht. Die Verfasserin hat sich von der realistischen Schule einige Kunstgriffe angeeignet; das Bererbungsmotiv taucht zuweilen ans, auch versucht sie das „Mittel," die Eigentümlichkeiten des Landstrichs und der Umgebung mit dem Charakter ihrer eigentlichen Heldin, der Katharina Lehburn, in Ver¬ bindung zu bringen. Sie versetzt uns im Anfang des Romans nach Nvrd- england in eine Landschaft von Westmoreland. Über der ganzen Landschaft — so heißt es in dem Roman — lag ein heiteres und doch kaltes Licht. Wie anderswo, ist der Sommer anch im Norden eine Zeit der Entfaltung und der Freude, aber man findet dort nicht solchen Reichtum, eilten so unge¬ ahnten Glanz, eine solche Verschwendung wie im Süden. In diesen kahlen, grünen Thälern ruht eine Art von herber Schönheit sogar im Sommer. Die Erinnerung an den Winter scheint noch auf diesen winddurchfegten Halden zu säumen, ans diesen Landhäusern mit ihren rohen Mauern aus denselben Steinen wie hinter ihnen die Klippen und die Schluchten, in denen die zusammen¬ geschrumpften Gießbäche murmelnd herunterfließen. Das Land ist heiter, aber dabei nüchtern; die Natur erscheint hier dem Menschen frisch, aber sie hat nichts Fesselndes, nichts Berauschendes an sich. Die Menschen sind hier noch in der Lage, sich gegen sie zu schützen, ein eignes, unabhängiges Leben voll Arbeit und Willenskraft zu führen und die Ausdauer in stillgepflegten Ge¬ sinnungen zu entwickeln, jene laugsam machsende Willensstärke, die dem Menschen so oft durch die Reize des Südens genommen wird. In diese kalte Umgebung paßt Katharina Lehburn mit ihrer herben Schön¬ heit, mit ihrer engbegrenzten Weltanschauung, mit ihren puritanischen religiösen Begriffen vortrefflich. Ihr Vater stammte aus eiuer Säuferfamilie, die jedes Jahr einen Acker Land durch die Kehle jagte. Er allein bildete eine Aus¬ nahme und führte in streng kirchlicher Gläubigkeit einen ehrsamen Lebenswandel; dnrch redliche Arbeit hatte er sich ein Vermögen erworben und von seinem verschuldeten ältern Bruder die Farm Burwood gekauft. Nach seinem Tode blieb die Witwe mit drei Töchtern zurück; nur die älteste, Katharina, war unter dem religiösen Einfluß des Baders aufgewachsen und fühlt gleichsam als ihre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/144>, abgerufen am 25.08.2024.