Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

England ist das aber thatsächlich der Fall. Wie könnte es anch anders in
unserm herrliche,, nvviMpvr >->go sei"! Die oberflächliche Tagesschriststellerei
">'d das alles verschlingende Zeit""gs""wehe" haben in unserm Jahrhundert
einen unberechenbaren Einfluß auf die Litteraturen aller Völker ausgeübt, sie
bald gewaltsam gehemmt, bald stoßweise vorwärts getrieben, in jedem Falle
aber eine ruhige, gesunde Entwicklung des geistigen Lebens im höchsten Maße
beeinträchtigt. Diese Erscheinung tritt um deutlichsten in der englischen Litte¬
ratur der Gegenwart hervor; Proudhons Ausspruch: "Die Zeitungen siud die
Kirchhöfe der'Gedanken" findet nirgends eine treffendere Bestätigung als in
England. Wie der Journalismus die ganze moderne Kultur mit ihren un¬
zähligen Erscheinungsformen in ein einziges geradliniges Flußbett zwängen
möchte, so kann er für seine litterarischen Zwecke und Bedürfnisse auch nur
eine, die beweglichste Form der Dichtkunst gebrauchen, in der sich alle andern
poetischen Gattungen aufgelöst haben. Nur aus der unumschränkten Herrschaft
des Journalismus ist die Thatsache zu erklären, daß gegenwärtig das ganze
schöngeistige Leben des englischen Volkes in, Roman sein Ausdrncksnnttel ge¬
funden hat. daß diese epische Form gleichsam zum Gotte Kronos geworden >se.
der seine eignen Kinder verschlungen hat. Die alte Sage ist sehr lehrreich,
sie erzählt anch, daß der Gott seine Kinder bald wieder ausspeien mußte. das;
er schließlich selbst von ihnen vom Throne gestoßen und in den Tartarus ge¬
schlendert wurde. Ob Drama und Lyrik diesen Titanenkampf gegen den Roman
S">n Segen der ganzen englischen Litteratur auch einmal unternehmen werden ->
Es scheint. als ob schon jetzt dem englischen Roman die Lebenskräfte aus¬
gingen. Zwar wird für den vmiüvm-vus w,"t,v in livtwn unendlich viel ge¬
schrieben, aber die Lücken, die Dickens, Thackeray und George Eliot bli.w lassen
haben n.,d in gewissem Sinne auch Nnlhony Trollope und der jüngst ver¬
storbne Beherrscher des pill.-rum." <.'<>.'.>i im Scusativnsromcm, Wllkie Eoll.M'.
sind troi-. der Vielschreiberei einer Miß Braddon und den schrecklichen Mach¬
werken eines 5nql) Conway in England noch nicht ausgefüllt. Wem. ^a,in
seiner Geschichte der englischen Litteratur sagt' Der Sittenrvman gedeiht
sehr üppig i" England, und dafür giebt es viele Gründe, vor allen Dinge"
wurde er dort gehöre", ""d el"e Pflanze blüht i.n.ner um beste" in ihre",
eignen Lande ' so trifft dieses Lob nicht mehr für die Gegenwart zu. Erg-
o"d hat heutzutage ans diese", Gebiete keine" Schriftsteller, den es z. B.
einem Alphonse Daudet, einem Oktave Feuillee oder Maupassaut gegenüber¬
stellen könnte. Der Sittenrvman leidet a", meiste" ""ter dem unausrottbaren
puritanischen Geiste, ""ter der zur Überlieferung gewordenen Scheu vor der
Darstellung des wirtlichen Lebens mit allen seinen Gebrechen, seiner geistigen
Hohlheit, 'seiner sittliche" Verkommenheit, seinen unzähligen Verirrungen.

Im englische" Roman, sagt Henry Iair.es in seinen r"remet ?ortr"its.
giebt es mehr als i" irgend eine", ander" einen von Alters her überkommenen


England ist das aber thatsächlich der Fall. Wie könnte es anch anders in
unserm herrliche,, nvviMpvr >->go sei»! Die oberflächliche Tagesschriststellerei
»>'d das alles verschlingende Zeit„»gs»»wehe» haben in unserm Jahrhundert
einen unberechenbaren Einfluß auf die Litteraturen aller Völker ausgeübt, sie
bald gewaltsam gehemmt, bald stoßweise vorwärts getrieben, in jedem Falle
aber eine ruhige, gesunde Entwicklung des geistigen Lebens im höchsten Maße
beeinträchtigt. Diese Erscheinung tritt um deutlichsten in der englischen Litte¬
ratur der Gegenwart hervor; Proudhons Ausspruch: „Die Zeitungen siud die
Kirchhöfe der'Gedanken" findet nirgends eine treffendere Bestätigung als in
England. Wie der Journalismus die ganze moderne Kultur mit ihren un¬
zähligen Erscheinungsformen in ein einziges geradliniges Flußbett zwängen
möchte, so kann er für seine litterarischen Zwecke und Bedürfnisse auch nur
eine, die beweglichste Form der Dichtkunst gebrauchen, in der sich alle andern
poetischen Gattungen aufgelöst haben. Nur aus der unumschränkten Herrschaft
des Journalismus ist die Thatsache zu erklären, daß gegenwärtig das ganze
schöngeistige Leben des englischen Volkes in, Roman sein Ausdrncksnnttel ge¬
funden hat. daß diese epische Form gleichsam zum Gotte Kronos geworden >se.
der seine eignen Kinder verschlungen hat. Die alte Sage ist sehr lehrreich,
sie erzählt anch, daß der Gott seine Kinder bald wieder ausspeien mußte. das;
er schließlich selbst von ihnen vom Throne gestoßen und in den Tartarus ge¬
schlendert wurde. Ob Drama und Lyrik diesen Titanenkampf gegen den Roman
S">n Segen der ganzen englischen Litteratur auch einmal unternehmen werden ->
Es scheint. als ob schon jetzt dem englischen Roman die Lebenskräfte aus¬
gingen. Zwar wird für den vmiüvm-vus w,»t,v in livtwn unendlich viel ge¬
schrieben, aber die Lücken, die Dickens, Thackeray und George Eliot bli.w lassen
haben n.,d in gewissem Sinne auch Nnlhony Trollope und der jüngst ver¬
storbne Beherrscher des pill.-rum.» <.'<>.'.>i im Scusativnsromcm, Wllkie Eoll.M'.
sind troi-. der Vielschreiberei einer Miß Braddon und den schrecklichen Mach¬
werken eines 5nql) Conway in England noch nicht ausgefüllt. Wem. ^a,in
seiner Geschichte der englischen Litteratur sagt' Der Sittenrvman gedeiht
sehr üppig i» England, und dafür giebt es viele Gründe, vor allen Dinge»
wurde er dort gehöre», »»d el»e Pflanze blüht i.n.ner um beste» in ihre»,
eignen Lande ' so trifft dieses Lob nicht mehr für die Gegenwart zu. Erg-
o"d hat heutzutage ans diese», Gebiete keine» Schriftsteller, den es z. B.
einem Alphonse Daudet, einem Oktave Feuillee oder Maupassaut gegenüber¬
stellen könnte. Der Sittenrvman leidet a», meiste» »»ter dem unausrottbaren
puritanischen Geiste, »»ter der zur Überlieferung gewordenen Scheu vor der
Darstellung des wirtlichen Lebens mit allen seinen Gebrechen, seiner geistigen
Hohlheit, 'seiner sittliche» Verkommenheit, seinen unzähligen Verirrungen.

Im englische» Roman, sagt Henry Iair.es in seinen r»remet ?ortr»its.
giebt es mehr als i» irgend eine», ander» einen von Alters her überkommenen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0141" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206786"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_355" prev="#ID_354"> England ist das aber thatsächlich der Fall.  Wie könnte es anch anders in<lb/>
unserm herrliche,, nvviMpvr &gt;-&gt;go sei»!  Die oberflächliche Tagesschriststellerei<lb/>
»&gt;'d das alles verschlingende Zeit&#x201E;»gs»»wehe» haben in unserm Jahrhundert<lb/>
einen unberechenbaren Einfluß auf die Litteraturen aller Völker ausgeübt, sie<lb/>
bald gewaltsam gehemmt, bald stoßweise vorwärts getrieben, in jedem Falle<lb/>
aber eine ruhige, gesunde Entwicklung des geistigen Lebens im höchsten Maße<lb/>
beeinträchtigt. Diese Erscheinung tritt um deutlichsten in der englischen Litte¬<lb/>
ratur der Gegenwart hervor; Proudhons Ausspruch: &#x201E;Die Zeitungen siud die<lb/>
Kirchhöfe der'Gedanken" findet nirgends eine treffendere Bestätigung als in<lb/>
England.  Wie der Journalismus die ganze moderne Kultur mit ihren un¬<lb/>
zähligen Erscheinungsformen in ein einziges geradliniges Flußbett zwängen<lb/>
möchte, so kann er für seine litterarischen Zwecke und Bedürfnisse auch nur<lb/>
eine, die beweglichste Form der Dichtkunst gebrauchen, in der sich alle andern<lb/>
poetischen Gattungen aufgelöst haben. Nur aus der unumschränkten Herrschaft<lb/>
des Journalismus ist die Thatsache zu erklären, daß gegenwärtig das ganze<lb/>
schöngeistige Leben des englischen Volkes in, Roman sein Ausdrncksnnttel ge¬<lb/>
funden hat. daß diese epische Form gleichsam zum Gotte Kronos geworden &gt;se.<lb/>
der seine eignen Kinder verschlungen hat.  Die alte Sage ist sehr lehrreich,<lb/>
sie erzählt anch, daß der Gott seine Kinder bald wieder ausspeien mußte. das;<lb/>
er schließlich selbst von ihnen vom Throne gestoßen und in den Tartarus ge¬<lb/>
schlendert wurde. Ob Drama und Lyrik diesen Titanenkampf gegen den Roman<lb/>
S"&gt;n Segen der ganzen englischen Litteratur auch einmal unternehmen werden -&gt;<lb/>
Es scheint. als ob schon jetzt dem englischen Roman die Lebenskräfte aus¬<lb/>
gingen.  Zwar wird für den vmiüvm-vus w,»t,v in livtwn unendlich viel ge¬<lb/>
schrieben, aber die Lücken, die Dickens, Thackeray und George Eliot bli.w lassen<lb/>
haben n.,d in gewissem Sinne auch Nnlhony Trollope und der jüngst ver¬<lb/>
storbne Beherrscher des pill.-rum.» &lt;.'&lt;&gt;.'.&gt;i im Scusativnsromcm, Wllkie Eoll.M'.<lb/>
sind troi-. der Vielschreiberei einer Miß Braddon und den schrecklichen Mach¬<lb/>
werken eines 5nql) Conway in England noch nicht ausgefüllt.  Wem. ^a,in<lb/>
seiner Geschichte der englischen Litteratur sagt' Der Sittenrvman gedeiht<lb/>
sehr üppig i» England, und dafür giebt es viele Gründe, vor allen Dinge»<lb/>
wurde er dort gehöre», »»d el»e Pflanze blüht i.n.ner um beste» in ihre»,<lb/>
eignen Lande  ' so trifft dieses Lob nicht mehr für die Gegenwart zu. Erg-<lb/>
o"d hat heutzutage ans diese», Gebiete keine» Schriftsteller, den es z. B.<lb/>
einem Alphonse Daudet, einem Oktave Feuillee oder Maupassaut gegenüber¬<lb/>
stellen könnte. Der Sittenrvman leidet a», meiste» »»ter dem unausrottbaren<lb/>
puritanischen Geiste, »»ter der zur Überlieferung gewordenen Scheu vor der<lb/>
Darstellung des wirtlichen Lebens mit allen seinen Gebrechen, seiner geistigen<lb/>
Hohlheit, 'seiner sittliche» Verkommenheit, seinen unzähligen Verirrungen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_356" next="#ID_357"> Im englische» Roman, sagt Henry Iair.es in seinen r»remet ?ortr»its.<lb/>
giebt es mehr als i» irgend eine», ander» einen von Alters her überkommenen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0141] England ist das aber thatsächlich der Fall. Wie könnte es anch anders in unserm herrliche,, nvviMpvr >->go sei»! Die oberflächliche Tagesschriststellerei »>'d das alles verschlingende Zeit„»gs»»wehe» haben in unserm Jahrhundert einen unberechenbaren Einfluß auf die Litteraturen aller Völker ausgeübt, sie bald gewaltsam gehemmt, bald stoßweise vorwärts getrieben, in jedem Falle aber eine ruhige, gesunde Entwicklung des geistigen Lebens im höchsten Maße beeinträchtigt. Diese Erscheinung tritt um deutlichsten in der englischen Litte¬ ratur der Gegenwart hervor; Proudhons Ausspruch: „Die Zeitungen siud die Kirchhöfe der'Gedanken" findet nirgends eine treffendere Bestätigung als in England. Wie der Journalismus die ganze moderne Kultur mit ihren un¬ zähligen Erscheinungsformen in ein einziges geradliniges Flußbett zwängen möchte, so kann er für seine litterarischen Zwecke und Bedürfnisse auch nur eine, die beweglichste Form der Dichtkunst gebrauchen, in der sich alle andern poetischen Gattungen aufgelöst haben. Nur aus der unumschränkten Herrschaft des Journalismus ist die Thatsache zu erklären, daß gegenwärtig das ganze schöngeistige Leben des englischen Volkes in, Roman sein Ausdrncksnnttel ge¬ funden hat. daß diese epische Form gleichsam zum Gotte Kronos geworden >se. der seine eignen Kinder verschlungen hat. Die alte Sage ist sehr lehrreich, sie erzählt anch, daß der Gott seine Kinder bald wieder ausspeien mußte. das; er schließlich selbst von ihnen vom Throne gestoßen und in den Tartarus ge¬ schlendert wurde. Ob Drama und Lyrik diesen Titanenkampf gegen den Roman S">n Segen der ganzen englischen Litteratur auch einmal unternehmen werden -> Es scheint. als ob schon jetzt dem englischen Roman die Lebenskräfte aus¬ gingen. Zwar wird für den vmiüvm-vus w,»t,v in livtwn unendlich viel ge¬ schrieben, aber die Lücken, die Dickens, Thackeray und George Eliot bli.w lassen haben n.,d in gewissem Sinne auch Nnlhony Trollope und der jüngst ver¬ storbne Beherrscher des pill.-rum.» <.'<>.'.>i im Scusativnsromcm, Wllkie Eoll.M'. sind troi-. der Vielschreiberei einer Miß Braddon und den schrecklichen Mach¬ werken eines 5nql) Conway in England noch nicht ausgefüllt. Wem. ^a,in seiner Geschichte der englischen Litteratur sagt' Der Sittenrvman gedeiht sehr üppig i» England, und dafür giebt es viele Gründe, vor allen Dinge» wurde er dort gehöre», »»d el»e Pflanze blüht i.n.ner um beste» in ihre», eignen Lande ' so trifft dieses Lob nicht mehr für die Gegenwart zu. Erg- o"d hat heutzutage ans diese», Gebiete keine» Schriftsteller, den es z. B. einem Alphonse Daudet, einem Oktave Feuillee oder Maupassaut gegenüber¬ stellen könnte. Der Sittenrvman leidet a», meiste» »»ter dem unausrottbaren puritanischen Geiste, »»ter der zur Überlieferung gewordenen Scheu vor der Darstellung des wirtlichen Lebens mit allen seinen Gebrechen, seiner geistigen Hohlheit, 'seiner sittliche» Verkommenheit, seinen unzähligen Verirrungen. Im englische» Roman, sagt Henry Iair.es in seinen r»remet ?ortr»its. giebt es mehr als i» irgend eine», ander» einen von Alters her überkommenen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/141
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/141>, abgerufen am 23.07.2024.