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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Studien zur englischen Litteratur der Gegenwart

Materialismus und Theismus kein Drittes kennt. So ein Engländer in seiner
Verwahrlosung und völligen Roheit hinsichtlich aller spekulativen Philosophie
oder Metaphysik ist eben gar keiner geistige" Auffassung der Natur fähig.
Selbst in dem keuntnisreichsteu und aufgeklärtesten Engländer ist das Gruud-
gedankenshsteni ein Gemisch von krassesten Materialismus und plumpster Juden-
superstitivn. Diese puritanische Erbschaft el"er schwerfälligen, engherzigen,
humorlosen Weltanschauung hält den echten Engländer noch heilte gefangen;
noch heute hat Thackerah's Buch der Snobs seine volle Berechtigung. Der
Snobismus, der vor dem Götzen des Geldes, des lauten Erfolges, der äußern
Nangstellung mit frommem Augenaufschlag dasteht, ist auch gegenwärtig das
bezeichnende Merkmal der englischen Gesellschaft; nimmt man noch das soge¬
nannte Muskelchristentum hinzu, das im Boxen und Beten besteht, die heuchlerische
Zimperlichkeit, die aufdringliche Frömmelei, die ihre Bibeln und Gebetbücher
in jede" Salon und jede Bierwirtschaft schleppt, den hohlköpsigen nationalen
Dünkel, der mit gehobenen Augenbraue" und gesenkten Mundwinkel,, auf alle
andern Völker herabsieht, so hat mau ungefähr einen Schattenriß vou dein
vornehmen Durchschnittsmenschen in England. Jules Lemcutre, ein heftiger
Gegner der in Frankreich auftauchenden, besonders von Paul Bourget ge¬
pflegten Auglomauie, hat nicht Unrecht, wenn er von dein englischen Volke
sagt, es sei das habgierigste und selbstsüchtigste der Welt, es sei das Volk, bei
dem die ungleiche Verteilung der irdischen Güter am erschreckendsten hervor¬
trete, dessen gesellschaftliche Zustände am weitesten von dem wahren Geiste des
Evangeliums abweichen, des Evangeliums, das der Engländer so überlaut bekenne.
Es wird niemand bestreiten, daß bei den Engländern der Traum eines vornehmen
und reichen Lebens am vollständigsten verwirklicht ist; es fragt sich nur, ob
uicht das bis ius Fabelhafte gesteigerte Luxusleben, die noch immer wachsende
OVLr-eoilitortkMeneLs auf der einen Seite und das unbeschreibliche Elend auf
der andern, Gefahren in sich bergen, die einer Nation verhängnisvoll werden
tonnen. Verständige Männer scheinen denn auch allmählich zu der Einsicht
zu kommen, daß der auch von einigen deutschen Hvhlköpfen maßlos gepriesene
und zur Nacheiferung empfohlene Sport, diese Verflüchtigung einer ernsten
Kulturarbeit zu geistlosen Spielereien, uicht ein Vorzug, sondern eine thatsäch¬
liche Schädigung, ein schweres Gebrechen des englischen Volkes geworden sei-
Mit Recht hat man die oberflächliche Bildung der meisten Engländer, "den
ausgesprochnen Bankerott an Gedanken," dem wachsenden Sportnnwesen zuge¬
schrieben, das mit seineu geistlosen Äußerungen und geschmacklosen Übertreilmugeu
alle gesunden Interessen im Volke allmählich zu ersticken droht. Wir möchten,
sagt das Athenäum, den Engländer,, ernstlich raten, das Überhandnehmen des
Sportgeistes mit großem Mißtraue,, zu betrachten; er ist ein neues Mittel in
unsern, Erziehungswesen, das sicher eben so viel Schaden wie Nutzen stiftet.
Vielleicht würde es für Frankreich und England das beste sein, von Deutsch-


Studien zur englischen Litteratur der Gegenwart

Materialismus und Theismus kein Drittes kennt. So ein Engländer in seiner
Verwahrlosung und völligen Roheit hinsichtlich aller spekulativen Philosophie
oder Metaphysik ist eben gar keiner geistige» Auffassung der Natur fähig.
Selbst in dem keuntnisreichsteu und aufgeklärtesten Engländer ist das Gruud-
gedankenshsteni ein Gemisch von krassesten Materialismus und plumpster Juden-
superstitivn. Diese puritanische Erbschaft el»er schwerfälligen, engherzigen,
humorlosen Weltanschauung hält den echten Engländer noch heilte gefangen;
noch heute hat Thackerah's Buch der Snobs seine volle Berechtigung. Der
Snobismus, der vor dem Götzen des Geldes, des lauten Erfolges, der äußern
Nangstellung mit frommem Augenaufschlag dasteht, ist auch gegenwärtig das
bezeichnende Merkmal der englischen Gesellschaft; nimmt man noch das soge¬
nannte Muskelchristentum hinzu, das im Boxen und Beten besteht, die heuchlerische
Zimperlichkeit, die aufdringliche Frömmelei, die ihre Bibeln und Gebetbücher
in jede» Salon und jede Bierwirtschaft schleppt, den hohlköpsigen nationalen
Dünkel, der mit gehobenen Augenbraue» und gesenkten Mundwinkel,, auf alle
andern Völker herabsieht, so hat mau ungefähr einen Schattenriß vou dein
vornehmen Durchschnittsmenschen in England. Jules Lemcutre, ein heftiger
Gegner der in Frankreich auftauchenden, besonders von Paul Bourget ge¬
pflegten Auglomauie, hat nicht Unrecht, wenn er von dein englischen Volke
sagt, es sei das habgierigste und selbstsüchtigste der Welt, es sei das Volk, bei
dem die ungleiche Verteilung der irdischen Güter am erschreckendsten hervor¬
trete, dessen gesellschaftliche Zustände am weitesten von dem wahren Geiste des
Evangeliums abweichen, des Evangeliums, das der Engländer so überlaut bekenne.
Es wird niemand bestreiten, daß bei den Engländern der Traum eines vornehmen
und reichen Lebens am vollständigsten verwirklicht ist; es fragt sich nur, ob
uicht das bis ius Fabelhafte gesteigerte Luxusleben, die noch immer wachsende
OVLr-eoilitortkMeneLs auf der einen Seite und das unbeschreibliche Elend auf
der andern, Gefahren in sich bergen, die einer Nation verhängnisvoll werden
tonnen. Verständige Männer scheinen denn auch allmählich zu der Einsicht
zu kommen, daß der auch von einigen deutschen Hvhlköpfen maßlos gepriesene
und zur Nacheiferung empfohlene Sport, diese Verflüchtigung einer ernsten
Kulturarbeit zu geistlosen Spielereien, uicht ein Vorzug, sondern eine thatsäch¬
liche Schädigung, ein schweres Gebrechen des englischen Volkes geworden sei-
Mit Recht hat man die oberflächliche Bildung der meisten Engländer, „den
ausgesprochnen Bankerott an Gedanken," dem wachsenden Sportnnwesen zuge¬
schrieben, das mit seineu geistlosen Äußerungen und geschmacklosen Übertreilmugeu
alle gesunden Interessen im Volke allmählich zu ersticken droht. Wir möchten,
sagt das Athenäum, den Engländer,, ernstlich raten, das Überhandnehmen des
Sportgeistes mit großem Mißtraue,, zu betrachten; er ist ein neues Mittel in
unsern, Erziehungswesen, das sicher eben so viel Schaden wie Nutzen stiftet.
Vielleicht würde es für Frankreich und England das beste sein, von Deutsch-


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[0138] Studien zur englischen Litteratur der Gegenwart Materialismus und Theismus kein Drittes kennt. So ein Engländer in seiner Verwahrlosung und völligen Roheit hinsichtlich aller spekulativen Philosophie oder Metaphysik ist eben gar keiner geistige» Auffassung der Natur fähig. Selbst in dem keuntnisreichsteu und aufgeklärtesten Engländer ist das Gruud- gedankenshsteni ein Gemisch von krassesten Materialismus und plumpster Juden- superstitivn. Diese puritanische Erbschaft el»er schwerfälligen, engherzigen, humorlosen Weltanschauung hält den echten Engländer noch heilte gefangen; noch heute hat Thackerah's Buch der Snobs seine volle Berechtigung. Der Snobismus, der vor dem Götzen des Geldes, des lauten Erfolges, der äußern Nangstellung mit frommem Augenaufschlag dasteht, ist auch gegenwärtig das bezeichnende Merkmal der englischen Gesellschaft; nimmt man noch das soge¬ nannte Muskelchristentum hinzu, das im Boxen und Beten besteht, die heuchlerische Zimperlichkeit, die aufdringliche Frömmelei, die ihre Bibeln und Gebetbücher in jede» Salon und jede Bierwirtschaft schleppt, den hohlköpsigen nationalen Dünkel, der mit gehobenen Augenbraue» und gesenkten Mundwinkel,, auf alle andern Völker herabsieht, so hat mau ungefähr einen Schattenriß vou dein vornehmen Durchschnittsmenschen in England. Jules Lemcutre, ein heftiger Gegner der in Frankreich auftauchenden, besonders von Paul Bourget ge¬ pflegten Auglomauie, hat nicht Unrecht, wenn er von dein englischen Volke sagt, es sei das habgierigste und selbstsüchtigste der Welt, es sei das Volk, bei dem die ungleiche Verteilung der irdischen Güter am erschreckendsten hervor¬ trete, dessen gesellschaftliche Zustände am weitesten von dem wahren Geiste des Evangeliums abweichen, des Evangeliums, das der Engländer so überlaut bekenne. Es wird niemand bestreiten, daß bei den Engländern der Traum eines vornehmen und reichen Lebens am vollständigsten verwirklicht ist; es fragt sich nur, ob uicht das bis ius Fabelhafte gesteigerte Luxusleben, die noch immer wachsende OVLr-eoilitortkMeneLs auf der einen Seite und das unbeschreibliche Elend auf der andern, Gefahren in sich bergen, die einer Nation verhängnisvoll werden tonnen. Verständige Männer scheinen denn auch allmählich zu der Einsicht zu kommen, daß der auch von einigen deutschen Hvhlköpfen maßlos gepriesene und zur Nacheiferung empfohlene Sport, diese Verflüchtigung einer ernsten Kulturarbeit zu geistlosen Spielereien, uicht ein Vorzug, sondern eine thatsäch¬ liche Schädigung, ein schweres Gebrechen des englischen Volkes geworden sei- Mit Recht hat man die oberflächliche Bildung der meisten Engländer, „den ausgesprochnen Bankerott an Gedanken," dem wachsenden Sportnnwesen zuge¬ schrieben, das mit seineu geistlosen Äußerungen und geschmacklosen Übertreilmugeu alle gesunden Interessen im Volke allmählich zu ersticken droht. Wir möchten, sagt das Athenäum, den Engländer,, ernstlich raten, das Überhandnehmen des Sportgeistes mit großem Mißtraue,, zu betrachten; er ist ein neues Mittel in unsern, Erziehungswesen, das sicher eben so viel Schaden wie Nutzen stiftet. Vielleicht würde es für Frankreich und England das beste sein, von Deutsch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/138>, abgerufen am 23.07.2024.