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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Studien zur englischen Litteratur der Gegenwart

Heimatlande ist eine sehr charakteristische Erscheinung der Gegenwart. Die
Unfruchtbarkeit, die sich in England im großen und ganzen auf alleu Ge¬
bieten des schöngeistigen Lebens zeigt, wird zwar von steten.an in seinem vor¬
trefflichen Buche Ins Viowrig-n Uoets (London, Chcitto und Windus, 1887,
13. Ausgabe) nur für eine Ermattung nach einem glorreichen Tage ge¬
halten, aber er fügt als Amerikaner hinzu: England, die Stammmutter für
Nationen, wird seine Jugend an seinen Kindern erneuern und sich nicht sträuben,
von uns frische, markige und urwüchsige Gegenleistungen für Geschenke anzu¬
nehmen, die wir zwei Jahrhunderte hindurch aus seinen Händen empfangen
haben. Unsre Fortschritte werden einen rückwirkenden Einfluß auf das Mutter¬
land ausüben; und dem Lande, von dem wir die Weisheit eines Shakespeare,
die Begeisterung eines Milton und die tiefe Naturauffassung eines Wordswvrth
geerbt haben, werden wir die dichterische Aufgabe und Schöpferkraft wiedergeben,
die einen neuen Kreis von Sängern begeistern soll.

Henry James klagt mit Recht über die Unbeholfenheit, Kurzsichtigkeit und
Parteilichkeit der englischen Kritik, die sich in den Zeitschriften breit mache.
Er sagt in seinem Buche U^real ?orUM8 (London, Maemillan 6c Komp., 1888):
?Qö exquisit"? Me c>t' oritieism. Lluotbörocl in gro8"u"Z88, iuul,- it-8v11 turuell
inro g. "zuizsUou ok Slates. Wo sich ein gesunder, kritischer Geist in England
regt, da sucht er in der Vergangenheit sein Genügen. Nirgends ist der
alexandrinische Zug, ein gelehrtes Buch auf das andre zu pfropfen und im
Interesse für gewesene Zeiten und Personen die Gegenwart mit ihren Kämpfen
und Bestrebungen zu vergessen, stärker als in England. Die grundsätzliche
Abwendung von dem geistigen Lebe" unsrer Tage hat auch das üppige Empor-
wnchern der sogenannten litterarischen Gesellschaften in England verursacht.
Für die Mitglieder eiuer Looist/ giebt es kein andres Interesse, als das für
ihren Gemeiudegötzeu. Es wird in solchen einseitige" Klubs oft ein wunderbarer
Götzendienst getrieben, ja man hat sogar die Anmaßung, jedem Engländer,
der keiner solchen gelehrten Gesellschaft angehört, die Fähigkeit abzusprechen,
die zum Verständnis des jeweilig gefeierten Dichters notwendig ist. Mit
erstaunlicher Emsigkeit pflegen die thätigen Mitglieder bald einen so un¬
durchdringliche" Stachelzcmu von wissenschaftlichen Erklärungen, philologischen
Bemerkungen und litterargeschichtlichen Ergänzungen um den Schriftsteller an¬
zulegen, daß der gewöhnliche Sterbliche, der die Dornenhecke nicht zu durch¬
brechen vermag, vou jedem Genuß ausgeschlossen zu sein scheint.

Nur ein beschränkter Geist könnte die hohe Bedeutung gut geleiteter
ZcxziciUös verkennen. Viele von ihnen haben sich unzweifelhafte Verdienste er¬
worben; sie haben viel dazu beizutragen, daß heutzutage die Beschäftigung
mit den Dichtungen allmählich aus der oberflächlichem ästhetisirenden BeHand¬
lungsweise herausgehoben und auf eine sichere kulturgeschichtliche Grund¬
lage aufgebaut wird; sie haben wertvolle sprach- und kunstgeschichtliche Unter-


Studien zur englischen Litteratur der Gegenwart

Heimatlande ist eine sehr charakteristische Erscheinung der Gegenwart. Die
Unfruchtbarkeit, die sich in England im großen und ganzen auf alleu Ge¬
bieten des schöngeistigen Lebens zeigt, wird zwar von steten.an in seinem vor¬
trefflichen Buche Ins Viowrig-n Uoets (London, Chcitto und Windus, 1887,
13. Ausgabe) nur für eine Ermattung nach einem glorreichen Tage ge¬
halten, aber er fügt als Amerikaner hinzu: England, die Stammmutter für
Nationen, wird seine Jugend an seinen Kindern erneuern und sich nicht sträuben,
von uns frische, markige und urwüchsige Gegenleistungen für Geschenke anzu¬
nehmen, die wir zwei Jahrhunderte hindurch aus seinen Händen empfangen
haben. Unsre Fortschritte werden einen rückwirkenden Einfluß auf das Mutter¬
land ausüben; und dem Lande, von dem wir die Weisheit eines Shakespeare,
die Begeisterung eines Milton und die tiefe Naturauffassung eines Wordswvrth
geerbt haben, werden wir die dichterische Aufgabe und Schöpferkraft wiedergeben,
die einen neuen Kreis von Sängern begeistern soll.

Henry James klagt mit Recht über die Unbeholfenheit, Kurzsichtigkeit und
Parteilichkeit der englischen Kritik, die sich in den Zeitschriften breit mache.
Er sagt in seinem Buche U^real ?orUM8 (London, Maemillan 6c Komp., 1888):
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regt, da sucht er in der Vergangenheit sein Genügen. Nirgends ist der
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Interesse für gewesene Zeiten und Personen die Gegenwart mit ihren Kämpfen
und Bestrebungen zu vergessen, stärker als in England. Die grundsätzliche
Abwendung von dem geistigen Lebe» unsrer Tage hat auch das üppige Empor-
wnchern der sogenannten litterarischen Gesellschaften in England verursacht.
Für die Mitglieder eiuer Looist/ giebt es kein andres Interesse, als das für
ihren Gemeiudegötzeu. Es wird in solchen einseitige» Klubs oft ein wunderbarer
Götzendienst getrieben, ja man hat sogar die Anmaßung, jedem Engländer,
der keiner solchen gelehrten Gesellschaft angehört, die Fähigkeit abzusprechen,
die zum Verständnis des jeweilig gefeierten Dichters notwendig ist. Mit
erstaunlicher Emsigkeit pflegen die thätigen Mitglieder bald einen so un¬
durchdringliche» Stachelzcmu von wissenschaftlichen Erklärungen, philologischen
Bemerkungen und litterargeschichtlichen Ergänzungen um den Schriftsteller an¬
zulegen, daß der gewöhnliche Sterbliche, der die Dornenhecke nicht zu durch¬
brechen vermag, vou jedem Genuß ausgeschlossen zu sein scheint.

Nur ein beschränkter Geist könnte die hohe Bedeutung gut geleiteter
ZcxziciUös verkennen. Viele von ihnen haben sich unzweifelhafte Verdienste er¬
worben; sie haben viel dazu beizutragen, daß heutzutage die Beschäftigung
mit den Dichtungen allmählich aus der oberflächlichem ästhetisirenden BeHand¬
lungsweise herausgehoben und auf eine sichere kulturgeschichtliche Grund¬
lage aufgebaut wird; sie haben wertvolle sprach- und kunstgeschichtliche Unter-


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[0136] Studien zur englischen Litteratur der Gegenwart Heimatlande ist eine sehr charakteristische Erscheinung der Gegenwart. Die Unfruchtbarkeit, die sich in England im großen und ganzen auf alleu Ge¬ bieten des schöngeistigen Lebens zeigt, wird zwar von steten.an in seinem vor¬ trefflichen Buche Ins Viowrig-n Uoets (London, Chcitto und Windus, 1887, 13. Ausgabe) nur für eine Ermattung nach einem glorreichen Tage ge¬ halten, aber er fügt als Amerikaner hinzu: England, die Stammmutter für Nationen, wird seine Jugend an seinen Kindern erneuern und sich nicht sträuben, von uns frische, markige und urwüchsige Gegenleistungen für Geschenke anzu¬ nehmen, die wir zwei Jahrhunderte hindurch aus seinen Händen empfangen haben. Unsre Fortschritte werden einen rückwirkenden Einfluß auf das Mutter¬ land ausüben; und dem Lande, von dem wir die Weisheit eines Shakespeare, die Begeisterung eines Milton und die tiefe Naturauffassung eines Wordswvrth geerbt haben, werden wir die dichterische Aufgabe und Schöpferkraft wiedergeben, die einen neuen Kreis von Sängern begeistern soll. Henry James klagt mit Recht über die Unbeholfenheit, Kurzsichtigkeit und Parteilichkeit der englischen Kritik, die sich in den Zeitschriften breit mache. Er sagt in seinem Buche U^real ?orUM8 (London, Maemillan 6c Komp., 1888): ?Qö exquisit«? Me c>t' oritieism. Lluotbörocl in gro8«u«Z88, iuul,- it-8v11 turuell inro g. «zuizsUou ok Slates. Wo sich ein gesunder, kritischer Geist in England regt, da sucht er in der Vergangenheit sein Genügen. Nirgends ist der alexandrinische Zug, ein gelehrtes Buch auf das andre zu pfropfen und im Interesse für gewesene Zeiten und Personen die Gegenwart mit ihren Kämpfen und Bestrebungen zu vergessen, stärker als in England. Die grundsätzliche Abwendung von dem geistigen Lebe» unsrer Tage hat auch das üppige Empor- wnchern der sogenannten litterarischen Gesellschaften in England verursacht. Für die Mitglieder eiuer Looist/ giebt es kein andres Interesse, als das für ihren Gemeiudegötzeu. Es wird in solchen einseitige» Klubs oft ein wunderbarer Götzendienst getrieben, ja man hat sogar die Anmaßung, jedem Engländer, der keiner solchen gelehrten Gesellschaft angehört, die Fähigkeit abzusprechen, die zum Verständnis des jeweilig gefeierten Dichters notwendig ist. Mit erstaunlicher Emsigkeit pflegen die thätigen Mitglieder bald einen so un¬ durchdringliche» Stachelzcmu von wissenschaftlichen Erklärungen, philologischen Bemerkungen und litterargeschichtlichen Ergänzungen um den Schriftsteller an¬ zulegen, daß der gewöhnliche Sterbliche, der die Dornenhecke nicht zu durch¬ brechen vermag, vou jedem Genuß ausgeschlossen zu sein scheint. Nur ein beschränkter Geist könnte die hohe Bedeutung gut geleiteter ZcxziciUös verkennen. Viele von ihnen haben sich unzweifelhafte Verdienste er¬ worben; sie haben viel dazu beizutragen, daß heutzutage die Beschäftigung mit den Dichtungen allmählich aus der oberflächlichem ästhetisirenden BeHand¬ lungsweise herausgehoben und auf eine sichere kulturgeschichtliche Grund¬ lage aufgebaut wird; sie haben wertvolle sprach- und kunstgeschichtliche Unter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/136>, abgerufen am 23.07.2024.