Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

die gesamte Weltmischammg des gereisten Dichters, so sind die "Flegeljahre"
neben dem "Siebenkäs" derjenige Roman, welcher den nachkommenden Ge¬
schlechtern einen ungetrübten Gennsz gewährt, ihre Bedeutung ist nicht eine
relative, sondern eine absolute, sie schildern nicht eine bestimmte Zeitrichtung,
sondern, naturlich soweit dies möglich ist, Typen, die für alle Zeiten gelten;
selbst der "Siebenkäs" muß hinter den "Flegeljahren" zurückbleiben, denn er
verletzt durch die Lösung des Knotens."

Mit diesem Urteil wird das der wenigen heutigen Leser und Kenner des
Dichters zusammentreffen, und Nur würden es mit Bischer und Nerrlich beklagen,
wenn nicht auch eine Anzahl Gebildeter des nächstfolgenden Menschenalters
so viel Pietät und Selbstentäußerung behielten, sich durch die Dornenstücke der
Jean Paulschen Kompositions-- und Darstellungsweise zu den Blumen- und
Frnchtstückeu hindurchzuarbeiten. Es ist sicher beklagenswert, daß Jean Paul,
den Lektüre, Reflexion und Zeiteiuflüffe fortgesetzt ans dem Idyll ins große
Welttreiben und zur Darstellung dieses Welttreibens riefen, nieder den Eigen¬
sinn seiner heimatlichen Jsolirlust überwinden, noch sich mit dem reinen Idyll
begnügen konnte, sondern fort und fort Anschauungen, Anregungen und pro¬
phetische Anwandlungen in die Jdyllenwelt hineinträgt. Die Streitfrage über
ihn ist nicht, ob er durchaus nur ein Dichter, etwa ein fränkischer, fichtel-
gebirgischer Mörike des achtzehnten Jahrhunderts hätte sein und bleiben müssen.
Nein, wir sagen mit Lessing:


Es freuet mich, mein Herr, daß Ihr ein Dichter seid.
Doch seid Ihr sonst nichts mehr, mein Herr? Dus ist mir leid.

Mag der Dichter Staatsmann, Gelehrter, Soldat, mag er (obschon die Gefahr
nahe liegt, der Herder und Schelling nicht entronnen sind) Philosoph, Geschicht¬
schreiber und Pädagog sein. Aber innerhalb der Dichtung, der schöpferischen
Thätigkeit soll ihm alles, was er sonst ist, nur soweit zu gute gerechnet werden,
als es in seinen poetischen Aufgaben rein mit aufgeht. Auch gegenüber Jean
Paul müssen wir hieran festhalten, und auch nach Nerrlichs verdienstvollen,
dankenswertem und geistvollen Buche wird das Wort, das Jean Paul auf
Diderot, Rousseau und Lessing anwenden wollte, auf ihn selbst anwendbar
sein und bleiben: "Es giebt Menschen, welche -- ausgestattet mit höherm
Sinne als das kräftige Talent, aber mit schwächerer Kraft - in eine heilige
offne Seele den großen Weltgeist aufnehmen und welche doch, wenn sie ihre
Liebe aussprechen wollen, mit gebrochenen, verworrenen Sprachorganen sich
gucileu lind etwas andres sagen, als sie wollen. Philosophisch und poetisch
frei fassen sie die Welt und Schönheit an und nuf; aber wollen sie selber
gestalte", so bindet eine unsichtbare Kette die Hälfte ihrer Glieder, und sie
bilden etwas Andres oder Kleineres, als sie wollen."




die gesamte Weltmischammg des gereisten Dichters, so sind die »Flegeljahre«
neben dem »Siebenkäs« derjenige Roman, welcher den nachkommenden Ge¬
schlechtern einen ungetrübten Gennsz gewährt, ihre Bedeutung ist nicht eine
relative, sondern eine absolute, sie schildern nicht eine bestimmte Zeitrichtung,
sondern, naturlich soweit dies möglich ist, Typen, die für alle Zeiten gelten;
selbst der »Siebenkäs« muß hinter den »Flegeljahren« zurückbleiben, denn er
verletzt durch die Lösung des Knotens."

Mit diesem Urteil wird das der wenigen heutigen Leser und Kenner des
Dichters zusammentreffen, und Nur würden es mit Bischer und Nerrlich beklagen,
wenn nicht auch eine Anzahl Gebildeter des nächstfolgenden Menschenalters
so viel Pietät und Selbstentäußerung behielten, sich durch die Dornenstücke der
Jean Paulschen Kompositions-- und Darstellungsweise zu den Blumen- und
Frnchtstückeu hindurchzuarbeiten. Es ist sicher beklagenswert, daß Jean Paul,
den Lektüre, Reflexion und Zeiteiuflüffe fortgesetzt ans dem Idyll ins große
Welttreiben und zur Darstellung dieses Welttreibens riefen, nieder den Eigen¬
sinn seiner heimatlichen Jsolirlust überwinden, noch sich mit dem reinen Idyll
begnügen konnte, sondern fort und fort Anschauungen, Anregungen und pro¬
phetische Anwandlungen in die Jdyllenwelt hineinträgt. Die Streitfrage über
ihn ist nicht, ob er durchaus nur ein Dichter, etwa ein fränkischer, fichtel-
gebirgischer Mörike des achtzehnten Jahrhunderts hätte sein und bleiben müssen.
Nein, wir sagen mit Lessing:


Es freuet mich, mein Herr, daß Ihr ein Dichter seid.
Doch seid Ihr sonst nichts mehr, mein Herr? Dus ist mir leid.

Mag der Dichter Staatsmann, Gelehrter, Soldat, mag er (obschon die Gefahr
nahe liegt, der Herder und Schelling nicht entronnen sind) Philosoph, Geschicht¬
schreiber und Pädagog sein. Aber innerhalb der Dichtung, der schöpferischen
Thätigkeit soll ihm alles, was er sonst ist, nur soweit zu gute gerechnet werden,
als es in seinen poetischen Aufgaben rein mit aufgeht. Auch gegenüber Jean
Paul müssen wir hieran festhalten, und auch nach Nerrlichs verdienstvollen,
dankenswertem und geistvollen Buche wird das Wort, das Jean Paul auf
Diderot, Rousseau und Lessing anwenden wollte, auf ihn selbst anwendbar
sein und bleiben: „Es giebt Menschen, welche — ausgestattet mit höherm
Sinne als das kräftige Talent, aber mit schwächerer Kraft - in eine heilige
offne Seele den großen Weltgeist aufnehmen und welche doch, wenn sie ihre
Liebe aussprechen wollen, mit gebrochenen, verworrenen Sprachorganen sich
gucileu lind etwas andres sagen, als sie wollen. Philosophisch und poetisch
frei fassen sie die Welt und Schönheit an und nuf; aber wollen sie selber
gestalte«, so bindet eine unsichtbare Kette die Hälfte ihrer Glieder, und sie
bilden etwas Andres oder Kleineres, als sie wollen."




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0101" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206746"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_257" prev="#ID_256"> die gesamte Weltmischammg des gereisten Dichters, so sind die »Flegeljahre«<lb/>
neben dem »Siebenkäs« derjenige Roman, welcher den nachkommenden Ge¬<lb/>
schlechtern einen ungetrübten Gennsz gewährt, ihre Bedeutung ist nicht eine<lb/>
relative, sondern eine absolute, sie schildern nicht eine bestimmte Zeitrichtung,<lb/>
sondern, naturlich soweit dies möglich ist, Typen, die für alle Zeiten gelten;<lb/>
selbst der »Siebenkäs« muß hinter den »Flegeljahren« zurückbleiben, denn er<lb/>
verletzt durch die Lösung des Knotens."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_258"> Mit diesem Urteil wird das der wenigen heutigen Leser und Kenner des<lb/>
Dichters zusammentreffen, und Nur würden es mit Bischer und Nerrlich beklagen,<lb/>
wenn nicht auch eine Anzahl Gebildeter des nächstfolgenden Menschenalters<lb/>
so viel Pietät und Selbstentäußerung behielten, sich durch die Dornenstücke der<lb/>
Jean Paulschen Kompositions-- und Darstellungsweise zu den Blumen- und<lb/>
Frnchtstückeu hindurchzuarbeiten. Es ist sicher beklagenswert, daß Jean Paul,<lb/>
den Lektüre, Reflexion und Zeiteiuflüffe fortgesetzt ans dem Idyll ins große<lb/>
Welttreiben und zur Darstellung dieses Welttreibens riefen, nieder den Eigen¬<lb/>
sinn seiner heimatlichen Jsolirlust überwinden, noch sich mit dem reinen Idyll<lb/>
begnügen konnte, sondern fort und fort Anschauungen, Anregungen und pro¬<lb/>
phetische Anwandlungen in die Jdyllenwelt hineinträgt. Die Streitfrage über<lb/>
ihn ist nicht, ob er durchaus nur ein Dichter, etwa ein fränkischer, fichtel-<lb/>
gebirgischer Mörike des achtzehnten Jahrhunderts hätte sein und bleiben müssen.<lb/>
Nein, wir sagen mit Lessing:</p><lb/>
          <quote>
            <lg xml:id="POEMID_7" type="poem">
              <l> Es freuet mich, mein Herr, daß Ihr ein Dichter seid.<lb/>
Doch seid Ihr sonst nichts mehr, mein Herr?  Dus ist mir leid.</l>
            </lg>
          </quote><lb/>
          <p xml:id="ID_259"> Mag der Dichter Staatsmann, Gelehrter, Soldat, mag er (obschon die Gefahr<lb/>
nahe liegt, der Herder und Schelling nicht entronnen sind) Philosoph, Geschicht¬<lb/>
schreiber und Pädagog sein. Aber innerhalb der Dichtung, der schöpferischen<lb/>
Thätigkeit soll ihm alles, was er sonst ist, nur soweit zu gute gerechnet werden,<lb/>
als es in seinen poetischen Aufgaben rein mit aufgeht. Auch gegenüber Jean<lb/>
Paul müssen wir hieran festhalten, und auch nach Nerrlichs verdienstvollen,<lb/>
dankenswertem und geistvollen Buche wird das Wort, das Jean Paul auf<lb/>
Diderot, Rousseau und Lessing anwenden wollte, auf ihn selbst anwendbar<lb/>
sein und bleiben: &#x201E;Es giebt Menschen, welche &#x2014; ausgestattet mit höherm<lb/>
Sinne als das kräftige Talent, aber mit schwächerer Kraft - in eine heilige<lb/>
offne Seele den großen Weltgeist aufnehmen und welche doch, wenn sie ihre<lb/>
Liebe aussprechen wollen, mit gebrochenen, verworrenen Sprachorganen sich<lb/>
gucileu lind etwas andres sagen, als sie wollen. Philosophisch und poetisch<lb/>
frei fassen sie die Welt und Schönheit an und nuf; aber wollen sie selber<lb/>
gestalte«, so bindet eine unsichtbare Kette die Hälfte ihrer Glieder, und sie<lb/>
bilden etwas Andres oder Kleineres, als sie wollen."</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0101] die gesamte Weltmischammg des gereisten Dichters, so sind die »Flegeljahre« neben dem »Siebenkäs« derjenige Roman, welcher den nachkommenden Ge¬ schlechtern einen ungetrübten Gennsz gewährt, ihre Bedeutung ist nicht eine relative, sondern eine absolute, sie schildern nicht eine bestimmte Zeitrichtung, sondern, naturlich soweit dies möglich ist, Typen, die für alle Zeiten gelten; selbst der »Siebenkäs« muß hinter den »Flegeljahren« zurückbleiben, denn er verletzt durch die Lösung des Knotens." Mit diesem Urteil wird das der wenigen heutigen Leser und Kenner des Dichters zusammentreffen, und Nur würden es mit Bischer und Nerrlich beklagen, wenn nicht auch eine Anzahl Gebildeter des nächstfolgenden Menschenalters so viel Pietät und Selbstentäußerung behielten, sich durch die Dornenstücke der Jean Paulschen Kompositions-- und Darstellungsweise zu den Blumen- und Frnchtstückeu hindurchzuarbeiten. Es ist sicher beklagenswert, daß Jean Paul, den Lektüre, Reflexion und Zeiteiuflüffe fortgesetzt ans dem Idyll ins große Welttreiben und zur Darstellung dieses Welttreibens riefen, nieder den Eigen¬ sinn seiner heimatlichen Jsolirlust überwinden, noch sich mit dem reinen Idyll begnügen konnte, sondern fort und fort Anschauungen, Anregungen und pro¬ phetische Anwandlungen in die Jdyllenwelt hineinträgt. Die Streitfrage über ihn ist nicht, ob er durchaus nur ein Dichter, etwa ein fränkischer, fichtel- gebirgischer Mörike des achtzehnten Jahrhunderts hätte sein und bleiben müssen. Nein, wir sagen mit Lessing: Es freuet mich, mein Herr, daß Ihr ein Dichter seid. Doch seid Ihr sonst nichts mehr, mein Herr? Dus ist mir leid. Mag der Dichter Staatsmann, Gelehrter, Soldat, mag er (obschon die Gefahr nahe liegt, der Herder und Schelling nicht entronnen sind) Philosoph, Geschicht¬ schreiber und Pädagog sein. Aber innerhalb der Dichtung, der schöpferischen Thätigkeit soll ihm alles, was er sonst ist, nur soweit zu gute gerechnet werden, als es in seinen poetischen Aufgaben rein mit aufgeht. Auch gegenüber Jean Paul müssen wir hieran festhalten, und auch nach Nerrlichs verdienstvollen, dankenswertem und geistvollen Buche wird das Wort, das Jean Paul auf Diderot, Rousseau und Lessing anwenden wollte, auf ihn selbst anwendbar sein und bleiben: „Es giebt Menschen, welche — ausgestattet mit höherm Sinne als das kräftige Talent, aber mit schwächerer Kraft - in eine heilige offne Seele den großen Weltgeist aufnehmen und welche doch, wenn sie ihre Liebe aussprechen wollen, mit gebrochenen, verworrenen Sprachorganen sich gucileu lind etwas andres sagen, als sie wollen. Philosophisch und poetisch frei fassen sie die Welt und Schönheit an und nuf; aber wollen sie selber gestalte«, so bindet eine unsichtbare Kette die Hälfte ihrer Glieder, und sie bilden etwas Andres oder Kleineres, als sie wollen."

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/101
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/101>, abgerufen am 23.07.2024.