Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.Jean Paul Religion sei, die Wesen wie Namen des Christentums hinter sich wirft, und In der Hauptsache (deun gegenüber einem Dichter bleibt die Hauptsache Jean Paul Religion sei, die Wesen wie Namen des Christentums hinter sich wirft, und In der Hauptsache (deun gegenüber einem Dichter bleibt die Hauptsache <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0100" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206745"/> <fw type="header" place="top"> Jean Paul</fw><lb/> <p xml:id="ID_255" prev="#ID_254"> Religion sei, die Wesen wie Namen des Christentums hinter sich wirft, und<lb/> in diesem Sinne erblickt er ihn gelegentlich unter Goethe und Schiller, denen<lb/> er ihn sonst meist apologetisch gegenüberstellt. Wenn die Voraussetzung nun<lb/> überhaupt nicht zuträfe, wenn das zwanzigste Jahrhundert, statt der aus<lb/> Hegel und Feuerbach erwachsenen Anschauung zu huldigen, das Leben ohne<lb/> Gott unerträglich fände, wie stünde es dann um gewisse Teile der Nerrlichschen<lb/> Charakteristik Jean Pauls? Doch ist es nicht unsers Amtes, die Weltan¬<lb/> schauung des Biographen zu bekämpfen, oder um abweichender Überzeugungen<lb/> willen das Verdienst seiner Forschung, seiner Versenkung in Jean Pauls Wesen<lb/> und Thätigkeit, seiner höchst anschaulichen Darstellung, seines fein abgewognen<lb/> Urteils über Vorzüge wie Schwächen der Dichtung Jean Pauls zu verkümmern.<lb/> Das Buch Nerrlichs will gelesen sein, und jeder denkende Leser hat sich mit<lb/> den polemischen Äußerungen des Verfassers selbst auseinanderzusetzen.</p><lb/> <p xml:id="ID_256" next="#ID_257"> In der Hauptsache (deun gegenüber einem Dichter bleibt die Hauptsache<lb/> die Darstellung seiner poetischen Entwicklung, die Beurteilung seiner Schöpfungen)<lb/> wird man mit den Ergebnissen der Kritik Nerrlichs durchaus einverstanden<lb/> sein müssen. Als die bleibenden Werke Jean Pauls, weil in ihnen der Humor<lb/> am stärksten und genialsten waltet, weil sich die subjektive Natur und Lebens-<lb/> empfindung des Schriftstellers am reinsten verkörpert, erscheinen auch ihm.<lb/> „Siebenkäs" und die „Flegeljnhre." Beide schließen je eine Lebens- und<lb/> Schafsensperiode Jean Pauls ab, beiden widmet der Biograph daher eine<lb/> eingehende Erörterung. „Vergleichen wir den Roman — sagt er am Schlüsse<lb/> der Besprechung der »Flegeljahre« — mit den bisherigen großen Dichtungen so<lb/> ist zunächst zu bedauern, daß er das Schicksal der »Unsichtbaren Loge« teilt und<lb/> Fragment geblieben ist. Sodann kann nicht geleugnet werden, daß Jean Paul<lb/> die Idee der Testamentsklauseln, wonach Walt zum Realismus erzogen werden<lb/> soll, bei weitem nicht genug ausnützt. Die Konflikte selbst sind meist unter¬<lb/> geordnet und mitunter recht seltsam; an ihre Stelle tritt überdies sehr schnell<lb/> Wales Liebe zu Wina, zuletzt vollends handelt es sich viel weniger um das<lb/> Testament und die Erziehung zum Realismus, als um das Dichten eines<lb/> Romans. Jean Paul hat also im letzten Teile sein ursprüngliches Ziel aus<lb/> den Augen verloren und läßt Walt wieder in den einseitigen zu überwindenden<lb/> Idealismus zurückfallen; es ist dies aber nur die Folge der ganzen Anlage<lb/> des Romans, denn auch von den Flegeljahren gilt, was vom »Siebenkäs«: Jean<lb/> Paul wagt sich nicht in die offne Bahn des Weltlebens hinaus, er bleibt<lb/> auch hier im Idyllischen stecken. Eben hierher gehört endlich, daß er auch hier<lb/> nicht imstande gewesen ist, sich völlig von seiner einseitigen, rein theoretischen<lb/> spiritualistischen Auffassung der Liebe zu befreien. Doch dies alles darf uns<lb/> nicht hindern, die Dichtung den bedeutsamsten, welche wir Jean Paul ver¬<lb/> danken, ein die Seite zu stellen. Hatte der »Hesperus« am meisten die Zeit¬<lb/> genossen ergriffen, vernahmen wir aus dem »Titan« um klarsten und reinsten</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0100]
Jean Paul
Religion sei, die Wesen wie Namen des Christentums hinter sich wirft, und
in diesem Sinne erblickt er ihn gelegentlich unter Goethe und Schiller, denen
er ihn sonst meist apologetisch gegenüberstellt. Wenn die Voraussetzung nun
überhaupt nicht zuträfe, wenn das zwanzigste Jahrhundert, statt der aus
Hegel und Feuerbach erwachsenen Anschauung zu huldigen, das Leben ohne
Gott unerträglich fände, wie stünde es dann um gewisse Teile der Nerrlichschen
Charakteristik Jean Pauls? Doch ist es nicht unsers Amtes, die Weltan¬
schauung des Biographen zu bekämpfen, oder um abweichender Überzeugungen
willen das Verdienst seiner Forschung, seiner Versenkung in Jean Pauls Wesen
und Thätigkeit, seiner höchst anschaulichen Darstellung, seines fein abgewognen
Urteils über Vorzüge wie Schwächen der Dichtung Jean Pauls zu verkümmern.
Das Buch Nerrlichs will gelesen sein, und jeder denkende Leser hat sich mit
den polemischen Äußerungen des Verfassers selbst auseinanderzusetzen.
In der Hauptsache (deun gegenüber einem Dichter bleibt die Hauptsache
die Darstellung seiner poetischen Entwicklung, die Beurteilung seiner Schöpfungen)
wird man mit den Ergebnissen der Kritik Nerrlichs durchaus einverstanden
sein müssen. Als die bleibenden Werke Jean Pauls, weil in ihnen der Humor
am stärksten und genialsten waltet, weil sich die subjektive Natur und Lebens-
empfindung des Schriftstellers am reinsten verkörpert, erscheinen auch ihm.
„Siebenkäs" und die „Flegeljnhre." Beide schließen je eine Lebens- und
Schafsensperiode Jean Pauls ab, beiden widmet der Biograph daher eine
eingehende Erörterung. „Vergleichen wir den Roman — sagt er am Schlüsse
der Besprechung der »Flegeljahre« — mit den bisherigen großen Dichtungen so
ist zunächst zu bedauern, daß er das Schicksal der »Unsichtbaren Loge« teilt und
Fragment geblieben ist. Sodann kann nicht geleugnet werden, daß Jean Paul
die Idee der Testamentsklauseln, wonach Walt zum Realismus erzogen werden
soll, bei weitem nicht genug ausnützt. Die Konflikte selbst sind meist unter¬
geordnet und mitunter recht seltsam; an ihre Stelle tritt überdies sehr schnell
Wales Liebe zu Wina, zuletzt vollends handelt es sich viel weniger um das
Testament und die Erziehung zum Realismus, als um das Dichten eines
Romans. Jean Paul hat also im letzten Teile sein ursprüngliches Ziel aus
den Augen verloren und läßt Walt wieder in den einseitigen zu überwindenden
Idealismus zurückfallen; es ist dies aber nur die Folge der ganzen Anlage
des Romans, denn auch von den Flegeljahren gilt, was vom »Siebenkäs«: Jean
Paul wagt sich nicht in die offne Bahn des Weltlebens hinaus, er bleibt
auch hier im Idyllischen stecken. Eben hierher gehört endlich, daß er auch hier
nicht imstande gewesen ist, sich völlig von seiner einseitigen, rein theoretischen
spiritualistischen Auffassung der Liebe zu befreien. Doch dies alles darf uns
nicht hindern, die Dichtung den bedeutsamsten, welche wir Jean Paul ver¬
danken, ein die Seite zu stellen. Hatte der »Hesperus« am meisten die Zeit¬
genossen ergriffen, vernahmen wir aus dem »Titan« um klarsten und reinsten
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