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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Boris Lonsky

"Boris Lensky" gehört zu der seit langer Zeit fast verschollenen Gattung
von Küustlerromaneu, und zwar ist es die tragische Lebensgeschichte eines
Geigenvirtuosen, die uns hier nicht ganz ohne typische Geltung vorgetragen
wird. Den Charakter dieses Helden hat Ossip Schubin mit großer Kraft,
tiefer psychologischer Wahrheit nud poetisch überzeugender Folgerichtigkeit ent¬
wickelt und dargestellt.

Boris Lensky ist eine ursprüngliche Natur in zwiefacher Beziehung. Einmal
ist er ein genialer Künstler, mit leidenschaftlichen: Temperament, mit stets ge¬
spannten Nerven, unfähig, Herr seiner selbst zu werden, jähzornig, explodirend,
und doch wieder gütig in tiefster Seele, von unendlicher Innigkeit des Gefühls,
von grenzenlosem Bedürfnis zu lieben, zu schenken, andre glücklich zu machen,
von bezaubernder Zärtlichkeit und Liebenswürdigkeit in der Hingebung, schöpferisch
in seiner Kunst, musikalisch bis in die letzte Faser seines Nervensystems, ein
richtiges musikalisches Genie, wie mau ihm uur je in der Wirklichkeit begegnen
kann. Zugleich ist er aber auch ein Russe, und zwar ein ganz ursprünglicher
Russe, aus der Tiefe des Volkes durch einen glücklichen Zufall herausgehoben,
armer Leute Kind, also in der Jugend nicht erzogen, ungeznhmt und nngebändigt
in allen seinen Trieben, als Russe schwach im Charakter, als Russe gutmütig,
nicht aus sittlicher Bildung. Daher Künstler und Barbar in einer Person,
ganz und gar unausgeglichen in seinein sprunghafter Wesen. Er hat den
Zauber seiner Persönlichkeit vielfach unglücklich ausgeübt. Die Menschen, hin¬
gerissen von seiner Teufelsgeige, haben ihm jeden kecken Streich verziehen,
zumal die Weiber, junge und alte, gesunde und hysterische, gebildete und un¬
gebildete, hoch und niedriggebvrne haben ihn verwöhnt und ihm alles gestattet.
Er führt das Nomadenleben der Virtuosen, nud wie Don Juan kann er Register
über die zahllosen Herzen führen, die er gebrochen hat. Mit der freigebigsten
Hand streut er überallhin Gold aus, wo man es nur von ihm wünscht. Ein
Phantasiemensch, erträgt er mich uicht die geringste Vorstellung fremden Leides.
Allem uur Phantasie- und Gefühlsmensch, ist er kein wirklicher Philanthrop,
er kau" uicht im fremden Dienste thätig sein, er, der ja nicht einmal seiner
selbst Herr ist, sondern vou seinem Dämon besessen wird; darum trägt sein
Wohlthun keine Zinsen, es wirbt ihm keine Freunde, denn die kann man mir
mit der Hingebung seiner Persönlichkeit fesseln. Ja ganz im Gegenteil, er
bleibt, trotz aller Offenherzigkeit, trotz der niemals verhehlten Gefühle doch
stets ein wirklich einsamer Mensch, nud uur vereinzelt trifft er in seinem langen
Leben aufrichtige Liebe. Er führt ein Doppelleben. Sein Virtuosentum kann
ihn trotz der Lvrberen und endlosen Goldströme schließlich nicht befriedigen.
Er ist tiefer angelegt, und diese tiefern geistigen Bedürfnisse macheu sich mit
zunehmendem Alter um so stärker geltend. Einstweilen, zur Zeit, dn nur ihn
in Paris ans der Sonnenhöhe seiner Laufbahn kennen lernen, betäubt er sich
allabendlich in wenig snlonmäsngeu Orgien mit dem Troß seiner männlichen


Boris Lonsky

„Boris Lensky" gehört zu der seit langer Zeit fast verschollenen Gattung
von Küustlerromaneu, und zwar ist es die tragische Lebensgeschichte eines
Geigenvirtuosen, die uns hier nicht ganz ohne typische Geltung vorgetragen
wird. Den Charakter dieses Helden hat Ossip Schubin mit großer Kraft,
tiefer psychologischer Wahrheit nud poetisch überzeugender Folgerichtigkeit ent¬
wickelt und dargestellt.

Boris Lensky ist eine ursprüngliche Natur in zwiefacher Beziehung. Einmal
ist er ein genialer Künstler, mit leidenschaftlichen: Temperament, mit stets ge¬
spannten Nerven, unfähig, Herr seiner selbst zu werden, jähzornig, explodirend,
und doch wieder gütig in tiefster Seele, von unendlicher Innigkeit des Gefühls,
von grenzenlosem Bedürfnis zu lieben, zu schenken, andre glücklich zu machen,
von bezaubernder Zärtlichkeit und Liebenswürdigkeit in der Hingebung, schöpferisch
in seiner Kunst, musikalisch bis in die letzte Faser seines Nervensystems, ein
richtiges musikalisches Genie, wie mau ihm uur je in der Wirklichkeit begegnen
kann. Zugleich ist er aber auch ein Russe, und zwar ein ganz ursprünglicher
Russe, aus der Tiefe des Volkes durch einen glücklichen Zufall herausgehoben,
armer Leute Kind, also in der Jugend nicht erzogen, ungeznhmt und nngebändigt
in allen seinen Trieben, als Russe schwach im Charakter, als Russe gutmütig,
nicht aus sittlicher Bildung. Daher Künstler und Barbar in einer Person,
ganz und gar unausgeglichen in seinein sprunghafter Wesen. Er hat den
Zauber seiner Persönlichkeit vielfach unglücklich ausgeübt. Die Menschen, hin¬
gerissen von seiner Teufelsgeige, haben ihm jeden kecken Streich verziehen,
zumal die Weiber, junge und alte, gesunde und hysterische, gebildete und un¬
gebildete, hoch und niedriggebvrne haben ihn verwöhnt und ihm alles gestattet.
Er führt das Nomadenleben der Virtuosen, nud wie Don Juan kann er Register
über die zahllosen Herzen führen, die er gebrochen hat. Mit der freigebigsten
Hand streut er überallhin Gold aus, wo man es nur von ihm wünscht. Ein
Phantasiemensch, erträgt er mich uicht die geringste Vorstellung fremden Leides.
Allem uur Phantasie- und Gefühlsmensch, ist er kein wirklicher Philanthrop,
er kau» uicht im fremden Dienste thätig sein, er, der ja nicht einmal seiner
selbst Herr ist, sondern vou seinem Dämon besessen wird; darum trägt sein
Wohlthun keine Zinsen, es wirbt ihm keine Freunde, denn die kann man mir
mit der Hingebung seiner Persönlichkeit fesseln. Ja ganz im Gegenteil, er
bleibt, trotz aller Offenherzigkeit, trotz der niemals verhehlten Gefühle doch
stets ein wirklich einsamer Mensch, nud uur vereinzelt trifft er in seinem langen
Leben aufrichtige Liebe. Er führt ein Doppelleben. Sein Virtuosentum kann
ihn trotz der Lvrberen und endlosen Goldströme schließlich nicht befriedigen.
Er ist tiefer angelegt, und diese tiefern geistigen Bedürfnisse macheu sich mit
zunehmendem Alter um so stärker geltend. Einstweilen, zur Zeit, dn nur ihn
in Paris ans der Sonnenhöhe seiner Laufbahn kennen lernen, betäubt er sich
allabendlich in wenig snlonmäsngeu Orgien mit dem Troß seiner männlichen


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[0098] Boris Lonsky „Boris Lensky" gehört zu der seit langer Zeit fast verschollenen Gattung von Küustlerromaneu, und zwar ist es die tragische Lebensgeschichte eines Geigenvirtuosen, die uns hier nicht ganz ohne typische Geltung vorgetragen wird. Den Charakter dieses Helden hat Ossip Schubin mit großer Kraft, tiefer psychologischer Wahrheit nud poetisch überzeugender Folgerichtigkeit ent¬ wickelt und dargestellt. Boris Lensky ist eine ursprüngliche Natur in zwiefacher Beziehung. Einmal ist er ein genialer Künstler, mit leidenschaftlichen: Temperament, mit stets ge¬ spannten Nerven, unfähig, Herr seiner selbst zu werden, jähzornig, explodirend, und doch wieder gütig in tiefster Seele, von unendlicher Innigkeit des Gefühls, von grenzenlosem Bedürfnis zu lieben, zu schenken, andre glücklich zu machen, von bezaubernder Zärtlichkeit und Liebenswürdigkeit in der Hingebung, schöpferisch in seiner Kunst, musikalisch bis in die letzte Faser seines Nervensystems, ein richtiges musikalisches Genie, wie mau ihm uur je in der Wirklichkeit begegnen kann. Zugleich ist er aber auch ein Russe, und zwar ein ganz ursprünglicher Russe, aus der Tiefe des Volkes durch einen glücklichen Zufall herausgehoben, armer Leute Kind, also in der Jugend nicht erzogen, ungeznhmt und nngebändigt in allen seinen Trieben, als Russe schwach im Charakter, als Russe gutmütig, nicht aus sittlicher Bildung. Daher Künstler und Barbar in einer Person, ganz und gar unausgeglichen in seinein sprunghafter Wesen. Er hat den Zauber seiner Persönlichkeit vielfach unglücklich ausgeübt. Die Menschen, hin¬ gerissen von seiner Teufelsgeige, haben ihm jeden kecken Streich verziehen, zumal die Weiber, junge und alte, gesunde und hysterische, gebildete und un¬ gebildete, hoch und niedriggebvrne haben ihn verwöhnt und ihm alles gestattet. Er führt das Nomadenleben der Virtuosen, nud wie Don Juan kann er Register über die zahllosen Herzen führen, die er gebrochen hat. Mit der freigebigsten Hand streut er überallhin Gold aus, wo man es nur von ihm wünscht. Ein Phantasiemensch, erträgt er mich uicht die geringste Vorstellung fremden Leides. Allem uur Phantasie- und Gefühlsmensch, ist er kein wirklicher Philanthrop, er kau» uicht im fremden Dienste thätig sein, er, der ja nicht einmal seiner selbst Herr ist, sondern vou seinem Dämon besessen wird; darum trägt sein Wohlthun keine Zinsen, es wirbt ihm keine Freunde, denn die kann man mir mit der Hingebung seiner Persönlichkeit fesseln. Ja ganz im Gegenteil, er bleibt, trotz aller Offenherzigkeit, trotz der niemals verhehlten Gefühle doch stets ein wirklich einsamer Mensch, nud uur vereinzelt trifft er in seinem langen Leben aufrichtige Liebe. Er führt ein Doppelleben. Sein Virtuosentum kann ihn trotz der Lvrberen und endlosen Goldströme schließlich nicht befriedigen. Er ist tiefer angelegt, und diese tiefern geistigen Bedürfnisse macheu sich mit zunehmendem Alter um so stärker geltend. Einstweilen, zur Zeit, dn nur ihn in Paris ans der Sonnenhöhe seiner Laufbahn kennen lernen, betäubt er sich allabendlich in wenig snlonmäsngeu Orgien mit dem Troß seiner männlichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/98>, abgerufen am 22.12.2024.