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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Die Instizorganisation von ^3?9 in ministerieller Beleuchtung

Friiher leitete der Richter den Prozeß. Er hatte zu prüfe", was von
Verhandlungen nötig sei, um die Sache in der mündlichen Schlußvcrhandlnug
zu einem gedeihlichen Ziele zu führen. Jetzt hat das Gericht mit der Prvzeß-
leitung nichts mehr zu thun. Der Vorsitzende des Gerichts bestimmt nur einen
Termin zur mündlichen Verhandlung. In diesem hat das Gericht zur Ver¬
handlung bereit zu sitzen und, wenn sie erfolgt, seinen Ausspruch abzugeben.
Sonst hat es sich um nichts zu kümmern. Alle Vorverhandlungen nehme"
die Anwälte auf eigne Hand vor. Der Gerichtsvollzieher ist ihr Mittelsmann.
Das ist natürlich für die Richter sehr bequem. Aber auch für die Anwälte
ist es sehr augenehm. Sie haben keine richterlichen Dekrctnren mehr zu ge
wärtigen. Der Richter kann ihnen keine Frist mehr setzen. Sie können Schriften
erstatten, so früh und so spät, so viel und so wenig sie wollen. Sie können
muh, wenn sie beide einig sind, den Verhandlungstermin nicht abhalten und
dos Gericht sitzen lassen. Sie sind vollkommen Herren des Prozesses. Für die
Parteien aber hat sich diese Einrichtung als nichts weniger als heilbringend er¬
wiesen. Es sind ihnen dadurch ganz neue Gefahren erwachsen. Alle Fehler, die der
Anwalt bei der Prvzeßleitnng macht, schneiden der Partei ins Fleisch und werden
ihr unter Umständen verderblich. So namentlich bei der wahrhaft verhängnis¬
vollen Zustellnngsfrage. Früher wurde die Frist eines Rechtsmittels dadurch
gewahrt, daß man die Schrift bei Gericht einreichte. Das war einfach und
sicher. Jetzt muß der betreibende Teil zur Wahrung der Frist seinen Schriftsatz
dem Gegner durch den Gerichtsvollzieher "zustellen" lassen; und dieses Zu-
stellungsweseu ist in so verzwickte Formen gebannt, daß alle Tage neue Streit¬
fragen darüber entstehen, und selbst der sorgfältigste Anwalt sich vor Fehlern
nicht hüten kann. Einen solchen Fehler aller büßt die Partei mit Verlust ihres
Prozesses. Wenn man dieses ganze System unbefangen in seiner Wirksamkeit
betrachtet, so könnte man glauben, daß die Schöpfer desselben voller Bosheit
ge'gen alle Rechtsuchenden gewesen und darauf ausgegangen seien, die Richter
zu kalten und gleichgiltigen Mensche" zu erziehen. Jedenfalls bilden die Ge¬
fahren, mit denen die Bestreitung des Rechtsweges heute umgeben ist, einen
wesentlichen Teil des Aöschrecknngsshstems, das man gegen die Nechts-
verfolgung errichtet hat.^)

Auch die dritte Instanz ist im Vergleich mit der frühern des preußischen
Rechtes verkümmert. An das preußische Obertribunal gingen zwei Rechtsmittel.
Das eine, das "Nichtigkeitsbeschlverde" hieß, war auf Rechtsfragen beschränkt,
konnte aber in allen bei den Appellativnsgerichten entschiednen Sachen (Sachen
über 50 Thlr.) erhoben werde". Das andre Rechtsmittel, das "Revision" hieß,
gestattete völlig freie Beurteilung, war aber an Verschiedenheit der Vor-



*) Anträge, die in der Reichsjnstizroiumisswn zur Minderung dieser Gefahren gestellt
wurde", wurden von den RegierungSvertretern muss äußerste bekämpft.
Die Instizorganisation von ^3?9 in ministerieller Beleuchtung

Friiher leitete der Richter den Prozeß. Er hatte zu prüfe», was von
Verhandlungen nötig sei, um die Sache in der mündlichen Schlußvcrhandlnug
zu einem gedeihlichen Ziele zu führen. Jetzt hat das Gericht mit der Prvzeß-
leitung nichts mehr zu thun. Der Vorsitzende des Gerichts bestimmt nur einen
Termin zur mündlichen Verhandlung. In diesem hat das Gericht zur Ver¬
handlung bereit zu sitzen und, wenn sie erfolgt, seinen Ausspruch abzugeben.
Sonst hat es sich um nichts zu kümmern. Alle Vorverhandlungen nehme»
die Anwälte auf eigne Hand vor. Der Gerichtsvollzieher ist ihr Mittelsmann.
Das ist natürlich für die Richter sehr bequem. Aber auch für die Anwälte
ist es sehr augenehm. Sie haben keine richterlichen Dekrctnren mehr zu ge
wärtigen. Der Richter kann ihnen keine Frist mehr setzen. Sie können Schriften
erstatten, so früh und so spät, so viel und so wenig sie wollen. Sie können
muh, wenn sie beide einig sind, den Verhandlungstermin nicht abhalten und
dos Gericht sitzen lassen. Sie sind vollkommen Herren des Prozesses. Für die
Parteien aber hat sich diese Einrichtung als nichts weniger als heilbringend er¬
wiesen. Es sind ihnen dadurch ganz neue Gefahren erwachsen. Alle Fehler, die der
Anwalt bei der Prvzeßleitnng macht, schneiden der Partei ins Fleisch und werden
ihr unter Umständen verderblich. So namentlich bei der wahrhaft verhängnis¬
vollen Zustellnngsfrage. Früher wurde die Frist eines Rechtsmittels dadurch
gewahrt, daß man die Schrift bei Gericht einreichte. Das war einfach und
sicher. Jetzt muß der betreibende Teil zur Wahrung der Frist seinen Schriftsatz
dem Gegner durch den Gerichtsvollzieher „zustellen" lassen; und dieses Zu-
stellungsweseu ist in so verzwickte Formen gebannt, daß alle Tage neue Streit¬
fragen darüber entstehen, und selbst der sorgfältigste Anwalt sich vor Fehlern
nicht hüten kann. Einen solchen Fehler aller büßt die Partei mit Verlust ihres
Prozesses. Wenn man dieses ganze System unbefangen in seiner Wirksamkeit
betrachtet, so könnte man glauben, daß die Schöpfer desselben voller Bosheit
ge'gen alle Rechtsuchenden gewesen und darauf ausgegangen seien, die Richter
zu kalten und gleichgiltigen Mensche» zu erziehen. Jedenfalls bilden die Ge¬
fahren, mit denen die Bestreitung des Rechtsweges heute umgeben ist, einen
wesentlichen Teil des Aöschrecknngsshstems, das man gegen die Nechts-
verfolgung errichtet hat.^)

Auch die dritte Instanz ist im Vergleich mit der frühern des preußischen
Rechtes verkümmert. An das preußische Obertribunal gingen zwei Rechtsmittel.
Das eine, das „Nichtigkeitsbeschlverde" hieß, war auf Rechtsfragen beschränkt,
konnte aber in allen bei den Appellativnsgerichten entschiednen Sachen (Sachen
über 50 Thlr.) erhoben werde». Das andre Rechtsmittel, das „Revision" hieß,
gestattete völlig freie Beurteilung, war aber an Verschiedenheit der Vor-



*) Anträge, die in der Reichsjnstizroiumisswn zur Minderung dieser Gefahren gestellt
wurde», wurden von den RegierungSvertretern muss äußerste bekämpft.
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[0085] Die Instizorganisation von ^3?9 in ministerieller Beleuchtung Friiher leitete der Richter den Prozeß. Er hatte zu prüfe», was von Verhandlungen nötig sei, um die Sache in der mündlichen Schlußvcrhandlnug zu einem gedeihlichen Ziele zu führen. Jetzt hat das Gericht mit der Prvzeß- leitung nichts mehr zu thun. Der Vorsitzende des Gerichts bestimmt nur einen Termin zur mündlichen Verhandlung. In diesem hat das Gericht zur Ver¬ handlung bereit zu sitzen und, wenn sie erfolgt, seinen Ausspruch abzugeben. Sonst hat es sich um nichts zu kümmern. Alle Vorverhandlungen nehme» die Anwälte auf eigne Hand vor. Der Gerichtsvollzieher ist ihr Mittelsmann. Das ist natürlich für die Richter sehr bequem. Aber auch für die Anwälte ist es sehr augenehm. Sie haben keine richterlichen Dekrctnren mehr zu ge wärtigen. Der Richter kann ihnen keine Frist mehr setzen. Sie können Schriften erstatten, so früh und so spät, so viel und so wenig sie wollen. Sie können muh, wenn sie beide einig sind, den Verhandlungstermin nicht abhalten und dos Gericht sitzen lassen. Sie sind vollkommen Herren des Prozesses. Für die Parteien aber hat sich diese Einrichtung als nichts weniger als heilbringend er¬ wiesen. Es sind ihnen dadurch ganz neue Gefahren erwachsen. Alle Fehler, die der Anwalt bei der Prvzeßleitnng macht, schneiden der Partei ins Fleisch und werden ihr unter Umständen verderblich. So namentlich bei der wahrhaft verhängnis¬ vollen Zustellnngsfrage. Früher wurde die Frist eines Rechtsmittels dadurch gewahrt, daß man die Schrift bei Gericht einreichte. Das war einfach und sicher. Jetzt muß der betreibende Teil zur Wahrung der Frist seinen Schriftsatz dem Gegner durch den Gerichtsvollzieher „zustellen" lassen; und dieses Zu- stellungsweseu ist in so verzwickte Formen gebannt, daß alle Tage neue Streit¬ fragen darüber entstehen, und selbst der sorgfältigste Anwalt sich vor Fehlern nicht hüten kann. Einen solchen Fehler aller büßt die Partei mit Verlust ihres Prozesses. Wenn man dieses ganze System unbefangen in seiner Wirksamkeit betrachtet, so könnte man glauben, daß die Schöpfer desselben voller Bosheit ge'gen alle Rechtsuchenden gewesen und darauf ausgegangen seien, die Richter zu kalten und gleichgiltigen Mensche» zu erziehen. Jedenfalls bilden die Ge¬ fahren, mit denen die Bestreitung des Rechtsweges heute umgeben ist, einen wesentlichen Teil des Aöschrecknngsshstems, das man gegen die Nechts- verfolgung errichtet hat.^) Auch die dritte Instanz ist im Vergleich mit der frühern des preußischen Rechtes verkümmert. An das preußische Obertribunal gingen zwei Rechtsmittel. Das eine, das „Nichtigkeitsbeschlverde" hieß, war auf Rechtsfragen beschränkt, konnte aber in allen bei den Appellativnsgerichten entschiednen Sachen (Sachen über 50 Thlr.) erhoben werde». Das andre Rechtsmittel, das „Revision" hieß, gestattete völlig freie Beurteilung, war aber an Verschiedenheit der Vor- *) Anträge, die in der Reichsjnstizroiumisswn zur Minderung dieser Gefahren gestellt wurde», wurden von den RegierungSvertretern muss äußerste bekämpft.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/85>, abgerufen am 22.12.2024.