Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
(Line deutsche Geschichte ans dein neuen Reiche

geschichtlichen Anschauungen eine große Menge von Einzelheiten erforderlich ist,
so stark beschnitten, daß nicht etwa ein gedrängteres, sondern überhaupt gar
kein klares Bild entsteht; das andre Bestreben führt manchmal zu einer Ver¬
äußerung des Echten und Wahren, mit der niemand gedient ist. Beide Be¬
strebungen berücksichtigen im Grunde genommen nur die Bequemlichkeit und
Gedankenlosigkeit des Lesers. Von einem jeden Geschichtswerke sür das gebildete
Volk ist allerdings zu verlangen, daß es knapp und verständlich sei, aber nicht
in dem Sinne, daß es sich zur Einleitung des Mittagsschlnfes eigne. Ein
gutes geschichtliches Volksbuch muß die Gedankenarbeit des Lesers ganz in
Anspruch nehmen, und es schadet gar nichts, wenn er sich am Schlüsse einer
Seite veranlaßt fühlt, sie noch einmal zu lesen; denn nur was sich der Mensch
mit geistiger Anstrengung erarbeitet, wird sein Besitz. Wer an ein Geschichts¬
buch herantritt, um es durchzujagen wie einen Unterhaltuugsrvman, der ist
schlecht vorbereitet, vom Wohl und Wehe seiner Väter zu vernehmen. Ernst¬
hafte geistige Arbeit wird den: Leser aber niemals ein Buch abnötigen, das
selbst ohne ernsthafte geistige, selbstschvpferische Bemühung geschrieben ist. Mag
ein Mosaikbild aus den Werken andrer noch so geschickt zusammengesetzt sein,
es übt auf den denkenden Leser, auch wenn er kein Fachmann ist, doch niemals
den Reiz und Zauber aus wie eine unmittelbare, ursprüugliche Schöpfung.
Deshalb bin ich der Meinung, daß anch eine Geschichte für das Volk nicht
nur künstlerische Darstellung, sondern anch selbsterarbeiteten Inhalt bieten
muß. Der Verfasser muß selbst inmitten des lebendigen Stromes der Forschung
stehen, ihn selbst bereichern und doch auch wieder die Gabe besitzen, die
Leistungen andrer im größten Umfang in sich aufzunehmen, nicht um sie
mechanisch zu verwerten, sondern um sie bei sich herumzutragen, unter einander
auszugleichen, durch innere Erfahrung zu läutern und dann erst wieder in
künstlerischer Form aus sich heraus zu gestalten.

Es giebt gewiß nicht viele Menschen, die das vermögen; und so war
denn eine wirklich gute deutsche Geschichte für das Volk, die den durch Er¬
richtung des neuen Reiches gewonnenen Gesichtspunkten gerecht würde, bis
jetzt eiir unerfüllter Wunsch der Gebildeten geblieben.

Den Versuch, diese Lücke auszufüllen, hat nun neuerdings mit der ganzen
Kraft eines reichbegabten und auf dem Gebiete der Geschichtsschreibung vielfach
bewährten Geistes Otto Kaemmel in seiner Deutschen Geschichte unter¬
nommen. Es muß billigerweise dem Urteile der historischen Fachzeitschriften
überlassen bleiben, festzustellen, inwieweit auch die historische Wissenschaft als
solche durch das Werk bereichert worden ist; wie weit aber dieses Buch den
oben ausgeführten Anforderungen, die an eine deutsche Geschichte für das ge¬
bildete Volk zu stellen sind, entspreche oder nicht entspreche, darüber möge
einem, der sich an Kaemmels Geschichte warm gelesen hat, ein Wort verstattet
sein, das vielleicht den Lesern dieser Zeitschrift nicht unwillkommen ist.


(Line deutsche Geschichte ans dein neuen Reiche

geschichtlichen Anschauungen eine große Menge von Einzelheiten erforderlich ist,
so stark beschnitten, daß nicht etwa ein gedrängteres, sondern überhaupt gar
kein klares Bild entsteht; das andre Bestreben führt manchmal zu einer Ver¬
äußerung des Echten und Wahren, mit der niemand gedient ist. Beide Be¬
strebungen berücksichtigen im Grunde genommen nur die Bequemlichkeit und
Gedankenlosigkeit des Lesers. Von einem jeden Geschichtswerke sür das gebildete
Volk ist allerdings zu verlangen, daß es knapp und verständlich sei, aber nicht
in dem Sinne, daß es sich zur Einleitung des Mittagsschlnfes eigne. Ein
gutes geschichtliches Volksbuch muß die Gedankenarbeit des Lesers ganz in
Anspruch nehmen, und es schadet gar nichts, wenn er sich am Schlüsse einer
Seite veranlaßt fühlt, sie noch einmal zu lesen; denn nur was sich der Mensch
mit geistiger Anstrengung erarbeitet, wird sein Besitz. Wer an ein Geschichts¬
buch herantritt, um es durchzujagen wie einen Unterhaltuugsrvman, der ist
schlecht vorbereitet, vom Wohl und Wehe seiner Väter zu vernehmen. Ernst¬
hafte geistige Arbeit wird den: Leser aber niemals ein Buch abnötigen, das
selbst ohne ernsthafte geistige, selbstschvpferische Bemühung geschrieben ist. Mag
ein Mosaikbild aus den Werken andrer noch so geschickt zusammengesetzt sein,
es übt auf den denkenden Leser, auch wenn er kein Fachmann ist, doch niemals
den Reiz und Zauber aus wie eine unmittelbare, ursprüugliche Schöpfung.
Deshalb bin ich der Meinung, daß anch eine Geschichte für das Volk nicht
nur künstlerische Darstellung, sondern anch selbsterarbeiteten Inhalt bieten
muß. Der Verfasser muß selbst inmitten des lebendigen Stromes der Forschung
stehen, ihn selbst bereichern und doch auch wieder die Gabe besitzen, die
Leistungen andrer im größten Umfang in sich aufzunehmen, nicht um sie
mechanisch zu verwerten, sondern um sie bei sich herumzutragen, unter einander
auszugleichen, durch innere Erfahrung zu läutern und dann erst wieder in
künstlerischer Form aus sich heraus zu gestalten.

Es giebt gewiß nicht viele Menschen, die das vermögen; und so war
denn eine wirklich gute deutsche Geschichte für das Volk, die den durch Er¬
richtung des neuen Reiches gewonnenen Gesichtspunkten gerecht würde, bis
jetzt eiir unerfüllter Wunsch der Gebildeten geblieben.

Den Versuch, diese Lücke auszufüllen, hat nun neuerdings mit der ganzen
Kraft eines reichbegabten und auf dem Gebiete der Geschichtsschreibung vielfach
bewährten Geistes Otto Kaemmel in seiner Deutschen Geschichte unter¬
nommen. Es muß billigerweise dem Urteile der historischen Fachzeitschriften
überlassen bleiben, festzustellen, inwieweit auch die historische Wissenschaft als
solche durch das Werk bereichert worden ist; wie weit aber dieses Buch den
oben ausgeführten Anforderungen, die an eine deutsche Geschichte für das ge¬
bildete Volk zu stellen sind, entspreche oder nicht entspreche, darüber möge
einem, der sich an Kaemmels Geschichte warm gelesen hat, ein Wort verstattet
sein, das vielleicht den Lesern dieser Zeitschrift nicht unwillkommen ist.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0615" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206614"/>
          <fw type="header" place="top"> (Line deutsche Geschichte ans dein neuen Reiche</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2018" prev="#ID_2017"> geschichtlichen Anschauungen eine große Menge von Einzelheiten erforderlich ist,<lb/>
so stark beschnitten, daß nicht etwa ein gedrängteres, sondern überhaupt gar<lb/>
kein klares Bild entsteht; das andre Bestreben führt manchmal zu einer Ver¬<lb/>
äußerung des Echten und Wahren, mit der niemand gedient ist. Beide Be¬<lb/>
strebungen berücksichtigen im Grunde genommen nur die Bequemlichkeit und<lb/>
Gedankenlosigkeit des Lesers. Von einem jeden Geschichtswerke sür das gebildete<lb/>
Volk ist allerdings zu verlangen, daß es knapp und verständlich sei, aber nicht<lb/>
in dem Sinne, daß es sich zur Einleitung des Mittagsschlnfes eigne. Ein<lb/>
gutes geschichtliches Volksbuch muß die Gedankenarbeit des Lesers ganz in<lb/>
Anspruch nehmen, und es schadet gar nichts, wenn er sich am Schlüsse einer<lb/>
Seite veranlaßt fühlt, sie noch einmal zu lesen; denn nur was sich der Mensch<lb/>
mit geistiger Anstrengung erarbeitet, wird sein Besitz. Wer an ein Geschichts¬<lb/>
buch herantritt, um es durchzujagen wie einen Unterhaltuugsrvman, der ist<lb/>
schlecht vorbereitet, vom Wohl und Wehe seiner Väter zu vernehmen. Ernst¬<lb/>
hafte geistige Arbeit wird den: Leser aber niemals ein Buch abnötigen, das<lb/>
selbst ohne ernsthafte geistige, selbstschvpferische Bemühung geschrieben ist. Mag<lb/>
ein Mosaikbild aus den Werken andrer noch so geschickt zusammengesetzt sein,<lb/>
es übt auf den denkenden Leser, auch wenn er kein Fachmann ist, doch niemals<lb/>
den Reiz und Zauber aus wie eine unmittelbare, ursprüugliche Schöpfung.<lb/>
Deshalb bin ich der Meinung, daß anch eine Geschichte für das Volk nicht<lb/>
nur künstlerische Darstellung, sondern anch selbsterarbeiteten Inhalt bieten<lb/>
muß. Der Verfasser muß selbst inmitten des lebendigen Stromes der Forschung<lb/>
stehen, ihn selbst bereichern und doch auch wieder die Gabe besitzen, die<lb/>
Leistungen andrer im größten Umfang in sich aufzunehmen, nicht um sie<lb/>
mechanisch zu verwerten, sondern um sie bei sich herumzutragen, unter einander<lb/>
auszugleichen, durch innere Erfahrung zu läutern und dann erst wieder in<lb/>
künstlerischer Form aus sich heraus zu gestalten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2019"> Es giebt gewiß nicht viele Menschen, die das vermögen; und so war<lb/>
denn eine wirklich gute deutsche Geschichte für das Volk, die den durch Er¬<lb/>
richtung des neuen Reiches gewonnenen Gesichtspunkten gerecht würde, bis<lb/>
jetzt eiir unerfüllter Wunsch der Gebildeten geblieben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2020"> Den Versuch, diese Lücke auszufüllen, hat nun neuerdings mit der ganzen<lb/>
Kraft eines reichbegabten und auf dem Gebiete der Geschichtsschreibung vielfach<lb/>
bewährten Geistes Otto Kaemmel in seiner Deutschen Geschichte unter¬<lb/>
nommen. Es muß billigerweise dem Urteile der historischen Fachzeitschriften<lb/>
überlassen bleiben, festzustellen, inwieweit auch die historische Wissenschaft als<lb/>
solche durch das Werk bereichert worden ist; wie weit aber dieses Buch den<lb/>
oben ausgeführten Anforderungen, die an eine deutsche Geschichte für das ge¬<lb/>
bildete Volk zu stellen sind, entspreche oder nicht entspreche, darüber möge<lb/>
einem, der sich an Kaemmels Geschichte warm gelesen hat, ein Wort verstattet<lb/>
sein, das vielleicht den Lesern dieser Zeitschrift nicht unwillkommen ist.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0615] (Line deutsche Geschichte ans dein neuen Reiche geschichtlichen Anschauungen eine große Menge von Einzelheiten erforderlich ist, so stark beschnitten, daß nicht etwa ein gedrängteres, sondern überhaupt gar kein klares Bild entsteht; das andre Bestreben führt manchmal zu einer Ver¬ äußerung des Echten und Wahren, mit der niemand gedient ist. Beide Be¬ strebungen berücksichtigen im Grunde genommen nur die Bequemlichkeit und Gedankenlosigkeit des Lesers. Von einem jeden Geschichtswerke sür das gebildete Volk ist allerdings zu verlangen, daß es knapp und verständlich sei, aber nicht in dem Sinne, daß es sich zur Einleitung des Mittagsschlnfes eigne. Ein gutes geschichtliches Volksbuch muß die Gedankenarbeit des Lesers ganz in Anspruch nehmen, und es schadet gar nichts, wenn er sich am Schlüsse einer Seite veranlaßt fühlt, sie noch einmal zu lesen; denn nur was sich der Mensch mit geistiger Anstrengung erarbeitet, wird sein Besitz. Wer an ein Geschichts¬ buch herantritt, um es durchzujagen wie einen Unterhaltuugsrvman, der ist schlecht vorbereitet, vom Wohl und Wehe seiner Väter zu vernehmen. Ernst¬ hafte geistige Arbeit wird den: Leser aber niemals ein Buch abnötigen, das selbst ohne ernsthafte geistige, selbstschvpferische Bemühung geschrieben ist. Mag ein Mosaikbild aus den Werken andrer noch so geschickt zusammengesetzt sein, es übt auf den denkenden Leser, auch wenn er kein Fachmann ist, doch niemals den Reiz und Zauber aus wie eine unmittelbare, ursprüugliche Schöpfung. Deshalb bin ich der Meinung, daß anch eine Geschichte für das Volk nicht nur künstlerische Darstellung, sondern anch selbsterarbeiteten Inhalt bieten muß. Der Verfasser muß selbst inmitten des lebendigen Stromes der Forschung stehen, ihn selbst bereichern und doch auch wieder die Gabe besitzen, die Leistungen andrer im größten Umfang in sich aufzunehmen, nicht um sie mechanisch zu verwerten, sondern um sie bei sich herumzutragen, unter einander auszugleichen, durch innere Erfahrung zu läutern und dann erst wieder in künstlerischer Form aus sich heraus zu gestalten. Es giebt gewiß nicht viele Menschen, die das vermögen; und so war denn eine wirklich gute deutsche Geschichte für das Volk, die den durch Er¬ richtung des neuen Reiches gewonnenen Gesichtspunkten gerecht würde, bis jetzt eiir unerfüllter Wunsch der Gebildeten geblieben. Den Versuch, diese Lücke auszufüllen, hat nun neuerdings mit der ganzen Kraft eines reichbegabten und auf dem Gebiete der Geschichtsschreibung vielfach bewährten Geistes Otto Kaemmel in seiner Deutschen Geschichte unter¬ nommen. Es muß billigerweise dem Urteile der historischen Fachzeitschriften überlassen bleiben, festzustellen, inwieweit auch die historische Wissenschaft als solche durch das Werk bereichert worden ist; wie weit aber dieses Buch den oben ausgeführten Anforderungen, die an eine deutsche Geschichte für das ge¬ bildete Volk zu stellen sind, entspreche oder nicht entspreche, darüber möge einem, der sich an Kaemmels Geschichte warm gelesen hat, ein Wort verstattet sein, das vielleicht den Lesern dieser Zeitschrift nicht unwillkommen ist.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/615
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/615>, abgerufen am 22.12.2024.