Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.Eine deutsche Geschichte aus dem neuen Reiche s war fast - selbstverständlich, daß die Aufrichtung des neuen Eine deutsche Geschichte aus dem neuen Reiche s war fast - selbstverständlich, daß die Aufrichtung des neuen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0613" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206612"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341849_205998/figures/grenzboten_341849_205998_206612_000.jpg"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Eine deutsche Geschichte aus dem neuen Reiche</head><lb/> <p xml:id="ID_2015" next="#ID_2016"> s war fast - selbstverständlich, daß die Aufrichtung des neuen<lb/> deutschen Reiches der deutschen Geschichtsschreibung einen mächtigen<lb/> Antrieb gab. Es war ein so bedeutender Abschnitt in der Ent¬<lb/> wicklung unsers Volkes erreicht, und zwar trotz eines durch Ge¬<lb/> schlechter hindurch geführten Traumes von Einheit und Kalther><lb/> kröne doch in letzter Stunde für viele noch überraschend schnell, daß der<lb/> denkende Deutsche unwillkürlich still stehen und Umschau halten mußte, vor¬<lb/> wärts und rückwärts. Vorwärts auf eine schöne verheißungsvolle Zukunft,<lb/> »och unentweiht von Parteigezänk und kleinlicher Mäkelei — die wenn auch<lb/> nicht die blutgcwonnenen Errungenschaften wieder in Frage gestellt, so doch ihre<lb/> wohlthuende Wirkung auf die Volksseele beeinträchtigt haben —, richtete der<lb/> Manu des praktischen Lebens und der Politiker den hoffnungsfreudigen Blick,<lb/> rückwärts vou der endlich gewonnenen freiern Höhe schaute in der stillen<lb/> Studierstube der Geschichtsforscher mit gedankenvollen Auge und suchte sich<lb/> die Lebensrätsel des deutschen Volkes, die nun ihre vorläufige Lösung gefunden<lb/> hatten, zurechtzulegen. Es galt zu begreifen, wie das alles so gekommen war,<lb/> an große Leistungen vergangner Geschlechter zu erinnern, aus den Fehlern<lb/> früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte zu lernen und den Gewinn zu ver¬<lb/> wenden zur Befruchtung der Ideen derer, die am Steuerruder des deutschen<lb/> Volkes standen. Das Studium der deutschen Geschichte an den Hochschulen<lb/> nahm einen ungeahnte« Aufschwung. Historische Gesellschaften und historische<lb/> Seminare blühten ans, die studierende Jugend fesselte namentlich die urkund¬<lb/> liche Erforschung des Mittelalters, und an der Hand großartiger Urkunden¬<lb/> sammlungen, die, wenn auch früher schon geplant und begonnen, doch jetzt in<lb/> größerer Fülle der Verborgenheit der Archive entstiegen, entwickelte sich eine<lb/> fast überreiche Litteratur über einzelne Persönlichkeiten, wirtschaftliche und<lb/> staatsrechtliche Fragen, Kriegsereignisse. Dazu kam die von örtlichen Interessen<lb/> beeinflußte Flut tüchtiger Stadt- und Landschaftsgeschichten. Aber nicht nur<lb/> neuer Stoff kam zu Tage, sondern mich neue Methoden, den Stoff zu be¬<lb/> trachten und zu verwerten. Ein guter Teil der Schulweisheit unsrer Lehrbücher<lb/> und ältern großangelegten Werke über das deutsche Mittelalter zerfloß vor den<lb/> eigenartigen, biologischen Forschungen eines K. W. Nitzsch in blauen Dunst.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0613]
[Abbildung]
Eine deutsche Geschichte aus dem neuen Reiche
s war fast - selbstverständlich, daß die Aufrichtung des neuen
deutschen Reiches der deutschen Geschichtsschreibung einen mächtigen
Antrieb gab. Es war ein so bedeutender Abschnitt in der Ent¬
wicklung unsers Volkes erreicht, und zwar trotz eines durch Ge¬
schlechter hindurch geführten Traumes von Einheit und Kalther>
kröne doch in letzter Stunde für viele noch überraschend schnell, daß der
denkende Deutsche unwillkürlich still stehen und Umschau halten mußte, vor¬
wärts und rückwärts. Vorwärts auf eine schöne verheißungsvolle Zukunft,
»och unentweiht von Parteigezänk und kleinlicher Mäkelei — die wenn auch
nicht die blutgcwonnenen Errungenschaften wieder in Frage gestellt, so doch ihre
wohlthuende Wirkung auf die Volksseele beeinträchtigt haben —, richtete der
Manu des praktischen Lebens und der Politiker den hoffnungsfreudigen Blick,
rückwärts vou der endlich gewonnenen freiern Höhe schaute in der stillen
Studierstube der Geschichtsforscher mit gedankenvollen Auge und suchte sich
die Lebensrätsel des deutschen Volkes, die nun ihre vorläufige Lösung gefunden
hatten, zurechtzulegen. Es galt zu begreifen, wie das alles so gekommen war,
an große Leistungen vergangner Geschlechter zu erinnern, aus den Fehlern
früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte zu lernen und den Gewinn zu ver¬
wenden zur Befruchtung der Ideen derer, die am Steuerruder des deutschen
Volkes standen. Das Studium der deutschen Geschichte an den Hochschulen
nahm einen ungeahnte« Aufschwung. Historische Gesellschaften und historische
Seminare blühten ans, die studierende Jugend fesselte namentlich die urkund¬
liche Erforschung des Mittelalters, und an der Hand großartiger Urkunden¬
sammlungen, die, wenn auch früher schon geplant und begonnen, doch jetzt in
größerer Fülle der Verborgenheit der Archive entstiegen, entwickelte sich eine
fast überreiche Litteratur über einzelne Persönlichkeiten, wirtschaftliche und
staatsrechtliche Fragen, Kriegsereignisse. Dazu kam die von örtlichen Interessen
beeinflußte Flut tüchtiger Stadt- und Landschaftsgeschichten. Aber nicht nur
neuer Stoff kam zu Tage, sondern mich neue Methoden, den Stoff zu be¬
trachten und zu verwerten. Ein guter Teil der Schulweisheit unsrer Lehrbücher
und ältern großangelegten Werke über das deutsche Mittelalter zerfloß vor den
eigenartigen, biologischen Forschungen eines K. W. Nitzsch in blauen Dunst.
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