Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.Buckle und Darwin wird bei uns (in England) die Religion nur noch von oberflächlichen Geistern Nach dem Zweck des Daseins dürfen wir die Darwinianer nicht fragen; Buckle und Darwin wird bei uns (in England) die Religion nur noch von oberflächlichen Geistern Nach dem Zweck des Daseins dürfen wir die Darwinianer nicht fragen; <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0610" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206609"/> <fw type="header" place="top"> Buckle und Darwin</fw><lb/> <p xml:id="ID_2010" prev="#ID_2009"> wird bei uns (in England) die Religion nur noch von oberflächlichen Geistern<lb/> angegriffen. Sollten wir eines Tages finden, daß die Vorrechte und Reich¬<lb/> tümer unsrer Bischöfe dem Gedeihen des Volkes hinderlich seien, so würden<lb/> wir darum noch keine Feindschaft gegen dus Christentum empfinden, da ja der<lb/> Episkopat nur eine zufällige Einrichtung desselben ist. Oder versuchte unser<lb/> Klerus es noch einmal mit einer Willkürherrschaft, so würden wir zwar ihm,<lb/> aber nicht dem Christentum Widerstand leisten. Wir sehen in dem Klerus<lb/> eine Körperschaft, die zwar zur Unduldsamkeit hinneigt und an einer in<lb/> ihrem Stande begründeten Engherzigkeit leidet, die aber einen Teil jener<lb/> großen und edeln Einrichtung bildet, durch die der Menschen Sitten gemildert<lb/> und ihre Leiden gelindert werden. So lange die Einrichtung ihre Aufgabe<lb/> erfüllt, lassen nur sie bestehen, wie sie ist; für den Fall, daß sie einmal den<lb/> veränderten Verhältnissen einer fortschreitenden Gesellschaft nicht mehr ange¬<lb/> messen sein sollte, behalten wir uns das Recht vor und besitzen wir die Macht,<lb/> ihre Mängel zu verbessern, vielleicht sie selbst teilweise abzuschaffen. Aber nie<lb/> können, nie dürfen wir die großen religiösen Wahrheiten antasten, die den<lb/> Menschen trösten, ihn über den augenblicklichen Antrieb seiner Begierden empor¬<lb/> heben und ihm dnrch die Offenbarung seiner persönlichen Unsterblichkeit jene<lb/> erhabenen Bestrebungen einflößen, die das Vorzeichen und die Bürgschaft seines<lb/> zukünftigen Lebens darstellen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2011"> Nach dem Zweck des Daseins dürfen wir die Darwinianer nicht fragen;<lb/> bei ihnen giebt es kein „damit," sondern nur ein „weil"; jedes Wesen besteht,<lb/> nicht damit es irgend etwas leiste oder genieße, sondern nnr weil vor ihm<lb/> ebenso zwecklos vorhandene Wesen es hervorgebracht haben. Sofern Entwick¬<lb/> lung gleichbedeutend mit Fortschritt genommen wird, ist sie eigentlich gar nicht<lb/> vorhanden. Eine nur durch äußere Anstöße erzwungene, an sich aber zwecklose<lb/> Umbildung kann nicht Fortschritt genannt werden. Fortschreiten setzt ein Ziel<lb/> voraus, dem man entgegenschreitet, ein Ideal, das verwirklicht werden soll,<lb/> und das Ziel kann nur von einem bewußten Wesen gesteckt, dus Ideal nur<lb/> von einem Vollkommnen aufgestellt werden, der vor uns da war. Da es, wie<lb/> Darwin sehr richtig sagt, einem Wurme nichts nützen würde, wenn er höher<lb/> orgnnisirt wäre, dn aber die hoch organisirten Wesen von ihrer künstlichem<lb/> Einrichtung auch weiter nichts davon haben, als daß ihnen eben unter er¬<lb/> schwerenden Umständen das Dasein ermöglicht wird, ein Dritter aber, der von<lb/> den höhern und niedern Wesen einen Vorteil zöge oder sie zu einem bestimmten<lb/> Zwecke geordnet hätte, nicht da ist, so ist es nicht ein Fortschritt, sondern eine<lb/> große Dummheit, daß nicht alle Würmer Würmer geblieben sind; wären wir<lb/> allesamt noch Würmer, so hätten wir keine Schererei mit politischen, sozialen<lb/> und wissenschaftlichen Fragen, schlimmstenfalls erlitten wir den Hungertod ohne<lb/> vorhergehende Nahrungssorge, und am allerbesten wäre es allerdings, wenn<lb/> wir in keiner Form, auch nicht als Würmer, am Leben wären.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0610]
Buckle und Darwin
wird bei uns (in England) die Religion nur noch von oberflächlichen Geistern
angegriffen. Sollten wir eines Tages finden, daß die Vorrechte und Reich¬
tümer unsrer Bischöfe dem Gedeihen des Volkes hinderlich seien, so würden
wir darum noch keine Feindschaft gegen dus Christentum empfinden, da ja der
Episkopat nur eine zufällige Einrichtung desselben ist. Oder versuchte unser
Klerus es noch einmal mit einer Willkürherrschaft, so würden wir zwar ihm,
aber nicht dem Christentum Widerstand leisten. Wir sehen in dem Klerus
eine Körperschaft, die zwar zur Unduldsamkeit hinneigt und an einer in
ihrem Stande begründeten Engherzigkeit leidet, die aber einen Teil jener
großen und edeln Einrichtung bildet, durch die der Menschen Sitten gemildert
und ihre Leiden gelindert werden. So lange die Einrichtung ihre Aufgabe
erfüllt, lassen nur sie bestehen, wie sie ist; für den Fall, daß sie einmal den
veränderten Verhältnissen einer fortschreitenden Gesellschaft nicht mehr ange¬
messen sein sollte, behalten wir uns das Recht vor und besitzen wir die Macht,
ihre Mängel zu verbessern, vielleicht sie selbst teilweise abzuschaffen. Aber nie
können, nie dürfen wir die großen religiösen Wahrheiten antasten, die den
Menschen trösten, ihn über den augenblicklichen Antrieb seiner Begierden empor¬
heben und ihm dnrch die Offenbarung seiner persönlichen Unsterblichkeit jene
erhabenen Bestrebungen einflößen, die das Vorzeichen und die Bürgschaft seines
zukünftigen Lebens darstellen.
Nach dem Zweck des Daseins dürfen wir die Darwinianer nicht fragen;
bei ihnen giebt es kein „damit," sondern nur ein „weil"; jedes Wesen besteht,
nicht damit es irgend etwas leiste oder genieße, sondern nnr weil vor ihm
ebenso zwecklos vorhandene Wesen es hervorgebracht haben. Sofern Entwick¬
lung gleichbedeutend mit Fortschritt genommen wird, ist sie eigentlich gar nicht
vorhanden. Eine nur durch äußere Anstöße erzwungene, an sich aber zwecklose
Umbildung kann nicht Fortschritt genannt werden. Fortschreiten setzt ein Ziel
voraus, dem man entgegenschreitet, ein Ideal, das verwirklicht werden soll,
und das Ziel kann nur von einem bewußten Wesen gesteckt, dus Ideal nur
von einem Vollkommnen aufgestellt werden, der vor uns da war. Da es, wie
Darwin sehr richtig sagt, einem Wurme nichts nützen würde, wenn er höher
orgnnisirt wäre, dn aber die hoch organisirten Wesen von ihrer künstlichem
Einrichtung auch weiter nichts davon haben, als daß ihnen eben unter er¬
schwerenden Umständen das Dasein ermöglicht wird, ein Dritter aber, der von
den höhern und niedern Wesen einen Vorteil zöge oder sie zu einem bestimmten
Zwecke geordnet hätte, nicht da ist, so ist es nicht ein Fortschritt, sondern eine
große Dummheit, daß nicht alle Würmer Würmer geblieben sind; wären wir
allesamt noch Würmer, so hätten wir keine Schererei mit politischen, sozialen
und wissenschaftlichen Fragen, schlimmstenfalls erlitten wir den Hungertod ohne
vorhergehende Nahrungssorge, und am allerbesten wäre es allerdings, wenn
wir in keiner Form, auch nicht als Würmer, am Leben wären.
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