Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.Denn in der geistigen Welt herrscht so wenig Gesetzlosigkeit wie in der körper¬ Denn in der geistigen Welt herrscht so wenig Gesetzlosigkeit wie in der körper¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0606" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206605"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_2000" prev="#ID_1999" next="#ID_2001"> Denn in der geistigen Welt herrscht so wenig Gesetzlosigkeit wie in der körper¬<lb/> lichen; hier wie dort ist alles Übereinstimmung und Ordnung, Alle schein¬<lb/> baren Widerspräche sind nur Gegensätze, Selbstwidcrspruch (inooiuzistono^)<lb/> kann in einem Bvlkscharakter nicht vorkommen. Wenn sogar Männer der<lb/> Wissenschaft einem Volke widersprechende Eigenschaften beilegen, so vergessen<lb/> sie, das; dieser falsche Schein nicht den Gegenständen anhaftet, sondern nur<lb/> eine Wirkung ihrer Unwissenheit ist. Diese Unwissenheit zu beseitigen, zu<lb/> zeigen, daß alle Bewegungen im Völkerleben vollkommen gesetzmäßig verlaufen<lb/> und in jedem einzelnen Falle nur die notwendige Wirkung andrer vorher¬<lb/> gegangener Bewegungen sind, das ist eben die Aufgabe des Geschichtsschreibers.<lb/> Löst er sie nicht, so mag er ein Biograph, ein Annalen- oder Chronikenschreiber<lb/> sein, ein Geschichtschreiber ist er nicht. Das erste Gesetz der Geschichte lautet:<lb/> Werden gewisse Begebenheiten vorausgesetzt, so müssen gewisse andre Begeben¬<lb/> heiten mit Notwendigkeit erfolgen. Dieses Gesetz durchgreifend anzuwenden,<lb/> ist unendlich schwierig, aber durch seine Anwendung erhebt sich die Geschichte<lb/> zur Beherrscherin aller Wissenschaften. Freilich muß, wer dieses Ungeheure<lb/> unternimmt, anf manchen Antrieb verzichten, der sonst wohl die Forschung<lb/> mächtig fördert: auf Volksgunst, Gunst der Großen und Ehrenstellen. Nicht<lb/> allein wird man ihn der Unwissenheit beschuldigen, sondern man wird seine<lb/> Beweggründe verdächtigen und ihm nachsagen, daß er den Wert der Sittlich¬<lb/> keit leugne und die Religion untergrabe. Aber läßt er sich dadurch nicht ab¬<lb/> schrecken, so mird er die verborgenen Umstände enthüllen, von denen das<lb/> Schicksal der Nationen abhängt, er wird in der Vergangenheit den Schlüssel<lb/> zur Zukunft entdecken und die Gesetze der geistigen und der Körperwelt zu<lb/> einer einzigen Wissenschaft vereinigen. Wer das vollbringt, der wird einen<lb/> Neubau der Wissenschaft aufführen, in dein alle Widersprüche des ältern Baues<lb/> gelöst erscheinen. Vielleicht sind Nur Heutigen für diesen Bau noch nicht ge¬<lb/> rüstet. Jedenfalls wird der, der ihn unternimmt, wenig Freunde und Helfer<lb/> finden. Er wird den Grund legen, andre werden das Gebäude aufführen;<lb/> diese werden ernten, was er gesäet hat. Und in der That erfordert solch ein<lb/> Werk nicht bloß das Znsammenarbeitc» vieler Forscher, sondern auch die An-<lb/> häufung der Erfahrungen mehrerer Geschlechtsfolgen. „Einst, ich gestehe es,<lb/> mar ich andrer Ansicht. Als ich zum erstenmale das Ganze des menschliche»<lb/> Wissens überblickte n»d, wenn auch noch so »»deutlich, die einzelnen Teile und<lb/> ihre gegenseitigen Beziehungen erkannte, da ward ich von der überwältigenden<lb/> Schönheit des Aiwlicks dermaßen beznubert, daß ich mein eignes Urteil belog<lb/> und mir einredete, ich würde imstande sein, nicht bloß das Ganze zu über¬<lb/> schauen, sondern auch die Einzelheiten zu bewältigen." Aber ach, je mehr der<lb/> Gesichtskreis sich erweitert, desto mehr weicht er zurück, und in desto weiterer<lb/> Ferne zerfließen die anfangs scheinbar so nahen Gestalten! Jetzt wird mir<lb/> klar, einen wie kleinen Teil mir des ursprünglichen Planes ich nusznführe»</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0606]
Denn in der geistigen Welt herrscht so wenig Gesetzlosigkeit wie in der körper¬
lichen; hier wie dort ist alles Übereinstimmung und Ordnung, Alle schein¬
baren Widerspräche sind nur Gegensätze, Selbstwidcrspruch (inooiuzistono^)
kann in einem Bvlkscharakter nicht vorkommen. Wenn sogar Männer der
Wissenschaft einem Volke widersprechende Eigenschaften beilegen, so vergessen
sie, das; dieser falsche Schein nicht den Gegenständen anhaftet, sondern nur
eine Wirkung ihrer Unwissenheit ist. Diese Unwissenheit zu beseitigen, zu
zeigen, daß alle Bewegungen im Völkerleben vollkommen gesetzmäßig verlaufen
und in jedem einzelnen Falle nur die notwendige Wirkung andrer vorher¬
gegangener Bewegungen sind, das ist eben die Aufgabe des Geschichtsschreibers.
Löst er sie nicht, so mag er ein Biograph, ein Annalen- oder Chronikenschreiber
sein, ein Geschichtschreiber ist er nicht. Das erste Gesetz der Geschichte lautet:
Werden gewisse Begebenheiten vorausgesetzt, so müssen gewisse andre Begeben¬
heiten mit Notwendigkeit erfolgen. Dieses Gesetz durchgreifend anzuwenden,
ist unendlich schwierig, aber durch seine Anwendung erhebt sich die Geschichte
zur Beherrscherin aller Wissenschaften. Freilich muß, wer dieses Ungeheure
unternimmt, anf manchen Antrieb verzichten, der sonst wohl die Forschung
mächtig fördert: auf Volksgunst, Gunst der Großen und Ehrenstellen. Nicht
allein wird man ihn der Unwissenheit beschuldigen, sondern man wird seine
Beweggründe verdächtigen und ihm nachsagen, daß er den Wert der Sittlich¬
keit leugne und die Religion untergrabe. Aber läßt er sich dadurch nicht ab¬
schrecken, so mird er die verborgenen Umstände enthüllen, von denen das
Schicksal der Nationen abhängt, er wird in der Vergangenheit den Schlüssel
zur Zukunft entdecken und die Gesetze der geistigen und der Körperwelt zu
einer einzigen Wissenschaft vereinigen. Wer das vollbringt, der wird einen
Neubau der Wissenschaft aufführen, in dein alle Widersprüche des ältern Baues
gelöst erscheinen. Vielleicht sind Nur Heutigen für diesen Bau noch nicht ge¬
rüstet. Jedenfalls wird der, der ihn unternimmt, wenig Freunde und Helfer
finden. Er wird den Grund legen, andre werden das Gebäude aufführen;
diese werden ernten, was er gesäet hat. Und in der That erfordert solch ein
Werk nicht bloß das Znsammenarbeitc» vieler Forscher, sondern auch die An-
häufung der Erfahrungen mehrerer Geschlechtsfolgen. „Einst, ich gestehe es,
mar ich andrer Ansicht. Als ich zum erstenmale das Ganze des menschliche»
Wissens überblickte n»d, wenn auch noch so »»deutlich, die einzelnen Teile und
ihre gegenseitigen Beziehungen erkannte, da ward ich von der überwältigenden
Schönheit des Aiwlicks dermaßen beznubert, daß ich mein eignes Urteil belog
und mir einredete, ich würde imstande sein, nicht bloß das Ganze zu über¬
schauen, sondern auch die Einzelheiten zu bewältigen." Aber ach, je mehr der
Gesichtskreis sich erweitert, desto mehr weicht er zurück, und in desto weiterer
Ferne zerfließen die anfangs scheinbar so nahen Gestalten! Jetzt wird mir
klar, einen wie kleinen Teil mir des ursprünglichen Planes ich nusznführe»
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