Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.>ab Verstehenden sich durch die Gesamtausgabe tvesentlich vergrößern möge. Und Mit einem andern Kenner des Dichters möchten nur angesichts der Sammlung >ab Verstehenden sich durch die Gesamtausgabe tvesentlich vergrößern möge. Und Mit einem andern Kenner des Dichters möchten nur angesichts der Sammlung <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0586" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206585"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_1930" prev="#ID_1929"> >ab Verstehenden sich durch die Gesamtausgabe tvesentlich vergrößern möge. Und<lb/> sicher wird die Vereinigung nud der Vergleich der in einer langen Reihe von Jahren<lb/> entstandenen Dichtungen zum Verständnis der eigentümlichen Phantasie und Gestal¬<lb/> tungskraft Kellers um so mehr beitragen, als es sich in diesen zehn Bänden um<lb/> eine nur mäßige Zahl von größer» Arbeite» handelt. Neues, das heißt Ungedrucktes,<lb/> biete», ein paar schöne Gedichte ausgenommen, die auch in der letzten Gesäme<lb/> aufgäbe der Gedichte noch fehlten, die gesammelten Werke nicht. Es handelt sich<lb/> nur um die Gedichte, die übermütigen und doch so anmutigen sieben Legenden, um<lb/> die beiden Romane „Der grüne Heinrich" und „Martin, Salauder," um die. drei<lb/> Novellensammlungeu „Die Leute von Seldwyla," „Züricher Novellen" und „Das<lb/> Sinngedicht." Aber Neues, das heißt llngekanntcs, noch nicht Erblicktes, noch nicht<lb/> Empfundenes, wird jeder, auch der beste, und mit Kellers Natur und Meisterschaft<lb/> vertrauteste Leser in diesen zehn Bände» genug finden. Denn der Dichter der<lb/> „Leute von Seldwyla" gehört nicht zu den Lyrikern und Erzählern, die beim<lb/> zweiten und dritten Lesen ihrer Schöpfungen bis auf die letzte eigentümliche Wen¬<lb/> dung, bis auf deu verstecktesten feinen Zug erschöpft sind. Vielmehr offenbart er<lb/> bei wiederholtem Genuß immer neue Reize der Erfindung, der schalkhaft halb ver-<lb/> borgenen Schilderung, des immer neuen Reichtums der Beobachtung, des Witzes,<lb/> neue Tiefen des Gefühls, sprachliche Kühnheiten und Feinheiten, hinter denen das<lb/> klare Antlitz des Dichters hervorblickt in all seiner Freude um dem guten Weltlauf,<lb/> in der Lust an der bunten Mannichfaltigkeit des menschlichen Teibeus. Keller wird<lb/> von der jüngsten Kritikerschule el» „Optimist" genannt, zur Zeit seines Beginns<lb/> wollte ma» die allzu herbe. u»d derbe Wahrheit in seinen Dichtungen nicht ertrage».<lb/> Jedenfalls ist es nie der „Optimismus der Niedertracht," der mit dem schlechteste»<lb/> Bestehenden sein Einverständnis erklärt und die Härten oder Untiefen des Lebens<lb/> lstnwegleugnen will, der seiner Darstellung der Welt in Vergangenheit und Gegen¬<lb/> wart zu Grunde liegt, es ist vielmehr die tiefe, echt dichterische Zuversicht, daß die<lb/> Poesie ein Recht, jn eine Pflicht habe, jedes versöhnende lichte Element des Menschen-<lb/> daseins festzuhalten und weithin nachwirken zu lassen. Das heutige Publikum hat<lb/> Grund genug, solchen Dichtern vor den seusniiouslustigen Darstellern, denen keine<lb/> Grausamkeit der Natur und des Schicksals grausam genug ist, den Vorzug zu geben.</p><lb/> <p xml:id="ID_1931" next="#ID_1932"> Mit einem andern Kenner des Dichters möchten nur angesichts der Sammlung<lb/> der Kellerschen Werke wiederholen, daß auch auf kritische. Naturen das Jneinander-<lb/> spiel einer ursprünglichen poetischen Anschauung, die dem Leben mit der gläubigen<lb/> Hoffnung auf immer neue Offenbarungen zugewendet ist, und einer bewußten künst¬<lb/> lerischen Bildung, die die reine und klare Gestaltung dieser Offenbarungen sucht,<lb/> bei unserm Dichter immer erst in zweiter Linie, wirke. „Jn erster zieht der Dichter<lb/> alle, die ihm nahen und die geringste Genußfähigkeit für den Zauber gnuzen Lebens,<lb/> den Reiz echter, nicht brutal aufdringlicher Natürlichkeit haben, in die. Mannich¬<lb/> faltigkeit seiner Erfindung und Stimmung herein, gönnt uns in vollem Maße das<lb/> glückselige Gefühl, daß Schicksale und Abenteuer, Leidenschaften und Stimmungen<lb/> wahr und wahrhaftig erlebt sind, und läßt uns teilnehmen selbst an den flüchtigen<lb/> Seitenblicken, die er ans die bloßen Wunderlichkeiten des Daseins wirft, und den<lb/> leisen Träumen, in denen er Seeleuregungen enthüllt, die keine, feste Gestalt ge¬<lb/> winnen können und doch auch zum Leben gehören. Ehe wir über seine künstlerischen<lb/> Mittel, über die wundersame Abstufung von Licht und Schatten in seinen Gebilden<lb/> nachzudenken beginnen, sind wir schon ganz im Banne dieser Welt. Der Dichter<lb/> des »Grünen Heinrich,« der »Leute von Seldwyla« und des »Martin Salander«<lb/> Ware der letzte, der die Natur unterschätzen, die Natürlichkeit verleugnen möchte.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0586]
>ab Verstehenden sich durch die Gesamtausgabe tvesentlich vergrößern möge. Und
sicher wird die Vereinigung nud der Vergleich der in einer langen Reihe von Jahren
entstandenen Dichtungen zum Verständnis der eigentümlichen Phantasie und Gestal¬
tungskraft Kellers um so mehr beitragen, als es sich in diesen zehn Bänden um
eine nur mäßige Zahl von größer» Arbeite» handelt. Neues, das heißt Ungedrucktes,
biete», ein paar schöne Gedichte ausgenommen, die auch in der letzten Gesäme
aufgäbe der Gedichte noch fehlten, die gesammelten Werke nicht. Es handelt sich
nur um die Gedichte, die übermütigen und doch so anmutigen sieben Legenden, um
die beiden Romane „Der grüne Heinrich" und „Martin, Salauder," um die. drei
Novellensammlungeu „Die Leute von Seldwyla," „Züricher Novellen" und „Das
Sinngedicht." Aber Neues, das heißt llngekanntcs, noch nicht Erblicktes, noch nicht
Empfundenes, wird jeder, auch der beste, und mit Kellers Natur und Meisterschaft
vertrauteste Leser in diesen zehn Bände» genug finden. Denn der Dichter der
„Leute von Seldwyla" gehört nicht zu den Lyrikern und Erzählern, die beim
zweiten und dritten Lesen ihrer Schöpfungen bis auf die letzte eigentümliche Wen¬
dung, bis auf deu verstecktesten feinen Zug erschöpft sind. Vielmehr offenbart er
bei wiederholtem Genuß immer neue Reize der Erfindung, der schalkhaft halb ver-
borgenen Schilderung, des immer neuen Reichtums der Beobachtung, des Witzes,
neue Tiefen des Gefühls, sprachliche Kühnheiten und Feinheiten, hinter denen das
klare Antlitz des Dichters hervorblickt in all seiner Freude um dem guten Weltlauf,
in der Lust an der bunten Mannichfaltigkeit des menschlichen Teibeus. Keller wird
von der jüngsten Kritikerschule el» „Optimist" genannt, zur Zeit seines Beginns
wollte ma» die allzu herbe. u»d derbe Wahrheit in seinen Dichtungen nicht ertrage».
Jedenfalls ist es nie der „Optimismus der Niedertracht," der mit dem schlechteste»
Bestehenden sein Einverständnis erklärt und die Härten oder Untiefen des Lebens
lstnwegleugnen will, der seiner Darstellung der Welt in Vergangenheit und Gegen¬
wart zu Grunde liegt, es ist vielmehr die tiefe, echt dichterische Zuversicht, daß die
Poesie ein Recht, jn eine Pflicht habe, jedes versöhnende lichte Element des Menschen-
daseins festzuhalten und weithin nachwirken zu lassen. Das heutige Publikum hat
Grund genug, solchen Dichtern vor den seusniiouslustigen Darstellern, denen keine
Grausamkeit der Natur und des Schicksals grausam genug ist, den Vorzug zu geben.
Mit einem andern Kenner des Dichters möchten nur angesichts der Sammlung
der Kellerschen Werke wiederholen, daß auch auf kritische. Naturen das Jneinander-
spiel einer ursprünglichen poetischen Anschauung, die dem Leben mit der gläubigen
Hoffnung auf immer neue Offenbarungen zugewendet ist, und einer bewußten künst¬
lerischen Bildung, die die reine und klare Gestaltung dieser Offenbarungen sucht,
bei unserm Dichter immer erst in zweiter Linie, wirke. „Jn erster zieht der Dichter
alle, die ihm nahen und die geringste Genußfähigkeit für den Zauber gnuzen Lebens,
den Reiz echter, nicht brutal aufdringlicher Natürlichkeit haben, in die. Mannich¬
faltigkeit seiner Erfindung und Stimmung herein, gönnt uns in vollem Maße das
glückselige Gefühl, daß Schicksale und Abenteuer, Leidenschaften und Stimmungen
wahr und wahrhaftig erlebt sind, und läßt uns teilnehmen selbst an den flüchtigen
Seitenblicken, die er ans die bloßen Wunderlichkeiten des Daseins wirft, und den
leisen Träumen, in denen er Seeleuregungen enthüllt, die keine, feste Gestalt ge¬
winnen können und doch auch zum Leben gehören. Ehe wir über seine künstlerischen
Mittel, über die wundersame Abstufung von Licht und Schatten in seinen Gebilden
nachzudenken beginnen, sind wir schon ganz im Banne dieser Welt. Der Dichter
des »Grünen Heinrich,« der »Leute von Seldwyla« und des »Martin Salander«
Ware der letzte, der die Natur unterschätzen, die Natürlichkeit verleugnen möchte.
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