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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Buckle und Darwin

die den Lebensverhältmssen am wenigsten angepaßten Individuen nur wenige
Nachkommen' hinterlassen oder schon vor der Begattung zu Grunde gehen,
während die am besten angepaßten am Leben bleiben und so ihre Eigentümlich¬
keiten fortpflanzen. Wenn nun Eigentümlichkeiten vorkommen, die den damit
behafteten Wesen eher hinderlich als förderlich sind, so hatte er doch daraus
mindestens den Schluß ziehen müssen, daß seiue Anpassnngstheorie nicht
allgemein giltig sei. Aber zu diesem Schlüsse war er nicht zu bewegen. Großes
Kopfzerbrechen verursachte ihm u. a. der Stirnschmuck der Hirsche. Das Geweih
hindert den Hirsch außerordentlich auf der Flucht durch den Wald, und für
den Kampf mit Nebenbuhlern sind einfache Hörner weit zweckmüßiger. Die
Geweihe zweier kämpfenden Hirsche verwickeln sich nicht selten in einander, sodaß
beide das Genick brechen. Als in einer Gegend Nordamerikas zufällig
eine Spielart einfach gehörnter Hirsche entstand, verdrängten diese sehr bald
die gewöhnliche Art. Ein glänzender Beweis für die Zuchtwahl und zugleich
gegen ihre Allgemeingiltigleit! Darwin aber will auch nicht ein Jotn von
seiner Theorie preisgeben und nimmt in seiner Verlegenheit seine Zuflucht zu
gewundenen Redensarten, bei denen sich kaum noch etwas denken, läßt (Ab-
swmmuug des Menschen, S. 487 ff.).

Wie konnte durch bloße Anpassung überhaupt eine Entwicklung in Gang
kommen, da nach Darwins eignem Geständnis die niedern Organismen ihren
Lebensverhältnissen ganz gut angepaßt und daher bis auf den heutigen Tag
unverändert bestehen geblieben sind? Er sagt (Das Variiren der Tiere und
Pflanzen im Zustande der Domestikation I, L): "Wir sind beinahe gezwungen, die
Spezialisativn oder Differenzirung von Teilen oder Organen für Verschiedelle
Funktionen als den besten oder selbst einzigen Maßstab des Fortschritts anzusehen;
"ut da die Lebensbedingungen infolge der zunehmenden Anzahl verschiedener For¬
men und infolge davon, daß die meisten dieser Formen eine immer verwickeltere
Struktur erhalten, immer komplizirter werden, so können wir ruhig annehmen,
daß im ganzen die Organisation fortschreite. Dennoch kann eine sehr einfache,
fiir sehr einfache Lebensbedingungen passende Form unendliche Zeiträume hin¬
durch unverändert und unverbessert bestehen bleiben; denn was würden z. B.
ein Infusorium oder ein Eingeweidewurm für einen Vorteil davon haben,
wenn sie hoch organisirt wären?" Sehr richtig! Aber von den übrige"
niedrigen Geschöpfen gilt dasselbe. Woher sollte also der Anstoß zur Ent¬
wicklung kommen, wenn sie alle ganz gut für ihre Umgebung paßten? Newton
fand, die geheimnisvolle Gravitationskraft vorausgesetzt, die Umwälzungen der
Weltkörper ganz begreiflich; nnr damit die ungeheure Maschine in Gang komme,
hielt er doch einen Stoß für notwendig. Sollte es sich hier nicht ähnlich ver¬
halten? Durch verwickeltere Lebensbedingungen. meint Darwin, seien die Or¬
ganismen künstlicher, und durch die künstlichem Organismen seien die Lebens-
l'ediugnugeu verwickelter geworden. Wenn das kein fehlerhafter Zirkel ist, dann


Buckle und Darwin

die den Lebensverhältmssen am wenigsten angepaßten Individuen nur wenige
Nachkommen' hinterlassen oder schon vor der Begattung zu Grunde gehen,
während die am besten angepaßten am Leben bleiben und so ihre Eigentümlich¬
keiten fortpflanzen. Wenn nun Eigentümlichkeiten vorkommen, die den damit
behafteten Wesen eher hinderlich als förderlich sind, so hatte er doch daraus
mindestens den Schluß ziehen müssen, daß seiue Anpassnngstheorie nicht
allgemein giltig sei. Aber zu diesem Schlüsse war er nicht zu bewegen. Großes
Kopfzerbrechen verursachte ihm u. a. der Stirnschmuck der Hirsche. Das Geweih
hindert den Hirsch außerordentlich auf der Flucht durch den Wald, und für
den Kampf mit Nebenbuhlern sind einfache Hörner weit zweckmüßiger. Die
Geweihe zweier kämpfenden Hirsche verwickeln sich nicht selten in einander, sodaß
beide das Genick brechen. Als in einer Gegend Nordamerikas zufällig
eine Spielart einfach gehörnter Hirsche entstand, verdrängten diese sehr bald
die gewöhnliche Art. Ein glänzender Beweis für die Zuchtwahl und zugleich
gegen ihre Allgemeingiltigleit! Darwin aber will auch nicht ein Jotn von
seiner Theorie preisgeben und nimmt in seiner Verlegenheit seine Zuflucht zu
gewundenen Redensarten, bei denen sich kaum noch etwas denken, läßt (Ab-
swmmuug des Menschen, S. 487 ff.).

Wie konnte durch bloße Anpassung überhaupt eine Entwicklung in Gang
kommen, da nach Darwins eignem Geständnis die niedern Organismen ihren
Lebensverhältnissen ganz gut angepaßt und daher bis auf den heutigen Tag
unverändert bestehen geblieben sind? Er sagt (Das Variiren der Tiere und
Pflanzen im Zustande der Domestikation I, L): „Wir sind beinahe gezwungen, die
Spezialisativn oder Differenzirung von Teilen oder Organen für Verschiedelle
Funktionen als den besten oder selbst einzigen Maßstab des Fortschritts anzusehen;
»ut da die Lebensbedingungen infolge der zunehmenden Anzahl verschiedener For¬
men und infolge davon, daß die meisten dieser Formen eine immer verwickeltere
Struktur erhalten, immer komplizirter werden, so können wir ruhig annehmen,
daß im ganzen die Organisation fortschreite. Dennoch kann eine sehr einfache,
fiir sehr einfache Lebensbedingungen passende Form unendliche Zeiträume hin¬
durch unverändert und unverbessert bestehen bleiben; denn was würden z. B.
ein Infusorium oder ein Eingeweidewurm für einen Vorteil davon haben,
wenn sie hoch organisirt wären?" Sehr richtig! Aber von den übrige»
niedrigen Geschöpfen gilt dasselbe. Woher sollte also der Anstoß zur Ent¬
wicklung kommen, wenn sie alle ganz gut für ihre Umgebung paßten? Newton
fand, die geheimnisvolle Gravitationskraft vorausgesetzt, die Umwälzungen der
Weltkörper ganz begreiflich; nnr damit die ungeheure Maschine in Gang komme,
hielt er doch einen Stoß für notwendig. Sollte es sich hier nicht ähnlich ver¬
halten? Durch verwickeltere Lebensbedingungen. meint Darwin, seien die Or¬
ganismen künstlicher, und durch die künstlichem Organismen seien die Lebens-
l'ediugnugeu verwickelter geworden. Wenn das kein fehlerhafter Zirkel ist, dann


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/563>, abgerufen am 22.12.2024.